Vor einem Jahr verkauften Anne und Stefan Lemcke ihre Firma an Nestlé – trotz großer Kritik. So geht es ihnen heute.
- Anne und Stefan Lemcke machten ihre Firma Ankerkraut bei der „Höhle der Löwen“ bundesweit bekannt.
- Mit dem Verkauf an Nestlé verdiente das Hamburger Paar viel Geld – und erntete viel Kritik.
- Ein Jahr später suchen die beiden noch nach einer neuen Aufgabe.
Hamburg. So wie Stefan Lemcke knietief in den tosenden Atlantikwellen von der Karibikinsel St. Martin und ihren kulinarischen Genüssen schwärmt, könnte man fast meinen, es hätte sich nichts geändert im Leben des Ankerkraut-Gründers.
Mit einer Crew war er auf Entdeckungsreise Tausende Kilometer von Hamburg entfernt, „um den Geschmack von St. Martin zu erkunden“. Herausgekommen ist ein aufwendiges Video, das Ankerkraut vor Kurzem veröffentlicht hat – und natürlich eine Reihe neuer Gewürzmischungen.
Dass der Mann in Shirt und Shorts Spaß an der Taste-Tour hat, ist nicht zu übersehen. Er hat auch vor Corona schon solche Reisen unternommen. Da war er noch Ankerkraut-Chef. Vor knapp einem Jahr haben Stefan und Anne Lemcke die Mehrheit an ihrer erfolgreichen Gewürzfirma an den internationalen Nahrungsmittelkonzern Nestlé verkauft. Jetzt sind sie Ankerkraut-Markenbotschafter.
Ankerkraut: Stefan Lemcke fehlt das Unternehmersein – Anne Lemcke nicht
Ein richtiger Job ist das nicht, eher ein Zustand. Und die Lemckes wären nicht die Lemckes, wenn sie nicht offen darüber sprechen würden, wie sich das anfühlt. „Ich vermisse das Arbeiten im Team, jeden Tag Entscheidungen treffen, Probleme von jetzt auf gleich lösen“, sagt Stefan Lemcke.
Es sei nicht so, dass er den Verkauf bedauere. „Ich würde alles wieder genauso machen. Die Zeit seit der Gründung von Ankerkraut war eine Achterbahnfahrt mit sehr vielen Loopings. Ich musste vom Gas runter“, sagt der 45-Jährige, der an diesem Märztag entspannt wirkt und in den vergangenen Monaten locker 20 Kilo abgenommen hat. „Aber das Unternehmersein, das fehlt mir.“
Anne Lemcke schüttelt den Kopf. Auch sie ist ruhiger geworden und schlanker. „Alle zehn Jahre was Neues, das passt für mich“, sagt die 43-jährige und meint damit auch endlich Zeit zu haben für Kinder, Hunde. Familie 2.0 nennt sie das.
2022 war das erste Jahr bei Ankerkraut mit sinkendem Umsatz
Die Lemckes sitzen in einem Konferenzraum am Produktionsstandort des Unternehmens in Hamburg-Sinstorf. Mit am Tisch Timo Haas und Alexander Schwoch. Als Ankerkraut-Geschäftsführer schreiben sie die Firmengeschichte weiter, die vor ziemlich genau zehn Jahren begann.
Damals hatte Stefan Lemcke das Gewürz-Start-up in einer Garage in Wilhelmsburg gegründet. Innerhalb von neun Jahren hat das Ehepaar, das es mit einer Teilnahme an der Investorenshow „Die Höhle der Löwen“ zu bundesweiter Bekanntheit brachte, Ankerkraut mit hohem persönlichem Einsatz und viel Herzblut aufgebaut – mit 500 Produkten im Portfolio und Wachstumsquoten, von denen andere nur träumen konnten.
Ankerkraut-Fans kritisierten Verkauf an Nestlé massiv
Als sie im vergangenen Jahr kurz vor Ostern bekannt gaben, dass sie die Mehrheit ihres Unternehmens an Nestlé verkaufen, hat das für große Aufmerksamkeit gesorgt – inklusive massiver Kritik der Ankerkraut-Fangemeinde bei Facebook & Co.
Der Deal, der zu den spektakulärsten der deutschen Gründerszene zählt, hat die Lemckes zu Multimillionären gemacht. Zusammen mit den beiden Geschäftsführern halten sie nur noch einen Minderheitsanteil von gut 20 Prozent an Ankerkraut.
