Hamburg. Erinnert an Teleshopping: Der Hamburger Konzern will mit neuem Internet-Trend punkten. Wie Otto aus den roten Zahlen kommen will.

Es ist eine ungewohnte Situation für die Otto-Gruppe, bei der Wachstum im zurückliegenden Jahrzehnt praktisch zur Normalität geworden war: Nachdem der Umsatz des Hamburger Versandhandelskonzerns im Geschäftsjahr 2022/23 (28. Februar) auf vergleichbarer Basis um zwei Prozent gesunken ist, rechnet Vorstandschef Alexander Birken für das aktuelle Jahr mit gerade mal „stabilen“ Erlösen (2022/23: 16,2 Milliarden Euro).

Im Heimatmarkt Deutschland sieht es allerdings noch deutlich ungünstiger aus. Hier rutschten die Umsätze im abgelaufenen Geschäftsjahr um 9,2 Prozent ab – und auch für das neue Jahr kann Birken kaum auf Rückenwind vom Markt hoffen: In den ersten drei Kalendermonaten haben sich die Erlöse im gesamten deutschen Onlinehandel um 15 Prozent verringert.

Otto will mit Live-Shopping-Shows im Internet Kunden anziehen

Also muss Otto neue Wege gehen, will man aus eigener Kraft wieder in die Erfolgsspur einschwenken. Einer dieser Wege scheint paradoxerweise in die Vergangenheit zu führen: Das Unternehmen hat einen Bereich geschaffen, der „Live-Shopping-Events“ für die gesamte Gruppe produziert. Diese Formate erinnern an das seit den 1980er-Jahren bekannte Teleshopping, bei dem ein Moderator bestimmte Produkte bewirbt, nur finden die Shows heute im Internet statt und werden von einem sehr lebhaften Chat der Zuschauerinnen und Zuschauer begleitet. Präsentiert wird zum Beispiel Adidas-Bekleidung, aber auch für E-Bikes oder Liebherr-Kühlschränke gibt es derartige Events.

In Europa sei diese aus Asien stammende Vermarktungsform zunächst belächelt worden, sagt Birken. Doch die Nachfrage nach solchen Shows, von denen bei Otto im vorigen Jahr gruppenweit schon rund 300 stattfanden, steige deutlich. „Wir glauben, dass sich hier etwas etabliert, das sehr viel Potenzial hat“, sagt auch Finanzvorständin Petra Scharner-Wolff.

Mehr Lieferungen in Deutschland sollen schon am nächsten Tag ankommen

Zudem versucht Otto, die Kundenzufriedenheit durch beschleunigte Zustellung zu verbessern. Dazu soll auch ein neues Logistikzentrum im westpolnischen Ilowa dienen, das den Planungen zufolge im Frühjahr 2024 den Betrieb aufnehmen wird. „Derzeit werden in Deutschland weniger als 20 Prozent der Bestellungen am nächsten Tag ausgeliefert“, so Birken. „Diese Quote wollen wir mit dem neuen Logistikstandort deutlich voranbringen.“

Ein dritter Weg in die Zukunft führt auf den ersten Blick weg vom traditionellen Handelsgeschäft. „Vor zwei Jahren haben wir darüber nachgedacht, wo zusätzliche Wachstumsfelder liegen könnten – und digitale Gesundheitsdienstleistungen gehören bestimmt dazu“, erklärt der Otto-Chef. Seitdem hat der Konzern die Mehrheit an dem Baseler Unternehmen Medgate, das nach eigenen Angaben das größte telemedizinische Zentrum Europas betreibt, erworben. In Deutschland sind Online-Arztpraxen allerdings bisher noch erheblichen rechtlichen Einschränkungen unterworfen.

Vor allem teure Anschaffungen wie Möbel und Elektrogroßgeräte bleiben aus

Aber auch BetterDoc, eine Online-Plattform für die Einholung fachärztlicher Zweitmeinungen, gehört seit März 2022 zu Otto. „Wir haben umfangreiche Erfahrungen in der Digitalisierung von Geschäftsfeldern“, sagt Birken zu den Telemedizin-Investments, „außerdem bringen uns Kundinnen und Kunden großes Vertrauen entgegen.“ Damit sehe man gute Voraussetzungen dafür, die breite Kundenbasis auch für das neue Zukunftsgeschäft interessieren zu können.

Denn auch wenn man mit dem Geschäftsjahr 2022/23 „nicht zufrieden“ sein könne, habe sich die Zahl der aktiven Kunden auf nun 54 Millionen weiter erhöht. Spürbar zurückgegangen ist angesichts der schlechten Konsumstimmung und der hohen Inflationsrate hingegen der durchschnittliche Einkaufswert. Dies wirkte sich besonders bei teureren Gütern wie Möbeln und Elektrogroßgeräten aus – und damit gerade in Segmenten, in denen Otto im deutschen Onlinehandel eine führende Position hat.

Auch in diesem Geschäftsjahr kann noch einmal ein Verlust herauskommen

Weil man zudem in der Erwartung kräftigen Umsatzwachstums viel zu viel Ware eingekauft hatte, war man zudem gezwungen, viele Produkte „mit hohen Rabatten abzugeben“, wie Scharner-Wolff sagte. Damit brach der Gewinn vor Zinsen und Steuern (Ebit) von zuvor 677 Millionen auf nur noch 22 Millionen Euro ein. Das Nettoergebnis fiel sogar auf minus 413 Millionen Euro, nachdem im Vorjahr auch aufgrund hoher Sondereffekte noch ein Überschuss von 1,8 Milliarden Euro erzielt wurde.

Für 2023/24 rechnet Birken mit einem Ebit im „niedrigen dreistelligen Millionen-Euro-Bereich“. Scharner-Wolff schließt nicht aus, dass auf der Netto-Ebene abermals ein Verlust ausgewiesen werden muss. Vor diesem Hintergrund habe die Verbesserung der Rentabilität in diesem Jahr Priorität. Dazu sei bereits im Oktober ein Einstellungsstopp für viele Bereiche verhängt worden. Der nachhaltig defizitäre Spielzeughändler MyToys mit 19 Filialen – davon eine in Hamburg – wird zum Geschäftsjahresende abgewickelt, wovon 800 Beschäftigte betroffen sind (das Abendblatt berichtete).

Beteiligung About You verliert um Hunderte Millionen Euro an Wert

Wenig Freude macht derzeit auch der von Otto gegründete Online-Modehändler About You. Das Investment sei eine „hervorragende Geschichte“, hatte Birken vor einem Jahr auf eine Frage nach seiner Einschätzung der Entwicklung dieses Hamburger Unternehmens gesagt. Doch seitdem ist der Börsenwert von About You um weitere rund 750 Millionen Euro gefallen – und Otto ist mit einer Beteiligung von mehr als 30 Prozent der größte Anteilseigner.

„Heute würde meine Antwort differenzierter ausfallen“, räumt Birken ein. „Mit dem Börsenkurs kann man überhaupt nicht zufrieden sein, auch wenn er sich bei anderen Unternehmen der Branche ähnlich entwickelt hat.“ Das Geschäftsmodell erachte er aber noch immer als hervorragend und innovativ. Und außerdem: „About You war nie als Sprint angelegt, sondern als Marathon.“