Hamburg. Die Rechtspopulisten sind in Europa auf dem Vormarsch – damit könnte Putins Kalkül aufgehen: Er will den Kontinent spalten.

Wäre der Kurs des Euro eine Fieberkurve, der Kontinent wäre ein Fall für den Notarzt. Die Gemeinschaftswährung hat seit Beginn des vergangenen Jahres mehr als 20 Prozent verloren und fiel zwischenzeitlich unter die magische Marke von einem Dollar. Dafür ist nicht nur der Ukraine-Krieg verantwortlich, sondern auch die Sorge um die Konjunktur auf dem Kontinent und das Zögern der Europä­ischen Zentralbank.

Das Misstrauen gegenüber Europa hat aber auch damit zu tun, dass die vermeintliche Geschlossenheit im Kampf gegen Putins Aggression in den kommenden Wochen leiden könnte. Denn es stehen Wahlen an, welche die Architektur des Kontinents erschüttern könnten.

Zukunft Europas: Mehrere Wahlen stehen an

Gleich in mehreren Ländern haben die Bürger das Wort – und man ahnt, dass der alte Geheimdienststratege Wladimir Putin genau damit kalkuliert. Im Onlinedienst Telegram meldete sich vor einigen Tagen sein Vertrauter Dmitri Medwedew zu Wort, der frühere Ministerpräsident und heutige Vizevorsitzende des russischen Sicherheitsrats. Er ließ in aller Offenheit wissen: „Wir wünschen uns, dass die europäischen Bürger sich an den Wahlurnen nicht nur ihre Unzufriedenheit mit den Taten ihrer Regierungen zum Ausdruck bringen, sondern sie auch für ihre offensichtliche Dummheit bestrafen.“

Und weiter: „Handelt also, europä­ische Nachbarn! Bleibt nicht stumm! Verlangt Rechenschaft!“, forderte Medwedew. Schon Ende Juli fiel er ebenfalls auf Telegram als Außenpolitiker der etwas anderen Art auf: Nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Mario Draghi postete er dessen Foto und ein Bild des zuvor zurückgetretenen britischen Premiers Boris Johnson und stellte die Frage: „Wer ist der Nächste?“

Zukunft Europas: Mehrere Krisen treffen aufeinander

Ja, wer ist der Nächste? Klar ist, in Europa mischt sich ein toxisches Krisen­gemisch. Da ist zunächst einmal die Inflation. Sie dürfte nach Schätzungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in diesem Jahr auf 8,1 Prozent klettern und auch im kommenden Jahr mit 7,2 Prozent Welten über den gewohnten Niveaus liegen. In Deutschland sind die Zahlen mit acht beziehungsweise 8,7 Prozent noch schlechter.

Die Experten des Leibniz-In­stituts für Wirtschaftsforschung erwarten im kommenden Jahr hierzulande sogar Inflationsraten von 9,5 Prozent. Schlimmer noch: Die steigenden Preise werden die Menschen nicht über höhere Einkommen ausgleichen können. Für die Bundesrepublik erwarten die Volkswirte ein Minus der real verfügbaren Einkommen um 4,1 Prozent – ein Rückgang „so stark wie noch nie im wiedervereinigten Deutschland, sagt Stefan Kooths, Vizepräsident und Konjunkturchef des IfW Kiel.

Deutschland wird ärmer, weil Milliarden für teure Energie ins Ausland fließen: 2022 sind es 123 Milliarden Euro, im kommenden Jahr sogar 135 Milliarden – pro Kopf also 3000 Euro. „Mit den hohen Importpreisen für Energie rollt eine konjunkturelle Lawine auf Deutschland zu. Vor allem energieintensive Produktionen und konsumnahe Wirtschaftsbereiche werden mit Wucht getroffen“, kommentiert Stefan Kooths.

Energiekrise: Demonstrationen in Prag

In diesen Zahlen steckt Sprengstoff. Die Gelbwesten-Proteste in Frankreich entzündeten sich im Herbst 2018 an dem Plan der Regierung unter Emmanuel Macron, die Treibstoffpreise um läppische 7 Cent für Diesel beziehungsweise drei Prozent für Benzin anzuheben. Nun gärt es in vielen europäischen Städten, in Prag demonstrieren bereits Zehntausende gegen die gestiegenen Energiepreise.

