Rezepte gegen die Krise: Das Abendblatt hat bei bekannten Ökonomen nachgehakt, wie Hamburg aus dem Tal herauskommt.

Es sind ökonomisch unruhige Zeiten. Deutschland befindet sich in einer Rezession, die Inflationsraten haben zweistellige Prozentwerte erreicht – und mit Blick auf den Arbeitsmarkt herrscht zumindest bei vielen Beschäftigten Verunsicherung. Wird es schon bald deutlich mehr Erwerbslose geben, wenn Firmen in die Insolvenz rutschen, ihr Personal nicht mehr benötigen? Was können Politik und Europäische Zentralbank (EZB) tun, um die Krise zu entschärfen?

Im September haben die Verbraucherpreise gegenüber dem gleichen Vorjahresmonat um zehn Prozent zugelegt – das ist die höchste Teuerung seit 1951. Nahezu alle Produkte und Dienstleistungen kosten heute deutlich mehr als vor einem Jahr. Vor allem die Preisexplosion bei Gas, Öl und Strom macht den Bundesbürgern zu schaffen. Führende Ökonomen sind sich nahezu einig, dass die Inflationsrate im laufenden Jahr zwischen acht und neun Prozent liegen wird. Doch wie geht es 2023 und 2024 weiter?

IfW-Vizepräsident erwartet 2023 noch höhere Inflationsrate

Stefan Kooths erwartet im kommenden Jahr sogar noch eine höhere Inflationsrate als 2022. Sie könnte von 8,4 auf 8,8 Prozent zulegen, sagt der Vizepräsident und Konjunkturchef des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. Der Grund: Bislang seien die Preissteigerungen für Gas und Strom vom Großhandel in weiten Teilen nicht beim Verbraucher angekommen.

Die Versorger hätten sich auf den Terminmärkten noch zu eher günstigen Konditionen eingedeckt. „Mit den nunmehr deutlich höheren Terminpreisen verteuert sich sukzessive die Beschaffung, die dann an die Verbraucher weitergegeben wird“, prognostiziert Kooths. Vor allem für die Gasversorger sei die Lage dramatisch, da sie nun keine Lieferungen aus Russland mehr bekämen und an den Spotmärkten zu deutlich höheren Preisen einkaufen müssten.

Inflation: Berenberg-Chefvolkswirt zeigt sich optimistischer

Auch Ökonom Henning Vöpel sagt weiter stark steigende Verbraucherpreise voraus, geht 2023 von acht bis zehn Prozent aus. Der Direktor des Centrums für Europäische Politik (cep) nennt ebenfalls die Energiekosten als Preisbeschleuniger. Er ist sich aber auch sicher: „Höhere Lohnabschlüsse werden die Inflation zusätzlich antreiben.“ Entspannung bei den Preisen sehen die meisten Ökonomen erst ab 2024.

Vöpel geht davon aus, dass die Inflation dann wieder „deutlich“ sinken wird. Kooths erwartet konkret eine Preissteigerung von 2,2 Prozent. Ein wenig optimistischer gibt sich derweil Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding, der für die gesamte Eurozone zwar kurzfristig Preissteigerungen oberhalb von zehn Prozent erwartet, aber bereits Ende 2023 Inflationsraten von 3,5 Prozent und 2024 von zwei Prozent voraussagt.

Ökonom: „Aufschwung kann im Sommer 2023 beginnen"

Im Supermarkt greifen die Deutschen häufiger zu Sonderangeboten, Theater und Konzerte sind oft nur noch spärlich besucht, Lücken in den Lieferketten und extrem gestiegene Preise lassen potenzielle Kunden beim Autokauf zögern. Dies sind nur drei Beispiele, die veranschaulichen, warum Deutschlands Wirtschaft nicht mehr wächst. Es wird gespart.

