Hamburg. Um bis zu 76 Prozent sackten die Werte aus der Metropolregion seit Jahres- und Kriegsbeginn bergab. Analyse und Ausblick.
Im Januar lag der Deutsche Aktienindex (DAX) noch bei mehr als 16.100 Punkten, die Pandemie schien sich wegen der hohen Impfquoten dem Ende zu nähern, über einen möglichen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sprach niemand. Die Banken gingen von einem guten bis sehr guten Börsenjahr 2022 aus. Dann kam alles anders: Russlands Staatspräsident Wladimir Putin schickte Soldaten, Panzer und Raketen in die Ukraine, die Energiepreise explodierten und katapultierten die Inflation in Deutschland auf zweistellige Prozentwerte.
Die Europäische Zentralbank (EZB) bemühte sich, mit der Erhöhung der Leitzinsen gegenzusteuern. Viele Unternehmen mussten ihre Gewinnerwartungen zum Teil deutlich reduzieren, und die Konsumlust der Bundesbürger sackte ab. Die Konsequenz an der Börse: Der DAX verlor kräftig an Wert, rutschte in dieser Woche sogar zeitweise unter 12.000 Zähler – ein Minus von rund 25 Prozent zum Jahresbeginn. Und nicht wenige Experten erwarten weitere Kurskorrekturen nach unten, solange es keinen Frieden in der Ukraine gibt.
Hamburger Aktien: Entwicklung fällt unterschiedlich aus
Auch Aktien aus der Metropolregion konnten sich dem Abwärtssog nicht entziehen. Doch die Entwicklung der Papiere fällt sehr unterschiedlich und zum Teil überraschend aus. Während die Aktie des Windkraftspezialisten PNE seit Anfang Januar um 101 Prozent zulegte, ging es für den Online-Modehändler About You um 76 Prozent bergab. Wie lassen sich diese Unterschiede erklären – und was erwarten die Analysten für einzelne Werte in der Zukunft? Das Abendblatt hakte nach.
Konsum:
Bei den Konsumtiteln kam vor allem About You unter die Räder. Mehr als drei Viertel ihres Wertes büßte die Online-Modeplattform seit Jahresbeginn ein, die Aktie wird für weniger als fünf Euro gehandelt. Erst vor zwei Wochen hatten die Hamburger bekannt gegeben, dass sie für das laufende Geschäftsjahr einen geringeren Umsatz und einen höheren Verlust erwarten als bisher angenommen. Die Konsumzurückhaltung trifft About You. Allerdings verweist das Unternehmen immer wieder darauf, dass es Marktanteile gewinnt und die Verluste primär auf hohe Investitionen in neue Märkte zurückzuführen sind.
Analysten haben das Kursziel in den vergangenen Monaten gesenkt. JPMorgan stuft die Aktie auf „neutral“ ein, sieht aber trotz der „schlechten Berechenbarkeit“ Potenzial bis 18 Euro. Das Analysehaus Jefferies rät weiter zum Kauf, nennt ein Kursziel von 9,50 Euro und spricht von „strukturellen Vorteilen“ der Hamburger gegenüber Wettbewerbern. Die Investmentbank Barclays würde About You im Depot „untergewichten“. Der Grund: Analystin Emily Johnson rechnet erst für das Geschäftsjahr 2024/25 damit, dass der Modehändler profitabel sein wird.
Beiersdorf kann Kursplus verzeichnen
Beiersdorf als einziger Hamburger DAX-Wert darf sich über ein Kursplus von acht Prozent auf rund 100 Euro freuen. Dabei sollte man nicht vergessen, dass die Aktie im letzten Quartal 2021 abgestürzt war. Dennoch scheint die Fokussierung der neuen Führung um Vincent Warnery auf Kernmarken, Digitalisierung und Nachhaltigkeit Früchte zu tragen. Jüngste Analysen der Banken sind durchweg positiv, Kursziele von bis zu 128 Euro (Berenberg) werden ausgegeben. Die Experten loben eine „schwungvolle Umsatzentwicklung“ und die Konzentration auf starke Marken wie Nivea und Eucerin.
Das Fielmann-Papier büßte 44 Prozent an Wert auf rund 32 Euro ein. Die Optikerkette reduzierte ihre Umsatz- und Gewinnerwartungen wegen der Konsumflaute. Mit Blick auf hohe Energiekosten dürften nicht wenige Kunden den Kauf teurer Gleitsichtbrillen verschieben. Analysten sind sich mit Blick in die Zukunft uneins. Warburg Research hält an seiner Kaufempfehlung fest, nennt ein Kursziel von 50 Euro. Berenberg rät zum Verkauf, gibt 30 Euro als Kursziel aus und spricht von „Gegenwind für die am Markt erwartete Margenerholung“. Der Fachkräftemangel und teure Energie dürften auch Fielmann vor weitere Probleme stellen.
