Hamburg. Carsten Wehrmann lenkt den Hamburger Zigarettenhersteller. Ein Gespräch vor zwei Umzügen des ehemaligen Platzhirsches.
Auf dem Empfangstresen, an dem in ein paar Wochen die Besucher der Reemtsma-Zentrale begrüßt werden, steht in diesen Tagen ein Makita-Baustellenradio und spielt Ballermann-Pop. Wände, Böden, Lichtinstallation – die Handwerker haben noch reichlich zu tun, bevor ab Mitte Februar das Gros der gut 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hamburger Zigarettenherstellers die neuen Büros beziehen kann.
Bislang ist erst gut eine Handvoll eingezogen. Das kleine Team, das das Projekt Umzug managt, waren die ersten in dem Neubau an der Behringstraße. Zum aktuellen Reemtsma-Sitz an der Max-Born-Straße sind es kaum zwei Kilometer Fußweg. Man bleibt im Stadtteil Bahrenfeld. „Die Stadt zu verlassen war nie eine Option. Wir sind ein Hamburger Traditionsunternehmen“, sagt Carsten Wehrmann, der Reemtsma seit zwei Jahren führt. Er verspricht sich von der neuen Zentrale vor allem einen Kulturwandel im Unternehmen.
Zigaretten: Reemtsma verkleinert sich in neuer Zentrale
„Wir wollen weg von einem Gebäude, in dem die einzelnen Bereiche übereinander in den Etagen untergebracht sind und hin zu mehr Arbeit in abteilungsübergreifenden Projektteams und zu mehr spontanem und kreativen Austausch“, beschreibt Wehrmann das Ziel des Umzugs. Reemtsma tut dafür, was viele Unternehmen in Zeiten des fest etablierten Homeoffice tun: Kaum noch Einzelbüros, stattdessen Desksharing und viele Rückzugs- und Besprechungsräume.
Selbst in der Kantine soll bald Team-Building betrieben werden. „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter holen sich das Essen nicht mehr mit dem Tablett ab, sondern setzen sich in gemischten Gruppen an einen Tisch, bestellen und werden dort bedient“, sagt Wehrmann. Die Hoffnung ist, das auch das den Austausch untereinander fördert – und letztlich dem Unternehmenserfolg dient.
Es gab noch eine Reihe anderer Gründe für den Umzug: Die 14.500 Quadratmeter Bürofläche an der Max-Born-Straße, wo jeder Beschäftigte seinen eigenen Schreibtisch hat, waren schlicht zu viel. Bei Reemtsma können sie jetzt die Hälfte ihrer Arbeitszeit auswärts verbringen. „Am alten Standort laufe ich seit Corona über lange Flure, an denen jedes zweite Büro leer steht. Und die 300 Parkplätze in der Tiefgarage sind allenfalls zur Hälfte belegt“, sagt Wehrmann. Die neue Zentrale kommt mit knapp der Hälfte der Fläche aus. Die sechs Minuten Fußweg von der S-Bahnstation Bahrenfeld sind angenehmer als die Busfahrt zum alten Standort. Und für die wachsende Zahl von Beschäftigten, die mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen, wurden Duschen eingebaut.
Reemtsma lockt Kaffeebar, eigenem Lebensmittelladen – und Raucherräumen
Um es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angenehm zu machen am Arbeitsplatz in der Firma – oder sie dorthin zurück zu locken – tut das Unternehmen mehr als andere: Gleich neben der Kaffee-Bar im Atrium, an der ein leibhaftiger Barista tagsüber Kaffeespezialitäten zubereiten wird, findet ein rund um die Uhr geöffneter kleiner Lebensmittelladen für die Beschäftigten Platz.
Außer Snacks, Salaten, Schoko- und veganen Powerriegeln, Getränken mit und ohne Alkohol stehen dort auch Nudeln, Saucen, Gebäck und Mitbringsel wie hochwertige Öle, Essige und Salze in den Regalen. Für den Fall, dass es abends spät geworden ist im Büro, und man auswärts nicht mehr zum Einkaufen kommt. Bezahlung mit der Mitarbeiterkarte und – wenn der Barista schon weg ist – auf Vertrauensbasis. Es ist eine Art begehbare Snack-Box mit erweitertem Angebot.
