Hamburg. Knapp die Hälfte der Angestellten würde laut einer Umfrage in Teilzeit wechseln, wenn ihr Arbeitgeber das erlaubte.
Hardy Krause ist ein Bäcker, wie er im Buche steht. Selbst kürzlich auf Mallorca knetete er noch Teig, während andere Menschen im Urlaub lieber am Strand faulenzen. „Wir hatten an der Finca so einen tollen Holzbackofen“, sagt Krause über seine Ferienaktivitäten.
Mit der Leidenschaft für seinen Beruf steht der Geschäftsführer der Rohlfs Bäckerei offenbar ziemlich alleine da. Wenn er bei Vorstellungsgesprächen mit Bewerbern spricht, fragen diese immer öfter nach Teilzeit. „Freizeit ist die neue Währung“, fasst Krause seinen Eindruck zusammen. Die Leute wollten sich nicht mehr ihr Leben durch den Beruf diktieren lassen, sagt der 52-Jährige, und gibt zu: „Vielleicht ist das auch richtig, schließlich ist unsere Lebenszeit ja begrenzt“.
Die Erfahrung des Chefs von 250 Mitarbeitern in Hamburg ist kein Einzelfall. Einer steigenden Zahl von Menschen in Deutschland vergeht laut einer neuen Umfrage die Lust am Arbeiten. Knapp die Hälfte der Angestellten (48 Prozent) würde demnach in Teilzeit wechseln, wenn ihr Arbeitgeber das erlaubte. Und 56 Prozent sagten, dass sie schnellstmöglich die Arbeit an den Nagel hängen würden, wenn sie finanziell nicht auf den Job angewiesen seien.
Das hat das Umfrageinstitut YouGov für eine alljährliche Berufestudie ermittelt, die der Versicherer HDI in Hannover veröffentlichte. Die Demoskopen befragten im Sommer 3891 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab 15 Jahren.
Teilzeit: Viele würden eine Viertagewoche begrüßen
Vor Beginn der Corona-Pandemie 2019 hatten nur 41 Prozent angegeben, dass sie bei ausreichenden Finanzen das Arbeiten am liebsten einstellen würden. Mehr als drei Viertel sagten, dass sie die Einführung der Viertagewoche in ihrer jeweiligen Firma begrüßen würden, eine große Mehrheit allerdings nur bei vollem Lohnausgleich.
Auch Thorsten Wulff, Inhaber des gleichnamigen Radsportladens in Schnelsen, berichtet von entsprechenden Vorstellungen der Bewerber. Manchmal muss er sich in den Gesprächen zusammenreißen, wenn er die Forderungen der Frauen und Männer hört. „Ich möchte nur bis Freitagmittag arbeiten“, habe kürzlich ein Interessent gesagt, denn er fahre am Wochenende regelmäßig mit seiner Familie ans Meer. „Der Bewerber kam aus der Branche und müsste eigentlich wissen, dass Fahrradläden am Freitag und Samstag ihren halben Wochenumsatz machen“, findet Wulff. Das Problem sei, warnt der Händler, „wenn ich so jemanden einstelle, wollen das die anderen 60 bis 80 Prozent auch“.
Zahl der Teilzeitbeschäftigten in Hamburg ist stetig gewachsen
Einige seiner Gesprächspartner sagten auch, sie wollten jeden Tag um 16 Uhr nach Hause. Manche wollen zum Blockflötenunterricht, andere zum Segelkurs. Zwar verdienen Zweiradmechaniker nicht üppig, netto bleiben bei einer Vollzeitstelle im Monat etwa 2200 bis 2500 Euro übrig. Aber viele Bewerber argumentierten auch mit ihren gut verdienenden Ehefrauen, die mal als Zahnärztin, mal als leitende Angestellte zum Gros des Haushaltseinkommens beitrügen, sagt Wulff. „Ich bin in einer Gruppe, wo sich Händler unserer Branche austauschen, und alle haben das gleiche Problem“.
Schon in den vergangenen Jahren ist die Zahl der Hamburger, die nicht in Vollzeit arbeiten, stetig gewachsen (siehe Grafik). „Die Teilzeit-Beschäftigung ist überproportional angestiegen“, sagt Knut Böhrnsen, Sprecher der Agentur für Arbeit in der Hansestadt. Die Entwicklung betrifft beide Geschlechter. „Der Anteil der in Teilzeit arbeitenden Frauen ist von 76,6 auf 71,6 Prozent gesunken, folglich haben mehr Männer ihre Vollzeit reduziert“, ergänzt Böhrnsen. Die Begründung aus früheren Zeiten, dass sich viele Frauen um Haushalt und Kinder kümmern und daher weniger arbeiten, greift also in der heutigen Wirtschaftswelt nicht mehr gleichermaßen.
Deutschland leidet unter einem drastischen Mangel an Fachkräften
Das Umdenken hin zu einer neuen Work-Life-Balance belastet die Betriebe. Immerhin leidet Deutschland unter einem drastischen Mangel an Fachkräften. Es gibt fast zwei Millionen offene Stellen. Und vor allem Vollzeitkräfte sind gefragt. „Derzeit sind uns knapp 13.600 freie Arbeitsstellen gemeldet, davon nur 1600 als reine Teilzeitstellen. Ein klares Signal, dass Vollzeitkräfte benötigt werden“, sagt Böhrnsen über die Situation in Hamburg. „Grundsätzlich gibt es viele Beschäftigte, die ein paar Stunden weniger, aber auch viele, die mehr arbeiten wollen“, ergänzt Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Gerade im Handel, betonen Gewerkschaften, würden viele Firmen Verkäufern, die sich Vollzeit wünschten, nur Teilzeitverträge anbieten, weil sie so flexibel bleiben, ohne die Kosten zu sehr in die Höhe zu treiben. So werde aber der Personalmangel in den Geschäften verstärkt.