Deutsche Euroshop kommt auf Plus von 55 Prozent
Die Deutsche Euroshop schlägt sich mit einem Plus von 55 Prozent auf rund 23 Euro überraschend gut. Der Grund: das im Mai veröffentlichte Übernahmeangebot (22,50 Euro pro Aktie) von Alexander Otto (ECE) und dem US-Finanzinvestor Oaktree. Mittlerweile gibt es aber kaum noch Kursfantasie bei den Experten. Wegen der noch unbekannten Strategie der neuen Mehrheitsaktionäre sei die Bewertung des Papiers schwierig, meint Baader-Analyst André Remke. Er sieht die Aktie aktuell fair bewertet, sein Ratschlag: den Bestand im Depot „reduzieren“.
Industrie:
Aurubis, Jungheinrich und Basler – alle drei Industriewerte haben in den vergangenen neun Monaten stark an Wert verloren. Am heftigsten traf es den Industriekamera-Spezialisten Basler mit minus 59 Prozent auf rund 22 Euro. Im ersten Halbjahr rutschte der Vorsteuergewinn von Basler um 29 Prozent ab. Das Gros der Analysten ist aber positiv gestimmt, spricht lediglich von höheren Kapitalkosten mit Blick auf die gestiegenen Zinsen für Fremdkapital. Dennoch dürfte sich auch Basler wohl kaum der negativen Sogwirkung einer Rezession entziehen können. Berenberg (Kursziel: 40 Euro) und Warburg (Kursziel: 42,50 Euro) bleiben bei ihrer Kaufempfehlung, Jefferies rät derweil zum Halten (Kursziel: 26 Euro).
Der Kupferhersteller Aurubis büßte im Jahresverlauf bisher rund 41 Prozent ein, steht bei rund 52 Euro. Obwohl weiterhin für 2022 ein hoher Vorsteuergewinn von 500 bis 600 Millionen Euro erwartet wird, sackte der Kurs ab. Die DZ Bank fasst die Probleme wie folgt zusammen. Aurubis betreibe ein energieintensives Geschäft, verbrauche viel Gas und Strom. Deshalb würden die steigenden Energiepreise eine „gewisse Herausforderung“ darstellen. Hinzu kämen die Risiken durch die Inflation und sich eintrübende Konjunkturaussichten. Die aktuellen Analysten-Kursziele schwanken zwischen 75 und 110 Euro.
Jungheinrich warnt vor Einschränkungen
Jungheinrich-Papiere verloren seit Januar 54 Prozent an Wert auf knapp 21 Euro. Dabei hatte der Gabelstaplerbauer jüngst sogar seine Prognose für den Jahresgewinn leicht angehoben. Allerdings dürften Aktionäre ein wenig nervös geworden sein, als das Unternehmen vor Kurzem nicht ausschloss, dass „eine Verknappung von Gas zu gravierenden Einschränkungen in der Produktion führen kann“. Die aktuellsten Einschätzungen der Analysten sind positiv. Baader (Kursziel: 34 Euro), Warburg (Kursziel: 41 Euro) und Berenberg (Kursziel: 38 Euro) empfehlen die Aktie als Kauf. Die jüngste Kursschwäche würde langfristig interessierten Investoren „gute Einstiegsmöglichkeiten“ bieten, heißt es von Warburg.
Schifffahrt:
Monatelang war Hapag-Lloyd der Überflieger unter den Hamburger Werten. Die Traditionsreederei profitierte von den gestiegenen Frachtraten in Folge der Corona-Krise. Nach dem Rekordergebnis im vergangenen Jahr wird 2022 ein neuer Höchstwert erwartet. Bis zu 18,2 Milliarden Euro sollen vor Steuern verdient werden. Die Aktie ist von ihrem Hoch im Mai (456,40 Euro) aber mehr als 60 Prozent entfernt. Für die Zukunft sind die Analysten skeptisch. „Verkaufen“ lautet die Einstufung von Goldman Sachs, das Kursziel wurde von 149 auf 130 Euro gesenkt.
Die Profitabilität im Logistiksektor dürfte im dritten Quartal ihren Höhepunkt erreicht haben, nun drohe ein mehrjähriger Abwärtszyklus und eine neue Normalität, die schlimmer sein könnte als vor Corona, so der Analyst. Man erinnere sich: Die Schifffahrt schipperte von einer Dauerkrise in die nächste, Überkapazitäten belasteten die Frachtraten. Im Vergleich zum dänischen Rivalen Maersk sei Hapag-Lloyd zudem überbewertet. Zu diesem Fazit kommt auch die US-Bank JPMorgan und sieht den fairen Wert statt bei 190 nun bei 155 Euro – „untergewichten“ lautet der Ratschlag.
Warnstreiks beeinflussten Betrieb der HHLA
Die Papiere der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) rutschten zuletzt deutlich ab. Seit Jahresanfang büßten sie fast die Hälfte ihres Wertes ein. Die Liste der belastenden Faktoren war und ist lang: Warnstreiks der Arbeiter lähmten den Betrieb, die geplante norddeutsche Hafenfusion platzte vorerst, der Einstieg von Cosco am Container-Terminal Tollerort droht am Veto der Bundesregierung zu scheitern – durch den Einstieg der Chinesen könnte langfristig ein gewisser Grundumschlag gesichert werden. Und der Krieg in der Ukraine trifft die HHLA direkt, weil sie in Odessa ein Terminal betreibt. Am Donnerstag erreichte die Aktie ein Zwölfmonatstief. Charttechnisch befindet sie sich sowohl lang-, mittel als auch kurzfristig im Abwärtstrend.