„Die Rezession hat bereits begonnen. Sie wird wahrscheinlich kurz, aber hart“, sagt Schmieding. Im Winter könnte die deutsche Wirtschaftsleistung nach seinen Berechnungen drei Prozent niedriger ausfallen als im Frühjahr 2022. „Aber sobald wir den harten Winter überstanden haben und es uns gelungen ist, den Gasverbrauch auch durch den Einsatz anderer Energiequellen hinreichend zu reduzieren, können die Stimmung und Konjunktur sich wieder bessern“, so der Berenberg-Chefvolkswirt. Seine Voraussage: „Der neue Aufschwung kann im Sommer 2023 beginnen.“

Haspa-Volkswirt: "Rezession sollte auf das Winterhalbjahr begrenzt sein.“

Nach einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1,8 Prozent (2023) sieht Schmieding im Jahr darauf schon wieder 2,6 Prozent Wachstum. Haspa-Chefvolkswirt Jochen Intelmann erwartet 2023 ein Minus der Wirtschaftsleistung von zwei Prozent. Dennoch glaubt er: „Die Rezession sollte auf das Winterhalbjahr begrenzt sein.“ Die meisten Volkswirte setzen auf 2024 als Jahr des Umschwungs: „Dann dürfte das BIP um 1,9 Prozent zulegen“, sagt Kooths vom Kieler IfW.

Die Erholungsphase von der Corona-Krise werde aber nun erst mal unterbrochen. Vöpel macht auf einen wichtigen Punkt aufmerksam: „Wie stark der Einbruch tatsächlich sein wird, hängt wesentlich davon ab, wie und ob die Energieversorgung im Winter 2023/24 gesichert werden kann.“ Im Klartext: Ist Deutschland dann bereits in der Lage, vor allem seine Gasversorgung, aus anderen als den russischen Quellen zu akzeptablen Preisen sicherzustellen?

Haspa-Volkswirt schließt Preis-Lohn-Spirale nicht aus

Wenn die Preise überproportional steigen, legen auch die Löhne meist besonders kräftig zu. Dieses deutliche finanzielle Plus im Portemonnaie heizt die Inflation weiter an. Ökonomen sprechen von einer Preis-Lohn-Spirale. Die Tarifabschlüsse der vergangenen Monate haben gezeigt, dass die Gewerkschaften einen Ausgleich für die starken Preissteigerungen haben wollen. So konnten die Hafenarbeiter in Hamburg durch Streiks mehr als neun Prozent höhere Löhne erkämpfen.

Zudem hat der Staat mit der Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde dafür gesorgt, dass rund sechs Millionen Bundesbürger über mehr Geld verfügen. Aktuell läuft die wichtige Tarifrunde in der deutschen Metall- und Elektroindustrie mit ihren bundesweit 3,8 Millionen Beschäftigten. Acht Prozent höhere Einkommen verlangt die IG Metall und gibt sich streikbereit – ein womöglich richtungsweisender Abschluss für andere Bereiche wie den öffentlichen Dienst.

Die Ökonomen sind unterschiedlicher Auffassung, ob nun eine gefährliche Preis-Lohn-Spirale in Gang gesetzt wird. Haspa-Volkswirt Intelmann will sie nicht ausschließen, hofft aber, dass sie verhindert werden kann. Schmieding sieht keine Gefahr: „Ich erwarte einen einmaligen kräftigen Lohnnachschlag in der aktuellen Tarifrunde – in Deutschland – von mindestens fünf Prozent, gefolgt von wieder normaleren Abschlüssen von unter vier Prozent.“ Dagegen ist Vöpel davon überzeugt, dass sich Deutschland schon „mitten in der Spirale“ befindet. Er sieht neben dem Inflationsargument ein zweites starkes Druckmittel der Gewerkschaften: Der Arbeitskräftemangel treibe Löhne und Preise zusätzlich an.

Arbeitsmarkt Hamburg: Kampf um die raren Fachkräfte ist groß

Energiekrise und steigende Preise haben bisher kaum Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Bundesweit ist die Zahl der Erwerbslosen im September sogar um 62.000 auf 2,486 Millionen gesunken. In Hamburg gab es im vergangenen Monat ebenfalls einen leichten Rückgang auf knapp 75.400. Zudem findet man in der Hansestadt rund 13.500 freie Stellen in der offiziellen Statistik der Arbeitsagentur. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Der Kampf um die raren Fachkräfte ist trotz Rezession und Inflation groß. Unternehmen versuchen mit Blick auf die Babyboomer-Jahrgänge, die bald in Rente gehen, sich bereits jetzt optimal für die Zukunft aufzustellen.