Seit vergangenem Sommer ist das umtriebige Unternehmerpaar raus aus dem Geschäft. Aber eben nicht ganz. „Wir repräsentieren die Marke Ankerkraut nach innen und außen“, beschreibt Anne Lemcke die Aufgabenteilung. Dazu gehören Videos, wie das von der Reise nach St. Martin, Live-Kochshows und Presseinterviews. Im Herbst erscheint ihr neues Outdoor-Kochbuch.
„Als Gründer und Markenbotschafter bleiben Stefan und Anne Lemcke Teil von Ankerkraut. Aber Ankerkraut ist nicht mehr nur Stefan und Anne Lemcke“, sagt Geschäftsführer Timo Haas. Gemeinsam mit Alexander Schwoch soll er dafür sorgen, dass die Firma mit Start-up-Kultur und die Eigentümerin mit Konzernstrukturen zusammenwachsen.
„Wir arbeiten weiterhin eigenständig“, betont der Marketingexperte, der seit 2018 im Unternehmen ist. Produktion, Rohstoffe, Qualität, Lieferanten, Mitarbeiter und Standorte – alles laufe bei Ankerkraut wie vor dem Verkauf. „Aber wir müssen jetzt regelmäßig über unsere Zahlen berichten. Das ist neu“, sagt Finanzchef Schwoch.
Und da werden die Konzernlenker in der Schweiz ganz genau hinschauen. 2022 war das erste Jahr in der Ankerkraut-Geschichte mit sinkendem Umsatz. Von 40 Millionen Euro im Jahr 2021 gingen die Erlöse „im prozentual kleinen zweistelligen Bereich zurück“, so Haas.
Eigentlich waren 25 Prozent plus geplant. Als Grund sieht er die Konsumflaute angesichts von Inflation und Preissteigerungen. „Die Verbraucher sparen bei Premiumprodukten, die in der Corona-Zeit geboomt haben“, sagt der 46-Jährige. „Das haben wir – wie der gesamte Markt – zu spüren bekommen.“ Welche Rolle die Boykott-Aufrufe enttäuschter Ankerkraut-Jünger und der medienwirksame Abgang von Dutzenden Influencern für das Umsatz-Minus spielen – das ist unklar.
Nestlé soll helfen, das internationale Geschäft anzukurbeln
Auch fast ein Jahr nach der Empörungswelle und Hass-Posts in den sozialen Medien ringen die Lemckes immer noch um eine Position. „Der Verkauf war so was von richtig“, sagt Stefan Lemcke. „Es war eine strategische Entscheidung. Wir mussten uns bei Größe und Anforderungen die Frage stellen, ob wir noch die Richtigen sind, um die Zukunft von Ankerkraut zu gestalten.“
Der neue Hauptgesellschafter sei ein „tolles Unternehmen“. Nestlé habe sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt, wird Lemcke nicht müde, die Entscheidung für den Großkonzern zu erklären. Man könnte auch sagen: zu rechtfertigen. Den Kritikern wirft er Unsachlichkeit vor. „Ich war über den Shitstorm erst geschockt, dann kamen Trauer, Wut und inzwischen Gelassenheit“, sagt er.
Auch weil sich ihre Geschichte gerade wiederholt. Nachdem Anfang März bekannt wurde, dass Nestlé bei dem Start-up Yfood mit einer Minderheitsbeteilung einsteigt, schwappte die nächste Entrüstungswelle durchs Netz.
Ankerkraut: Nestlé soll internationales Geschäft ankurbeln
Das Unternehmen aus München setzt mit Trinkmahlzeiten dreistellige Millionensummen um. Wie Ankerkraut war auch Yfood in der „Höhle der Löwen“ angetreten und hatte einen Deal mit Investor Frank Thelen gemacht. „Wir kennen die Gründer gut und haben uns ausgetauscht“, sagt Anne Lemcke. Ihr Ratschlag: „Augen zu und durch.“
Bei Ankerkraut soll Nestlé nun helfen, das internationale Geschäft anzukurbeln. Bislang ist der Gewürzhersteller trotz vieler Pläne nur in Deutschland und Österreich vertreten. „Wir sind gerade in der Schweiz gestartet“, sagt Geschäftsführer Haas.
