Hamburg. Start-up Aidhere erhält als eines der bundesweit ersten Unternehmen die Kassenzulassung für ein Handyprogramm.

Der Patient – nennen wir ihn Edgar – wird per Namen begrüßt. „Hi Edgar, dein Tagebuch“, steht oben auf dem Bildschirm des Handys, wenn er die Startseite der App Zanadio aufruft. Dann wird Edgar mit harten Zahlen konfrontiert. Edgar nahm an diesem Tag bisher 1100 Kilokalorien zu sich, verbrannte aber erst 423. Damit überschreitet er seinen Mittelwert um 230 Kilokalorien und liegt über dem Tagesbedarf. Er droht, das Ziel nicht zu erreichen. „Halte deine Kalorienzufuhr unter deinem Mittelwert und nehme automatisch ab“, lautet die Devise unten im Bildschirm.

Edgar leidet unter einem Problem, das er mit Millionen Deutschen teilt. Er ist übergewichtig. Laut Robert-Koch-Institut sind zwei Drittel der Männer und mehr als die Hälfte der Frauen in der Bundesrepublik zu dick. Jeweils knapp ein Viertel gelten als stark übergewichtig (adipös). Sie tragen ein erhöhtes Risiko, beispielsweise an Bluthochdruck, Diabetes oder Krebs zu erkranken.

Zanadio: Eine Abnehm-App auf Rezept

Das Hamburger Unternehmen Aidhere bietet ihnen ab sofort beim Ab­specken Hilfe an. Es hat die App Zanadio entwickelt, die das Abnehmen unterstützen soll – und seit Ende Oktober gibt es sie sogar auf Rezept. „Jeder gesetzlich Krankenversicherte hat ein Anrecht darauf und bekommt sie von seiner Kasse nach Verordnung durch einen Arzt oder Psychotherapeuten bezahlt“, sagt Geschäftsführer Henrik Emmert. Private Kassen sollen im Frühjahr folgen.

Das Start-up mit Sitz an der Röntgenstraße ist in einem neuen Geschäftsfeld aktiv. Ende 2019 ist das Digitale-Versorgungsgesetz in Kraft getreten. Auf dieser Grundlage können digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) von gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ließ bisher fünf Anbieter zu. Sie sollen gegen Tinnitus, Platzangst, Schlafstörungen und Hüftgelenksarthrose helfen – oder wie Zanadio Adipositas therapieren.

Die meisten stark Übergewichtigen in den USA

„Der Adipositas-Markt ist sehr groß“, sagt Nora Mehl per Videoschalte aus Leipzig. Die promovierte Psychologin gehört zum Gründertrio von Aidhere. Seit sechs Jahren setzt sich die 33-Jährige mit dem Thema auseinander. Damals studierte sie in den USA und fragte sich, warum so viele Amerikaner so dick seien.

Laut der Organisation für wirtschaft­liche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) führen die USA die Adipositas-Rangliste mit 40 Prozent an. Es folgen Chile, Mexiko und Neuseeland, wo etwa jeder Dritte stark übergewichtig ist. „Häufig wird Betroffenen gesagt: Reißt euch zusammen, macht mehr Sport. Starkes Übergewicht ist ein individuelles Problem“, sagt Mehl. „Aber weltweit steigen die Zahlen. Es ist kein individuelles Problem.“

Wie das Hamburger Start-up Aidhere entstand

Zurück in Deutschland promovierte sie in Leipzig über das Thema. Danach war es ihr Wunsch, den Transfer ihrer Doktorarbeit in die Praxis zu schaffen – da kam ein Anruf von Emmert im Frühsommer 2019 genau richtig. Der 37 Jahre alte Wirtschaftsingenieur war zuvor für eine Unternehmensberatung tätig.

Bei einem Projekt wurde er mit Adipositas konfrontiert und sah darin Potenzial. Starkes Übergewicht werde eher als Lifestyle-Problem angesehen, sagt Emmert. „Die Leute sehen keine andere Möglichkeit, als zu versuchen, sich selber mit Diäten zu therapieren. Die medizinische Versorgung setzt viel zu spät an.“

Bei einem „guten Burger“ holten sie den promovierten Wirtschaftswissenschaftler Tobias Lorenz mit ins Team. Der 39-Jährige kümmert sich in erster Linie um die Technik des Mitte 2019 gegründeten Start-ups Aidhere.

Die App basiert auf drei Grundpfeilern

In die App müssen die Kunden zunächst Standardangaben wie Geschlecht, Größe, Gewicht, Alter eingeben, damit das Programm den Kalorienbedarf errechnet. Es basiert auf drei Grundpfeilern: Ernährung, Bewegung und Verhaltensänderungen. Im ersten Monat wird der Fokus auf die Ernährung gesetzt. Lorenz klickt auf einen Menüpunkt, in dem der Nutzer seine Mahlzeiten eintragen muss.

