Hamburg/Celle. In Celle startet der Bau von 18 Kleinst-Eigenheimen. Das Abendblatt begleitet eine Käuferin auf ihrem Weg zur Traum-Immobilie.
Corinna Voß atmet einmal tief durch. Und dann gleich noch mal. „Da ist es“, sagt sie und lässt den Blick über die offene Fläche schweifen. In der Hand hat sie einen Lageplan, aber den braucht sie gar nicht. Die 57-Jährige weiß genau, wo sie hinwill. Mit großen Schritten steuert sie in die hintere Ecke des Neubaugebiets am Stadtrand von Celle. Wo ist der Grenzstein? Von dort geht sie auf einer geraden Linie Richtung Waldrand und einmal um das Stück Land herum. Nein, sie geht nicht. Sie schreitet. Wie, um zu begreifen, dass es jetzt wirklich ihres ist.
Es ist nicht irgendein Grundstück. Es ist vielmehr besonders klein, misst gerade mal 272 Quadratmeter. Andere haben Wohnungen, die so groß sind. Oder Garagen. Corinna Voß will darauf ein ganzes Haus bauen, mit Veranda und Garten. Ihren Traum vom Tiny-Haus – und von einem neuen Lebensabschnitt. Darauf hat sie lange gewartet. „Im Kopf ist es schon fertig“, sagt sie und erlaubt sich zum ersten Mal ein kleines Lächeln.
Noch sieht es auf dem gut einen Hektar großen Areal des Bebauungsplans 159 Steinfurt allerdings ziemlich öde aus. Es gibt Grenzmarkierungen, Gullydeckel, einen Stromkasten. Vier Lampenmasten ohne Lampen. Aus dem trockenen Boden sprießt Unkraut. In den nächsten Monaten sollen hier 18 Mini-Eigenheime stehen. Es ist eine der ersten Tiny-House-Siedlungen in Deutschland, in der Dauerwohnen ganz offiziell erlaubt, sogar vorgeschrieben ist. Die Residenzstadt Celle mit viel altem Fachwerk als Pionier für einen der Wohntrends der letzten Zeit. Wie passt das zusammen? „Wir wollen als Stadt wachsen, uns neu und frisch aufstellen“, sagt Oberbürgermeister Jörg Nigge. „Dafür bieten wir unterschiedliche Wohnformen an.“
Tiny-House-Siedlung: Entscheidung für 18 Grundstücke per Los
Nigge, der vor seiner Wahl zum Oberhaupt des niedersächsischen Kreisstädtchens im Hamburger Landesbetrieb Immobilienmanagement und Grundvermögen gearbeitet hat, war es auch, der das Projekt angeschoben hat. „Anfangs gab es viel Skepsis, aber ich habe den Bedarf gesehen“, sagt der 49-Jährige, der vor sechs Jahren mit CDU-Ticket ins Amt kam. Die Nachfrage hat aber auch ihn überwältigt. Schon bevor der Beschluss für die Tiny-House-Siedlung überhaupt im Rat der Stadt gefasst worden war, hatten sich mehr als 300 Interessenten gemeldet. Das war 2019. Es gab auch Proteste von Anwohnern. Wegen der Bäume, die auf dem städtischen Gelände gefällt wurden. Dann dauerte es noch bis Juni des vergangenen Jahres, bis die Bewerbungsfrist startete. Binnen vier Wochen gingen 112 Kaufgebote aus ganz Deutschland für die 18 Minigrundstücke ein, sechs davon aus Hamburg. „Um es gerecht zu machen, haben wir über Vergabe und Reihenfolge des Zugriffs per Losverfahren entschieden“, sagt Oberbürgermeister Nigge.
„Das Glück war auf ihrer Seite“ – Ende Juli 2022 bekam Corinna Voß eine Mail von der Stadtverwaltung, dass sie bei der Verlosung der Grundstücke als Käuferin gezogen worden war. Das Gefühl sei unbeschreiblich gewesen, sagt sie. Mehr als 20 Jahre hat sie mit Ehemann, zwei Kindern und Pferden in Westenholz, einem Ortsteil von Walsrode, gelebt. Das Haus hat gut 150 Quadratmeter, das Grundstück 1500 Quadratmeter. Die Kinder sind aus dem Haus, die Eheleute haben sich getrennt. „Jetzt steht das Haus zum Verkauf“, sagt Voß, die als Krankenschwester auf der Intensivstation einer Hannoveraner Klinik arbeitet und regelmäßig auf Aida-Kreuzfahrtschiffen auf See Kranke betreut. „Ich brauche etwas Neues.“
Das klingt nüchtern, aber das ist es natürlich nicht. Schon nach den ersten Wohnungsbesichtigungen war klar: Auf der Etage und ohne Garten funktioniert es für die Niedersächsin mit der pragmatisch zupackenden Art nicht. Eine Freundin habe ihr von den Plänen für die Tiny-House-Siedlung im Süden von Celle erzählt. „Schon als ich zum ersten Mal hier war, wusste ich: Das kann ich mir vorstellen.“ Corinna Voß ließ sich auf die Interessentenliste setzen und studierte im Internet die ersten Minihaus-Angebote. Als die Bewerbungsfrist im Juni 2022 startete, reagierte sie sofort.