In Polen geht die Angst um, dass die Kohle ausbleibt. Dabei sind viele Kosten noch gar nicht bei den Endverbrauchern angekommen: Auch in der Bundesrepublik, traditionell durch den Sozialstaat stabilisiert, fürchten viele einen „Wut-Winter“. Offenbar sind radikale Linke und radikale Rechte auch bereit, Seit‘ an Seit‘ zu marschieren.

Wirtschaftskrise in Deutschland: Drohende Rezession

Zu den Kaufkraftverlusten summiert sich ein weiteres Problem. Der Euroraum driftet in den kommenden Quartalen in eine Rezession. Das BIP dürfte 2022 nur um 2,8 Prozent zulegen und 2023 nahezu stagnieren, 2024 dann minimal um 1,6 Prozent wachsen. Deutlich schlechter sind die Zahlen für die industriegeprägte und weltmarktabhängige Bundesrepu­blik: Im laufenden Jahr steht dank des Aufschwungs zu Jahresbeginn ein Plus von 1,4 Prozent.

Für das nächste Jahr revidiert das IfW Kiel seine Prognose um vier Prozentpunkte nach unten – statt eines kräftigen Plus hat die deutsche Wirtschaft ein Minus von 0,7 Prozent zu erwarten. „Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einem Abwärtssog“, so Stefan Kooths. Deutschland, die Zugmaschine des vergangenen Jahrzehnts in Europa, hat einen Motorschaden. Eine schwächelnde Bundesrepublik wird in Europa als Krisen­löser ausfallen.

Rezession in Europa: Zinserhöhung kam zu spät

Zumal auch von der Zentralbank Ungemach droht. Die Zinserhöhung um 75 Basispunkte am Donnerstag kam viel zu spät – und trifft nun eine Konjunktur, die bereits in die Rezession rutscht. Zudem erschweren die Zinserhöhungen die Refinanzierung der südeuropäischen Schuldenstaaten. Die Notenbanker befinden sich in einem Dilemma.

Zwar haben Italien, Griechenland oder Spanien Fortschritte gemacht – mittelfristig aber drohen neue Verwerfungen. Schon jetzt beginnt der Zinsaufschlag der italienischen Staatsanleihen zu steigen – es ist ein Krisencocktail, ganz nach dem Geschmack von Wladimir Putin. Und welch bittere Ironie: Ausgerechnet der Despot aus Moskau setzt auf die Wut in den Demokratien. Er will die Stärke des Westens in eine Schwäche verwandeln.

Zukunft Europas: Wahlen in Schweden am Sonntag

Den europäischen Wahlreigen eröffneten am Sonntag die Schweden. Dort sind die rechtspopulistischen Schwedendemokraten zweitstärkste Partei hinter den Sozialdemokraten geworden. Die einst offen fremdenfeindliche Partei präsentierte sich etwas gemäßigter und hat damit die größte konservative Kraft (Moderaterna) noch überholt. Anders als noch bei der Reichstagswahl 2018 könnten sich die bürger­lichen Kräfte eine Zusammenarbeit mit den Rechten vorstellen. Es könnte für den Machtwechsel reichen.

Immerhin: Anders als in vielen ost- und südeuropäischen Land hat Putin hier das Wahlvolk nicht spalten können. Weder die radikalen Rechten noch die radikalen Linken bringen Verständnis für Putins Feldzug auf; mit großer Einigkeit strebt Schweden nun in die Nato, ein Schritt, der ohne den russischen Überfall auf die Ukraine undenkbar gewesen wäre.

Schweden: Unterstützung für Ukraine ist groß

„Es gibt totale Unterstützung für die Ukraine in der politischen Debatte in Schweden“, sagt der Stockholmer Außenpolitik-Experte Patrik Oksanen. Niemand rüttelt an den Sanktionen. „Die Schwedendemokraten haben verstanden, dass es nicht gut ankommt, prorussisch zu sein.“ Die Schweden können es sich leisten. Sie sind weniger auf russisches Gas angewiesen und profitieren von einer Stromversorgung, die traditionell stark auf Wasser- und Kernkraft setzt.