Noch in diesem Jahr sollen Ankerkraut-Produkte in Dänemark und voraussichtlich auch in Schweden erhältlich sein. Und da kommen die Lemckes wieder ins Spiel. Gerade hat Anne Lemcke ein Video für Instagram & Co. aufgenommen, um im Nachbarland für Ankerkraut-Gewürze die Werbetrommel zu rühren – auf Dänisch.
Paw-Patrol-Produkte sind angekündigt
Geplant ist auch die Eröffnung von weiteren Ankerkraut-Läden. Aktuell gibt es vier, darunter der Flagship-Store in der Hamburger Mönckebergstraße. 2022 war Ankerkraut mit einem Pop-up-Store in Stuttgart vertreten, für dieses Jahr ist ein weiteres stationäres Geschäft in Frankfurt geplant.
Außerdem sollen eine neue Premium-Produktlinie, bei der ein Tiegel mit fermentiertem Pfeffer schon mal 30 Euro kostet, Lizenzverträge mit Serienstars wie Paw Patrol und die Abo-Box Foodie-Fracht die Umsätze ankurbeln. In den nächsten Wochen startet Ankerkraut eine komplett neue Produktkategorie. Was genau, ist noch geheim.
„Wir sind 2023 stark gestartet“, gibt sich Geschäftsführer Haas optimistisch. Trotzdem muss auch Ankerkraut sparen. „Wir haben zum Beispiel die Produktion umorganisiert und machen jetzt mehr selbst“, sagt Alexander Schwoch. Anfang des Jahres hat Ankerkraut die Preise angehoben. „Zum ersten Mal seit der Gründung und auch nur bei einigen Produkten“, sagt der 36-Jährige.
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Stefan und Anne Lemcke sind nur noch selten in der Ankerkraut-Zentrale am Tempowerkring in Hamburg-Heimfeld. Als Gäste. Im Alltag pendeln sie zwischen ihrer Wohnung im Hamburger Westen und ihrem Haus in Jesteburg, wo sie früher gelebt haben. „Erst bringen wir die Kinder in die Schule, dann fahren wir raus, um mit den Hunden zu laufen, und danach setzen wir uns an den Schreibtisch“, sagt Anne Lemcke.
Schon seit 2020 investiert das Gründerpaar in Gründer. Inzwischen haben sie einen großen Teil ihres Vermögens in Start-ups gesteckt. Unter dem Dach der neu gegründeten Gesellschaft Upendo Ventures sind inzwischen 15 Beteiligungen versammelt – vom nachhaltigen Beton bis zur Intimcreme für Frauen in den Wechseljahren. Das neuste Projekt ist Manti Manti, die nachhaltige Kinderbrillen aus dem 3-D-Drucker herstellen.
Lemckes sind auch bei Berliner Frauen-Fußballclub engagiert
„Wir haben sehr viele Anfragen“, sagt Anne Lemcke, die inzwischen laut Business Angel Report 2023 zu den Top 10 der Investorinnen in Deutschland gehört. Das Ehepaar ist auch beim Berliner Frauen-Fußballclub FC Viktoria Berlin sowie bei verschiedenen Risikokapitalgebern engagiert.
Und als ob das nicht reichen würde: Die Gründung einer Stiftung ist in Vorbereitung, mit der sie vor allem Sozial- und Umweltprojekte in Afrika unterstützen wollen. Im Bau ist eine Schule in Tansania, wo Stefan Lemcke als Sohn von Entwicklungshelfern aufgewachsen ist. Und dann investieren sie auch noch in Immobilien. In Amelinghausen bauen sie gerade eine Pension in 15, größtenteils barrierefreie, Wohnungen um. Weitere Vorhaben nicht ausgeschlossen.
Wenig – das geht offenbar nicht bei den Lemckes. Mit dem millionenschweren Exit aus ihrem erfolgreichen Start-up haben sie den Traum jedes Gründers umgesetzt und müssten nie wieder für Geld arbeiten. Noch suchen sie ihre Rollen im Leben danach.
Stefan Lemcke hat in den vergangenen Wochen in der Ankerkraut-Produktion und im Versand unterstützt. Auch bei Produktentwicklungen lasse er seinen „Geschmack“ einfließen, sagt er. „Ich muss arbeiten, sonst bin ich nicht glücklich.“