Erneuerbare Energie:
Dank der Klimadebatte sind die Aussichten für die Branche eigentlich hervorragend. Mit Nordex gehört aber auch ein Windturbinenbauer zu den Verlierern in diesem Jahr. Grund: Ende März war ein Hackerangriff bemerkt worden, der das Unternehmen tagelang lähmte. In der Folge musste die Vorlage des Quartalsberichts verschoben werden – das kam an der Börse nicht gut an. Seit Jahresanfang verlor die Aktie mehr als ein Drittel ihres Wertes auf rund 8,50 Euro. Das Analysehaus Jefferies empfiehlt dennoch „Kaufen“ mit Kursziel 13 Euro.
Mit dem Papier könne auf die Energiewende in Europa gesetzt werden, hieß es. Goldman Sachs bewertet das Papier mit „Neutral“ und sieht 12,70 Euro als realistisch an. Zu den Gewinnern gehört derweil Encavis. Der Wind- und Solarparkbetreiber legte 18 Prozent auf 18,63 Euro zu. Gute Perspektiven sieht die DZ Bank und rät „Kaufen“ bei der Aktie mit Kursziel 24 Euro. Die Wachstumsziele dürften übertroffen werden, meint Hauck & Aufhäuser, ruft 30 Euro als Ziel auf und empfiehlt ebenso „Kaufen“ wie die Berenberg Bank, die den fairen Wert bei 21,50 Euro sieht.
PNE AG verdoppelte Kurs
Kurs verdoppelt auf 17,56 Euro – das schaffte die PNE AG. Der Windpark-Projektierer aus Cuxhaven – vormals Plambeck Neue Energien – sei ein Profiteur des Energiewandels und steigender Stromnachfrage, so das Bankhaus Metzler. Der Analyst sieht Überraschungspotenzial für die Ergebnisentwicklung und steigt in die Bewertung mit „Kaufen“ und Ziel 24,50 Euro ein. Nach der Kursrallye rät die Baader Bank hingegen: „Reduzieren“. 14,50 Euro sei ein fairer Wert.
Gesamtausblick:
Für die Hamburger Sparkasse hängt die weitere Entwicklung an der Börse vor allem vom Verhalten der EZB ab. Haspa-Chefvolkswirt Jochen Intelmann erwartet, dass die Notenbanker Ende Oktober die Leitzinsen von derzeit 1,25 Prozent noch einmal um 75 Basispunkte erhöhen werden. Auch für Dezember und Februar erwartet er kräftige Steigerungen um nochmals jeweils 50 Basispunkte.
Die Europäer folgen damit dem Kurs, den die US-Notenbank Fed schon deutlich früher eingeschlagen hat. Der Grund dafür sind die stark steigenden Preise. „Die Notenbanken legen ein ganz anderes Tempo vor bei der Inflationsbekämpfung als in früheren Jahren – aber das ist auch angemessen“, sagt Intelmann. Schließlich sind die Preissteigerungsraten so hoch wie vor einigen Jahrzehnten.
Schwierige Zeiten für die Börse
Mit der Rückkehr der Zinsen sind parallel dazu die Renditen für Bundesanleihen deutlich nach oben gegangen. Von rund 0,7 Prozent für ein zehnjähriges Papier Anfang August stieg die Rendite auf derzeit rund 2,25 Prozent. „Aktien haben jahrelang davon gelebt, dass es im festverzinslichen Bereich keine Konkurrenz gab“, sagt Intelmann. Der Anleihenmarkt wird wieder attraktiver. In den USA seien in Bezug auf die erwartete Inflation sogar schon wieder positive Renditen erzielbar.
Für die Börse können daher schwierige Zeiten bevorstehen. Zumal die deutsche Wirtschaft 2023 wahrscheinlich in eine Rezession rutsche. Die Haspa rechnet mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukt um zwei Prozent. Im Gegensatz zu früheren Rezessionen erwartet Intelmann zwar keinen kräftigen Anstieg der Arbeitslosigkeit, weil die Firmen wegen des Fachkräftemangels ihr Personal halten wollen.
Finanzen: Menschen schränken ihren Konsum ein
Aber der private Konsum dürfte als Stütze wegfallen, weil die Menschen wegen stark gestiegener Energiepreise und deshalb möglicher Nachzahlungen ihr Geld zusammenhalten werden. Das dürfte sich zumindest für einen Teil der Firmen negativ auf ihre Gewinnsituation auswirken – und damit letztlich auf die Aktienkurse.
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Perspektivisch senkte die Haspa die Renditeerwartung für den DAX von den bislang im langfristigen Vergleich erzielten rund acht auf fünf Prozent. Die DAX-Prognose werde derzeit überarbeitet, sagt Intelmann. Aber eins ist für ihn klar: „Die Aktienmärkte wurden viele, viele Jahre durch eine extreme expansive Geldpolitik angefeuert. Das ist vorbei.“