Die auch hier gestiegenen Strompreise in Folge der Preis­explosion in Deutschland waren Thema im Wahlkampf – allerdings nicht das Topthema. Der Erfolg der Schwedendemokraten ist eher Ergebnis der gescheiterten Integrationspolitik.

Zukunft Europas: Bulgarien wählt Anfang Oktober

Schweden ist ein eher untypisches Beispiel, was dem Kontinent droht. Die Einigkeit, die in Skandinavien und dem Baltikum herrscht, ist anderswo dahin. Gerade in mittel- und osteuropäischen Staaten liegen die Nerven blank. In Bulgarien wird Anfang Oktober gewählt. Hier ist die Ausgangslage komplett anders: Das Armenhaus Europas ist in besonderem Maße von russischen Gaslieferungen abhängig, 90 Prozent kamen aus Putins Reich.

Nach dem Überfall auf die Ukraine hatte die Regierung um Kril Petkow im Konsens mit den EU-Partnern reagiert und angekündigt, über das Jahresende hinaus kein Gas mehr importieren zu wollen. Stattdessen wollte Sofia Gas über eine Pipeline aus Griechenland und Aserbaidschan beziehen. Zugleich hoffte man auf billiges Flüssiggas aus Amerika.

Russland stoppte Gaslieferungen nach Polen und Bulgarien

Doch der Kurs hielt nicht lang. An Polen und Bulgarien statuierte Putin das erste Exempel: Am 27. April stellte der russische Staatskonzern Gazprom seine Lieferungen ein, offiziell, weil sich die bulgarische Bulgargaz weigerte, die Rechnungen in Rubel zu bezahlen. Es war die Ouvertüre zu seinem Energiekrieg. Die Reformregierung scheiterte im Sommer – nun haben russlandfreundliche Politiker das Sagen.

Ihre Botschaft: Gasimporte sind unvermeidlich, man schaffe es sonst nicht über den Winter. Am 2. Oktober werden die Wähler entscheiden, ob eine prowestliche oder eine prorussische Regierung das Heft des Handelns in die Hand nimmt.

Zukunft Europas: Mehrheit in Bulgarien lehnt Nato-Beitritt ab

In Umfragen liegen die rechten und russlandfreundlichen Parteien vorne. Für Europa und die Kommission wäre das ein Albtraum. Bulgarien ist nicht nur ein wichtiger Brückenkopf für die Gasversorgung, sondern könnte auch zusammen mit Ungarn eine putinfreundliche Achse bilden. „Es hätte massive Folgen für Europa, wenn die nächste Regierung die Bemühungen von Petkow zunichtemacht und Bulgarien wieder unter den Einfluss von Gazprom bringt“, sagt Bulgarien-Experte Jakub Bielamowicz, Analyst beim Institut of New Europe, der „Welt“.

Der Ukraine-Krieg hat das Land polarisiert – mit ungewissem Ausgang. Heute lehnt eine knappe Mehrheit den Nato-Beitritt ab, aufgrund der Geschichte und der kulturellen Ähnlichkeiten nehmen viele Bulgaren Russland nicht als Bedrohung wahr. Zusätzlich Öl ins Feuer gießt die allgegenwärtige russische Propaganda in den sozialen Netzwerken. Gut möglich, dass mit Bulgarien ein Stein aus der europäischen Wand herausfällt.

Zukunft Europas: Salvini ist treuer Gefährte von Putin

Angespannt ist die Lage in Italien: Hier wird am 25. September ein neues Parlament gewählt. Die Lega Nord macht bereits Stimmung gegen die EU-Sanktionen gegen Russland. Ihr Spitzenkandidat Matteo Salvini betont, dass seit Beginn der Sanktionen gegen Russland bald sieben Monate vergangen seien und die Menschen nun ihre „Rechnungen doppelt und vierfach zahlen“. Im Gegensatz dazu würden sich „Russlands Kassen mit Geld füllen“.