Für einen Zigarettenhersteller wohl ein Muss, in anderen Firmenzentralen aber eher selten: In jedem Stockwerk gibt es einen Raucherraum mit Abzugsanlage. „Wie auf einem Flughafen“, sagt Wehrmann, der überzeugt ist: „Der Anteil von Raucherinnen und Rauchern in der Reemtsma-Belegschaft dürfte kaum höher sein als in der Bevölkerung in Deutschland.“
Reemtsma wurde vom Platzhirsch zur Tochterfirma
Auf der Baustelle schon sichtbar ist ein anderer Wandel, der sich bei dem Unternehmen, das vor genau 100 Jahren aus Erfurt nach Hamburg kam, gerade vollzieht. Hinter dem Tresen am Eingang, an dem das Management im März Bürgermeister Peter Tschentscher zur Jubiläums- und Einweihungsparty empfangen wird, hängt das neue Unternehmenslogo. Reemtsma, viele Jahrzehnte der unangefochtene Platzhirsch in der deutschen Tabak- und Zigarettenbranche, wird darin zur Unterzeile seines britischen Mutterkonzerns Imperial Brands.
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„Vor allem für erfahrene Mitarbeiter ist das nicht leicht“, weiß Wehrmann. Er selbst sieht in dem neuen Logo einen Schritt in die Zukunft. „Wir stehen im Wettbewerb um Fachkräfte und Talente. Von einem international aufgestellten Konzern versprechen sich viele sicher bessere Karrierechancen.“ Und: Reemtsma sei in Hamburg und im Norden zwar weiterhin ein klangvoller Name. Doch assoziiert werde er von vielen Menschen heute eher mit der spektakulären Entführung des ehemaligen Firmenerben Jan-Philipp Reemtsma oder mit Carla Reemtsma, der Sprecherin der Fridays-for-Future-Bewegung in Deutschland, als mit dem Tabakunternehmen.
Das neue Logo steht auch für den tiefgreifenden Wandel von Reemtsma in den vergangenen 20 Jahren. Der begann, als die Briten 2002 von Tchibo zunächst die große Mehrheit übernahmen. Heute sind die Hamburger der verlängerte Arm der Konzernzentrale in London für den deutschsprachigen Raum. Von Bahrenfeld werden auch die Geschäfte in Österreich und der Schweiz gesteuert. Deutschland ist für Imperial Brands nach den USA der zweitwichtigste Ländermarkt weltweit.
Zigaretten: Der Gewinn ist weiter riesig – sinkt aber
Über Zahlen wird bei der Konzerntochter nicht gesprochen. Umsatz? Gewinn? Darüber geben nur die im Bundesanzeiger veröffentlichten Finanzberichte der Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH Auskunft. Demnach lag der Umsatz abzüglich der durchlaufenden Tabaksteuer im Geschäftsjahr 2020/2021 wie in den beiden Vorjahren jeweils bei etwa 2 Milliarden Euro. Der an den Mutterkonzern abgeführte Gewinn zunächst noch bei 534 und 544 Millionen Euro, laut der jüngsten veröffentlichten Zahlen im Jahr 2020/21 aber nur noch bei 423 Millionen.
Eine Gewinnmarge von mehr als 20 Prozent können nur wenige Unternehmen vorweisen. Vor wenigen Jahren lag sie bei Reemtsma allerdings noch bei mehr als 30 Prozent. Und Aktionäre und das Management börsennotierter Konzerne mögen keine Geschichten von stagnierenden Umsätzen und sinkenden Margen.
Gesundheitsbewusstsein und steigende Steuern drücken den Gewinn
Für die Entwicklung gibt es zahlreiche Gründe. „Der Zigarettenabsatz in Deutschland hat sich in den vergangenen 20 Jahren auf 70 Milliarden Stück pro Jahr halbiert. Und der Absatz klassischer Tabakprodukte geht jedes Jahr um etwa drei Prozent zurück“, sagt Wehrmann. Anti-Rauch-Kampagnen, Werbeverbote, ein wachsendes Gesundheitsbewusstsein, steigende Steuern haben dazu beigetragen.
In Deutschland ist die Tabaksteuer Anfang dieses Jahres wieder gestiegen. In den drei kommenden Jahren wird sie ebenfalls angehoben. Das kontinuierliche Anziehen der Daumenschrauben soll offenbar verhindern, dass sich nikotinabhängige Verbraucher allzu schnell an höhere Preise und weniger Zigaretten pro Packung gewöhnen.
Reemtsma-Chef greift zur E-Zigarette
Seit vielen Jahren versuchen die großen Firmen der Branche mit den sogenannten Next Generation-Produkten eine Alternative zu Tabak zu etablieren: E-Zigaretten und sogenannte Tabakerhitzer, die zwar auch süchtig machen, aber als weniger gesundheitsschädlich gelten. Doch hierzulande sind die Verbraucher besonders zurückhaltend. „Der Marktanteil in Deutschland liegt bei etwa drei Prozent, in Skandinavien, im Baltikum und einigen Ländern Osteuropas zum Teil bereits deutlich höher“, sagt Wehrmann, der selbst auf die myBlu-E-Zigarette von Imperial Brands umgestiegen ist.