Edgar aß zum Frühstück Brot mit Leberwurst – und kann zwischen verschiedenen Varianten wie Vollkorn- oder Graubrot wählen und die Portionsgröße eintragen. Wenn der Kunde einwilligt, erhält er Push-Nachrichten. Dann erhält er Anweisungen, die beispielsweise für Schnellesser lauten, alles vor dem Runterschlucken zehnmal zu kauen oder nur im Sitzen zu essen.

Im zweiten Monat liegt der Schwerpunkt auf Bewegung. Mit der App können Fitnesstracker wie Garmin, Fitbit oder Polar verbunden werden, die die Schritte oder geradelte Kilometer erfassen. Alternativ können die Daten manuell eingegeben werden. Die Anweisungen könnten beispielsweise lauten, die Treppe statt den Aufzug zu nehmen, oder im Stehen oder Gehen zu telefonieren.

Im dritten Monat geht es hauptsächlich um das Verhalten. Der Tipp könnte heißen, zehn Minuten pro Tag zu lächeln oder für mindestens eine Stunde das Handy auszuschalten. „Es ist ein längerer Prozess von sechs bis zwölf Monaten, bis Nutzer die erlernten Verhaltensänderungen auch kontinuierlich im Alltag anwenden“, sagt Lorenz. Wer besonders gut mitmacht, kann virtuelle Trophäen einsammeln – so hat die Abnehm-App auch noch ein spielerisches Element.

App: In Leipzig beginnt neunmonatige Studie

In sechs- bis achtwöchigen Studien mit gut 100 Teilnehmern belegte Aid­here Mitte Juli die Wirksamkeit der App. Ein Patient habe 14 Kilo abnehmen und Medikamente absetzen können, heißt es. Die Erkenntnisse reichten dem BfArM, um Zanadio für zwölf Monate vorläufig in die DiGA-Liste aufzunehmen. „Ein Meilenstein. Aber die Sektkorken haben bisher nicht geknallt, weil wir noch viel Arbeit haben“, so Mehl. In einer neunmonatigen klinischen Studie an der Uni Leipzig wird erneut die Wirkung des Programms mit 140 Probanden getestet.

Obwohl die vorläufige Zulassung erst wenige Wochen alt ist, gebe es von Patienten schon mehr als 400 Anfragen. Bis es in der breiten Ärzteschaft angekommen sei, dass es DiGAs gibt, werde es wohl etwas dauern – aber die ersten Verordnungen seien von den Krankenkassen bereits bewilligt worden. „Wir haben schon die ersten Rezept-Codes erhalten“, so Lorenz.

Patienten mit einem Body-Mass-Index zwischen 30 und 40 erhalten vom Arzt oder Psychotherapeuten das Rezept und reichen es bei der Krankenkasse ein. Der Patient erhält von der Kasse einen Code, mit dem er sich nach Erstellung eines Nutzerkontos auf zanadio.de freischaltet. Dann lädt er sich die App herunter und kann loslegen.

Förderung von 150.000 Euro von Hamburg

Für das knapp 20 Mitarbeiter große Unternehmen bedeutet dies auch die ersten Umsätze. Bisher wurde man von erfolgreichen Geschäftsleuten (größtenteils aus Hamburg) finanziell getragen. Von der Stadt Hamburg habe man eine 150.000 Euro schwere Förderung erhalten. Mehrfach habe man sich zudem von der Gesundheitswirtschaft Hamburg beraten lassen.

„Das war schon sehr, sehr hilfreich“, sagt Emmert über die Gespräche mit den Experten der Clusteragentur für die Gesundheitswirtschaft. Sie wird von der Stadt Hamburg und der Handelskammer getragen und beriet nach gut einem Jahr des Bestehens schon mehr als 50 Gründungsinteressierte.

Lesen Sie auch:

Die Krankenkassen bezahlen pro Patient an Aidhere für drei Monate 499,80 Euro. Nicht gerade günstig. Aber die Folgekosten bei einer Adipositas-Behandlung könnten für die Kassen auch schnell in den sechsstelligen Euro-Bereich gehen, sagt Emmert. Zudem müsse man zum Beispiel beim Datenschutz hohe Standards erfüllen und sich vom TÜV zertifizieren lassen sowie auf Fragen von Kunden innerhalb von 24 Stunden qualifiziert antworten.

Dabei arbeite man mit Ernährungsberatern, Diätassistenten, Physiotherapeuten und Sportmedizinern zusammen. Das alles treibe die Preise. Die Gründer könnten sich sogar eine Entlohnung ausschließlich nach Erfolgskriterien vorstellen, sagt Emmert: „Wir würden uns auch per Kilogramm Gewichtsverlust der Patienten bezahlen lassen – das ist im deutschen Gesundheitssystem aber noch nicht möglich.“