Es sei „wichtig, die Strategie zu überdenken und Arbeitsplätze in Italien zu sichern“. Salvini steht seit Jahren treu an Putins Seite: 2017 unterzeichnete er ein Abkommen mit Moskau, mehrfach erklärte er, den Herrscher in Moskau zu bewundern, und streifte sogar T-Shirts mit dem Konterfei Putins über. Ein italienischer Rechtsruck hätte für Europa tiefgreifende Folgen – er würde das Vertrauen in die Kraft der Europäischen Idee weiter unterhöhlen. Die Lega darf zusammen mit den Postfaschisten und der ebenfalls traditionell russlandfreundlichen Forza Italia von Silvio Berlusconi auf die absolute Mehrheit hoffen.

Wahlen in Italien: Neofaschistin Meloni auf Seite der Ukraine

Allerdings ist das rechte Lager uneins. Die aussichtsreiche Chefin der Neo­faschisten, Giorgia Meloni, zeigte sich im Wahlkampf noch an der Seite der Ukra­ine. Wenn Italien „seine Verbündeten im Stich lässt“, würde sich „für die Ukraine nichts verändern, für uns aber sehr viel“, sagte sie. Die Linke ist trotzdem alarmiert: „Das würde unsere EU-Gründungswerte Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weiter untergraben, und es würde die Einheit und Solidarität schwächen, die wir angesichts der Aggression Putins und seiner nationalistischen Agenda so dringend brauchen“, warnte Iratxe García, Vorsitzende der Sozialisten und Demokraten im EU-Parlament.

Die italienische Politikerin Giorgia Meloni eröffnet am 23.08.2022 ihren Wahlrkampf in Ancona in Italien.
Die italienische Politikerin Giorgia Meloni eröffnet am 23.08.2022 ihren Wahlrkampf in Ancona in Italien. © Gabriele Moroni/LaPresse via ZUMA Press/ picture alliance

Dabei hat sich die italienische Regierung nach Putins Überfall schnell aus der russischen Falle gelöst: Mit einem Anteil von rund 38 Prozent war die italienische Volkswirtschaft stark von Putins Energie abhängig. Schon im April schloss Italien ein Abkommen mit Algerien, um mehr Gas aus Afrika zu beziehen.

Zukunft Europas: Komission habe versäumt, zu handeln

Die Italiener haben geschafft, was sich viele von der EU-Kommission gewünscht hatten. Nun rächt sich, dass die Kommission in den vergangenen Monaten keine sonderlich gute Figur gemacht hat. Der CSU-Parlamentarier Markus Ferber kritisiert, es sei jetzt ein halbes Jahr Zeit gewesen, als EU gemeinsam neue Gaslieferverträge mit Drittstaaten abzuschließen. „Hier hat die Kommission eindeutig geschlafen.“ Deutlich aktiver war die Kommission beim Schnüren von immer neuen Sanktionspaketen.

Auch wenn die Bewertung des türkischen Ministerpräsidenten falsch ist, trifft ein Vorwurf Brüssel. „Die Preise in Europa sind plötzlich angestiegen. Jetzt denken alle angestrengt darüber nach, wie sie diesen Winter überwinden sollen“, sagte Erdogan. Wieso habt ihr euch das nicht früher überlegt?“

Zukunft Europas: Siegen im Ernstfall nationale Interessen?

Zudem zeichnet sich schon jetzt ab, dass im Falle eines Gasmangels noch hässlicher Streit droht – auf die europäische Solidarität, man erinnere nur an den Streit um Masken und Impfstoff, sollte man sich nicht verlassen. Wenn es eng wird, dürften nationale Interessen entscheiden.

Nach Informationen der „Welt“ wollen beispielsweise Belgien, Luxemburg, die Niederlande und Polen – auch aus Protest gegen die deutsche Atompolitik – mit der Bundesrepublik keine Abkommen über gegenseitige Gaslieferungen in Mangel­lagen abschließen. Entsprechende Vereinbarungen existieren bisher nur mit Dänemark und Österreich.

Vor Europa liegt ein harter Winter.