In der letzten verbliebenen Reemtsma-Zigarettenfabrik in Langenhagen bei Hannover werden neben vielen der eigenen Marken, Handelsmarken der Discounter und Zigaretten, die der Konzern nur in anderen Ländern vermarktet, inzwischen auch Tabak-Sticks für den Imperial-Brands-Erhitzer namens Pulze produziert, der hierzulande noch gar nicht auf dem Markt ist.
Ebenso wenig wie Nikotinbeutel. Das sind kleine Tütchen mit Tabak oder voller mit Nikotin getränkter Pflanzenfasern, die man sich unter die Lippe schiebt. In Österreich bescherten die Beutel Reemtsma zuletzt einen Umsatzschub von 40 Prozent, in Deutschland sind sie nicht zugelassen. „Klassische Tabakprodukte werden auf viele Jahre hinaus unser Kerngeschäft bleiben“, ist Wehrmann überzeugt.
Reemtsma schon lange ohne Innovation
Auch eine andere – zumindest wirtschaftliche – Erfolgsgeschichte in der Rauch-, Dampf- und Nikotin-Branche wird einstweilen ohne Beteiligung der Hamburger und des Mutter-Konzerns geschrieben. Einweg-E-Zigaretten (Vapes), die vornehmlich aus China kommen, haben im Handel hohe Zuwachsraten. Die Kunststoffteile kosten um die sechs Euro, enthalten Flüssigkeit für 550 bis 600 Züge – und werden am Ende ihrer Lebenszeit inklusive Batterie weggeschmissen. Es ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. Und dass es nach einer aktuellen Untersuchung wieder deutlich mehr jugendliche Raucher gibt, dürfte auch auf diese Vapes zurückzuführen sein, deren Verbot von Gesundheitspolitikern vehement gefordert wird.
Bei Reemtsma liegt die letzte marktumwälzende Innovation nun schon mehr als 40 Jahre zurück. Damals brachten die Hamburger die Marke West heraus, die ihre zeitweiligen Vorrangstellung inzwischen aber wieder eingebüßt hat. Die absatzstärksten Marken der Hamburger sind JPS und Gauloises. Roth-Händle und Reval, Peter Stuyvesant und Ernte 23 – einst sehr beliebte Marken – spielen praktisch kaum noch eine Rolle. Produziert und verkauft werden sie weiter, die großen Marketingetats aber fließen in andere Produkte.
Ernte 23 – seit fast 100 Jahren im Handel
Ernte 23 wird nächstes Jahr dennoch seit 100 Jahren im Handel sein. Ihr Name entstand, weil es Reemtsma 1923 gelungen war, die gesamte Orienttabakernte in Bulgarien günstig aufzukaufen und in einer neuen Tabakmischung zu verarbeiten. Bei Traditionsmarken wie Ernte und Stuyvesant ist der Absatz zwar gering, aber: „Sie machen uns weiterhin viel Freude, weil sie eine treue Anhängerschaft haben.“ Die jüngste Marke aus dem Hause Reemtsma heißt Paramount und wird vergleichsweise günstig verkauft. Ein Konkurrent für die billigen Eigenmarken der Discounter, die derzeit häufiger gekauft werden.
Im Grundsatz allerdings stehen Raucher in Deutschland Neuerungen eher skeptisch gegenüber. „Das kann so weit gehen, dass Kunden überzeugt sind, dass die Zigarette anders schmeckt, obwohl wir nur die Verpackung leicht verändert haben“, sagt Wehrmann. Bislang nicht durchgesetzt hat sich der kunststofffreie Filter, der in den Bahrenfelder Reemtsma-Laboren entwickelt wurde. Verwendet wird er vorerst nur in der Gauloises-Variante Liberté. „Ich wäre vorsichtig, den Filter direkt beim Zugpferd im Sortiment einzuführen“, so der Reemtsma-Chef. Der plastikfreie Filter ist offenbar kein großer Verkaufserfolg.
Zigaretten: Reemtsma steht schon vor dem zweiten Umzug
Die Labore bleiben vorerst an der Max-Born-Straße. Sie benötigen besondere Raumverhältnisse. Die in der neuen Zentrale zu schaffen, hätte nicht gelohnt. Denn die Behringstraße ist nur vorübergehend die neue Reemtsma-Adresse. Schon im nächsten Jahr steht der nächste Umzug an. Der wenige hundert Meter entfernte Neubau am Friesenweg auf dem Gelände der ehemaligen Marzipanfabrik wird gerade hochgezogen und soll Ende 2024 bezogen sein.
Carsten Wehrmann sieht den zweiten Ortswechsel binnen zwei Jahren positiv. „Wir können die geplanten Neuerungen testen und schauen, ob wir sie auch am Friesenweg so umsetzen.“ Ein bisschen größer soll der endgültige Firmensitz sein als die Übergangslösung. Geplant sind auch ein Eltern-Kind-Zimmer – und ein Gebetsraum.