So gehen die Ökonomen auch nicht von einem stärkeren, dauerhaften Anstieg der Erwerbslosenzahlen aus. „Die Arbeitslosigkeit wird trotz der schweren Krise nur geringfügig zunehmen, weil die Unternehmen Arbeitskräfte halten wollen. Instrumente wie die Kurzarbeit werden ebenfalls stützend wirken“, sagt Vöpel. Lediglich bei einer „akuten Energienotlage“ könnte aus seiner Sicht die Erwerbslosenzahl nach oben schnellen. Auch Berenberg-Chefvolkswirt Schmieding ist sich sicher: „Angesichts des ausgeprägten Mangels an Arbeitskräften werden Unternehmen kaum Beschäftigte entlassen.“ Kollege Kooths aus Kiel erwartet nur einen kurzzeitigen und geringfügigen Anstieg der bundesweiten Arbeitslosenquote von 5,3 Prozent (2022) auf 5,5 Prozent (2023).

Rezepte gegen die Krise: EZB soll „zu normaleren Zinsen“ zurückkehren

Inflation, Rezession – wie sollten EZB und Bundesregierung auf diese Situation reagieren? Relativ spät haben sich die Währungshüter in Frankfurt dazu entschlossen, die Zinsen zu erhöhen, um so die Preissteigerungen zu begrenzen. Mittlerweile liegt der Leitzins in der Eurozone bei 1,25 Prozent. Im Vergleich zu den USA, wo die dortige Zentralbank (Fed) eine Spanne von 3,0 bis 3,25 Prozent festgelegt hat, ein eher zaghafter Versuch der Europäer Liquidität aus dem Markt zu saugen. Wegen der großen Zinsdiskrepanz auf beiden Seiten des Atlantiks fließt bereits viel Kapital Richtung Amerika und in den Dollar. Der Euro verliert gegenüber dem Greenback an Wert, Importe werden folglich teurer, was die Inflation hierzulande weiter anheizt.

„Die EZB muss mit weiteren Zinserhöhungen die Inflation entschieden bekämpfen, um die Inflationserwartungen wieder zurückzuführen“, fordert Vöpel. Ökonom Schmieding weiß zwar, dass die Zentralbank selbst nichts gegen die hohen Energiepreise tun kann. Dies sei Sache der Politik. Allerdings fordert auch er, dass die EZB „zu normaleren Zinsen“ zurückkehrt.

Ökonom: „Wumms-Rhetorik“ von Scholz ist falsche Ansprache

Und was soll die Politik unternehmen? Gegen einen Energiepreisdeckel, der gezielt Menschen hilft, die Unterstützung nötig haben, hat kaum ein Volkswirt etwas einzuwenden. Die Regierung müsse aber aufpassen, „mit ihren Hilfs- und Entlastungspaketen nicht zu sehr auf die breite Masse der Bevölkerung zu zielen“, sagt Kooths. Je breiter die Entlastungsmaßnahmen ausgestaltet würden, desto höher sei die inflationstreibende Gefahr, die von ihnen ausgehe. „Denn gesamtwirtschaftlich verschuldet sich der Staat und pumpt über Subventionen mehr verfügbares Einkommen in den Privatsektor. Das treibt die Nachfrage und damit auch die heimischen Preise weiter nach oben.“

Die „Wumms-Rhetorik“ von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sei zudem die falsche Ansprache in einer Energiekrise. Kooths: „Es wäre verheerend, wenn Verbraucher und Unternehmen aus dem sogenannten Abwehrschirm schlössen, sie seien nun ihre Energiesorgen los, weil der Staat alles über Kredite bezahlt. Vielmehr kommt es weiterhin darauf an, den Gasverbrauch zu drosseln.“