Volkswirt Weber betont: Wichtig sei, dass Firmen auf die Anliegen der Leute eingingen und nicht beispielsweise versuchten, sie in Vollzeitverträge zu zwingen. Denn die Zufriedenheit mit dem Job hänge stark von der Selbstbestimmtheit ab. Zwar sei es anspruchsvoll, wenn nicht mehr alle in Schichtsysteme gezwungen werden könnten, aber die Anstrengung, mehr Flexibilität zu ermöglichen, erhöhe die Motivation.
Neue Herangehensweise ruft gemischte Gefühle hervor
Auch in Hamburg sehen die Betriebe die Berechtigung, die hinter der neuen Lebenseinstellung steht. „Ich war seit dem 15. Lebensjahr eingebunden in das Geschäft, als es damals noch meinem Vater gehörte“, sagt Thorsten Wulff über seinen Fahrradhandel. Seit er dann selber Ende der 80er-Jahre die Verantwortung übernommen hat, gab es niemals auch nur einen freien Sonnabend für ihn. „Und meine Frau sagte oft: ,Du bist doch der Chef?‘, wenn sie sich an meiner wenigen Freizeit störte“, erzählt Wulff aus dem Leben in der Familie mit zwei Kindern, die er, wie der 61-Jährige heute zugibt, letztlich in ihrem Aufwachsen auch zu wenig gesehen habe.
Auch Hardy Krause nimmt die neue Herangehensweise vieler Menschen an die Arbeit mit gemischten Gefühlen wahr – und nicht nur aus der Perspektive des Unternehmers oder des leidenschaftlichen Bäckers, der glücklicherweise sein liebstes Hobby zum Beruf gemacht hat. „Die Leute haben ein anderes Lebensgefühl“, sagt Krause.
Intensiver Nachholbedarf nach der Isolation in der Pandemie
Auch durch Corona habe sich die Einstellung geändert. „Es besteht ein intensiver Nachholbedarf, nach der Zeit der Vereinzelung während der Pandemie“. Mit Freunden im Stadtpark grillen, in den Urlaub fahren, danach sehnten sich jetzt viele Menschen. Den Verzicht auf Gehalt durch die Teilzeit nähmen viele Frauen und Männer dabei gerne in Kauf. „Die wissen, dass sie sich dann keinen Porsche leisten können. Aber viele leben auch noch bei den Eltern oder in einem WG-Zimmer,“, sagt der 52-Jährige, der kürzlich von einem Bewerber ganz offen auf den Generationenkonflikt gestoßen wurde. „Ich will nicht so werden wie meine Eltern“, habe der Hamburger gesagt, ein Mann in den Zwanzigern.
Die Bindung an die Arbeit nimmt auch nach den Ergebnissen der Umfrage des HDI vor allem bei den Jüngeren ab: So sagten jetzt 58 Prozent der unter 25-Jährigen, dass sie sich ein Leben ohne Beruf nicht vorstellen könnten -- 2020 waren es noch 69 Prozent gewesen. „Besonders junge Menschen in Deutschland streben den Ergebnissen unserer Studie zufolge vehement nach mehr Freiräumen im Job“, berichtete HDI-Deutschlandchef Christopher Lohmann über die Befragung.
- Wie die Post das Weihnachtsgeschäft in Hamburg packen will
- Metallindustrie plant 1300 neue Jobs im Norden
- Fachkräftemangel in Hamburg durch hohe Mieten?
Teilzeit: Neuer Blick auf den Beruf zwingt Unternehmen zu Veränderungen
Für die Firmen bringt der neue Blick auf den Beruf gezwungenermaßen Veränderungen mit sich. „Wir überlegen, jetzt immer mittwochs zu schließen“, sagt Radhändler Wulff über einen Trend, der sich in der Branche durchsetzt. Anders sei die Organisation des wenigen Personals kaum noch zu bewältigen.
Auch Rohlfs-Geschäftsführer Krause ist in einigen seiner 14 Filialen zu Einschnitten gezwungen, denn immerhin fehlen derzeit etwa ein Dutzend Verkaufskräfte im Team: „Um 20 Uhr ist bei uns Ende“, sagt er über seine Bäckereien, die zum Teil in länger geöffneten Edeka-Märkten ihre Brote und Brötchen anbieten. „Schließlich dürfen wir auch nicht vergessen, wo wir herkommen – früher haben die Geschäfte schon um 18 Uhr zugemacht“.
Außerdem ist der studierte Lebensmitteltechnologe vom Nachhaltigkeitsgedanken überzeugt: „Wir können ja nicht so tun, als wenn es kein Morgen gäbe“. Das alleinige Streben nach Wachstum gehöre der Vergangenheit an, die Ressourcen müssten geschont werden, sagt der in Volksdorf lebende Familienvater, der auch eine weitergehende Konsequenz nicht ausschließen will: „Oder wir verkleinern uns als Bäckerei“.