Tiny Houses müssen fünf Jahre selbst bewohnt werden
Dabei hatte die Stadt Celle eine Reihe von Bedingungen für die Grundstücksvergabe aufgestellt. Die Tiny Houses, der Begriff ist nicht geschützt, dürfen nicht größer als 50 Quadratmeter und nicht höher als 4,50 Meter sein – damit ist das Außenmaß gemeint. Allerdings ist der Bau einer Terrasse zugelassen. Und sie müssen baugenehmigungsfähig sein. Heißt: Es gelten die gleichen Standards etwa beim Wärmeschutz wie für ein Haus mit 250 Quadratmetern. Die Bauweise ist nicht beschränkt, vom schlichten Holzbungalow bis zur Mikroversion eines Chalets ist alles erlaubt. Das gilt auch für die typischen Mobilheime auf Rädern. Sie müssen allerdings auf dem Grundstück fest verbaut werden. Eine weitere Vorbedingung: Autos sind in der Siedlung verboten. Es gibt einen Gemeinschaftsstellplatz am Rand.
Festgeschrieben ist auch, dass die Eigentümer ihre Kleinst-Immobilie mindestens für fünf Jahre selbst bewohnen und den Erstwohnsitz anmelden müssen. Das ist praktisch die Umkehrung der Situation für fast alle bisherigen Tiny-House-Eigentümer, die ihre Häuschen zumeist nur auf Campingplätzen oder in Wochenend-Siedlungen aufstellen können und dort eben eigentlich nicht dauerhaft wohnen dürfen. Genau diese Lücke wollte die Stadt Celle schließen. „Es ist klar, dass es nicht für alle passt. Einige der Interessenten haben das nicht gleich verstanden und sind dann abgesprungen“, sagt Oberbürgermeister Jörg Nigge. Aber die meisten Bewerber suchen genau das.
Grundstück für Tiny House kostet knapp 60.000 Euro
Genau wie Corinna Voß. Auch dass der Quadratmeter Bauland in der Minihaus-Siedlung mit 220 Euro zehn Prozent über dem Durchschnittspreis in Celle liegt, kann sie nicht von ihrem Wohntraum abhalten. Im April hat sie den Notarvertrag für ihr Wunschgrundstück unterschrieben. Gesamtsumme: 59.840 Euro. „Dafür bekommt man sonst kein Baugrundstück“, sagt die frischgebackene Eigentümerin. Für sie ist das auch ein wichtiger Grund bei der Entscheidung für ein Tiny-Haus. „Ich kann es mir schlicht nicht leisten, ein normales Haus zu bauen oder zu kaufen.“
Das war schon vor Zinssteigerungen und Energiepreis-Erhöhungen so, aber jetzt gilt es für die Krankenschwester, die über eine Leiharbeitsfirma beschäftigt ist, umso mehr. Bei den Kosten sieht Oberbürgermeister Nigge eine wichtige Zukunftsperspektive für den Wohntrend Tiny House. „Aufgrund der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen steigt das Interesse an Tiny Houses“, glaubt der Chef der Stadt, die nach Jahren mit Einwohnerrückgängen inzwischen wieder die 70.000er-Marke geknackt hat. Die 18 Grundstücke im Baugebiet Steinfurt hätte die Verwaltung mehrfach vergeben können. „Es stehen auch jetzt noch genug Interessenten auf der Warteliste, falls noch jemand abspringt.“
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Nigge kann sich inzwischen auch ein zweites Wohngebiet nur für Tiny Houses vorstellen. In den vergangenen Monaten haben sich diverse andere Kommunen gemeldet, die sich Tipps beim Vorreiter für den Bau von dauerbewohnten Mikrohaus-Siedlungen holen wollen. Namen nennt er nicht. Aber es ist bekannt, dass es solche Überlegungen unter anderem im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg gibt.
Corinna Voß ist schon weiter. „Ich habe mir diverse Hausmodelle angeschaut“, sagt die Bauherrin, die erst mal mit ihrer 23-jährigen Tochter Lynn in ihrem Mini-Eigenheim wohnen will. Sie ist rumgefahren, war in Hannover oder in Minden. „In der Realität ist es ja immer noch was anderes als im Internet.“ In Münster hat sie beim Hersteller Timo-Haus schon ihr Traumhaus gefunden. „Auf 48 Quadratmetern ist alles so, wie ich es mir vorstelle, mit Einbauschränken und Regalen, perfekt ausgestattetem Badezimmer und einem zum zweiten Zimmer erweiterten Haushaltsraum. Sogar eine Wärmepumpe hat das Tiny House. Der Preis liegt bei 97.000 Euro. Die Gesamtkosten schätzt sie mit Grundstück und weiteren Kosten auf knapp 180.000 Euro. „Das ist nicht wenig, aber dafür bekomme ich sonst kein Haus nach meinen Vorstellungen“, sagt Voß.
Umzug ins Tiny House: Alles muss reduziert werden
Mit dem Ausräumen in ihrem jetzigen Familienhaus hat sie schon angefangen. „Ich bin im Moment ständig auf Flohmärkten, verkaufe auch viel auf den Internetplattformen.“ Das sei sehr befreiend, sagt sie. „Ich habe das Gefühl, alles wird leichter.“ Sobald das Familienhaus verkauft ist, will sie ihr neues Haus bestellen und die Anzahlung von 50.000 Euro leisten. Dann dauert es sechs Monate, bis es geliefert wird. „Ich überlege für den Übergang, einen gebrauchten Wohnwagen zu kaufen und damit schon mal auf meinem Grundstück zu wohnen. Irgendwo muss ich ja hin.“