Hamburg. Deutsche Werte sind von der Kurskorrektur besonders betroffen. Angesichts steigender Zinsen dürfte sich daran vorerst nichts ändern.

Wer gehofft hat, an den Börsen sei das Schlimmste überstanden, der wird in diesen Tagen eines Besseren belehrt. Die Gewinne vom Monatsbeginn waren keine Trendwende, sondern nur eine Bullenfalle – mit den finsteren Inflationsdaten aus den Vereinigten Staaten drehten die Märkte in der vergangenen Woche kräftig ins Minus. Und schlimmer noch: Zwei Unternehmen zeigten, wie viel übertriebene Fantasie weiterhin in vielen Kursen steckt.

Nach einer Gewinnwarnung verlor der Jungheinrich-Konkurrent Kion mehr als ein Viertel seines Wertes und notiert rund 80 Prozent unter seinem Hoch Ende 2021; der vermeintliche Hamburger Börsenstar About You, erst vor einem Jahr zu 23 Euro an die Börse gebracht, rutschte zuletzt um weitere 20 Prozent ab und ist nicht einmal mehr ein Viertel seines Ausgabepreises wert.

Kursverluste von 75 Prozent und mehr erinnern an den Neuen Markt. Und sie erinnern an den schlimmsten Bärenmarkt dieses Jahrtausends, der von 2000 bis 2003 währte. Damals verlor der Deutsche Aktienindex, zuvor bis über 8000 Punkte gestiegen, binnen drei Jahren zwei Drittel seines Wertes. Es dauerte vier Jahre, bis die 8000er-Marke wieder erreicht wurde. Übertragen wir diese Zahlen auf heute bedeutete das ein Abstieg des Dax auf 5300 Punkte – und eine Rückkehr zu alten Hochs, die bis 2028 auf sich warten lässt.

Börse: Argumente sprechen für eine lange Schwäche

Wiederholt sich die Geschichte? Leider sprechen viele Argumente eher für eine lange Durststrecke und nur wenige für eine rasche Wiederauferstehung. Allen voran ein Argument macht Hoffnungen auf eine schnelle Rückkehr der Hausse zunichte. Die Inflation ist gekommen, um zu bleiben. Die Zinserhöhungen der Notenbanken weltweit waren erst der Anfang, nicht das Ende. Und die oft gehörte Selbstbeschwörung, die Preissteigerungen seien ein vorübergehendes Phänomen, war nur ein Pfeifen im Walde.

Was als Reaktion auf gestörte Lieferketten und die Pandemie begann, hat sich mit dem Krieg in der der Ukraine endgültig in den Volkswirtschaften festgesetzt. Die Inflation zwingt die Währungshüter zu reagieren. Ende Juli zog die US-Notenbank Fed die Zinssätze um 75 Basispunkte an, am Mittwoch dürfte die nächste Zinserhöhung folgen – wahrscheinlich um 75, möglicherweise gar um 100 Basispunkte.

Inflation wohl ein bleibender Trend

Inzwischen hat auch die lange zögerliche Europäische Zentralbank ihren Leitzins um 0,75 Prozentpunkte auf 1,25 Prozent angehoben. Zinserhöhungen sind doppeltes Gift für Aktien – sie machen andere Investments lukrativer und schmälern gerade der Wert junger Wachstumsunternehmen. Sie torpedieren zudem die Gewinnseite, weil die Zinsen die Konjunktur ausbremsen. Und weniger Gewinn drückt die Kurse. „Drei von vier Zinserhöhungszyklen endeten in den USA in einer Rezession. Die Angst vor einem Schrumpfen der US-Wirtschaft dürfte zunehmen“, sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. „Das Umfeld für Aktien bleibt bis auf Weiteres schwierig.“

Die Inflation dürfte trotz der Zinserhöhungen ein bleibender Trend der kommenden Jahre sein – mehr als ein Vierteljahrhundert profitierten Welt und Finanzwelt von einem Goldlöckchen-Szenario: Das Internet mit seiner Preistransparenz und die wachsende Arbeitsteilung durch die Globalisierung bremsten die Preise. Nun droht die große Renationalisierung und Deglobalisierung – das Chaos bei den Lieferketten holt die Produktionen zurück in die Industriestaaten. Für Analystin Tiffany Wilding von der Allianz-Tochter Pimco sind die niedrigen Inflationsraten vorerst Geschichte: „Die letzten zwanzig Jahre der großen Mäßigung liegen nun hinter uns“, sagt die Ökonomin.

Experten erwarten einen Wirbelsturm

Hinzu kommt, dass der Krieg in der Ukraine die Energie- und Rohstoffpreise derartig in die Höhe getrieben hat, dass auch bei einer Entspannung der Lage die alten Öl- und Gaspreise kaum wieder erreicht werden. Gerade die deutsche Industrie, die viele Jahre gut vom billigem russischen Gas lebte, muss sich nun neu orientieren. Und völlig fraglich ist, ob und wann das Inflationsziel der Notenbanker von rund zwei Prozent wieder in greifbare Nähe rückt.

In den USA erschreckte schon im Juni der Chef des Finanzriesen JP Morgan Chase die Finanzmärkte. „Dieser Wirbelsturm ist da draußen und kommt auf uns zu“, sagt Jamie Dimon. „Machen Sie sich auf etwas gefasst!“ Allerdings darf man eines nicht vergessen: In schlechten Zeiten haben Weltuntergangspropheten Hochkonjunktur.

„Die Zutaten der 1970er Jahre sind bereits vorhanden“

Der renommierte Historiker Niall Ferguson, dessen aktuelles Buch passenderweise „Doom: Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft“ heißt, rechnet mit einer langen Durststrecke für Anleger. Er erinnert an die Siebzigerjahre mit ihren Umbrüchen, sozialen Unruhen und geopolitische Verwerfungen: „Die Zutaten der 1970er Jahre sind bereits vorhanden“, sagt er nun. Auch der Auslöser der aktuellen Inflation erinnere an die Preisschocks vor rund 50 Jahren. Damals verursachte der Jom-Kippur-Krieg zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten die Ölkrise, nun war es der Überfall Russlands auf die Ukraine.

Der Unterschied: Während der Jom-Kippur-Krieg nach weniger als drei Wochen entschieden war, währt der Krieg im Osten Europas schon sieben Monate. „Warum sollte es nicht so schlimm sein wie in den 1970er-Jahren?“ fragt Ferguson. „Lassen Sie uns die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die 2020er tatsächlich schlimmer sein könnten als die 1970er.“ Seine Skepsis beruht auf ökonomischen Rahmendaten, die deutlich schlechter sind als die vor einem halben Jahrhundert: Die Staaten sind viel höher verschuldet, die Produktivität wächst langsamer und die Länder sind aufgrund des demografischen Wandels weniger innovativ.

Energierohstoffe werden knapper und teurer

Skeptisch ist auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft. „Deutschland stehen magere Jahre bevor. Die Alterung der Gesellschaft drückt die Wachstumsaussichten empfindlich, weil künftig weniger Menschen arbeiten werden“, warnt der Konjunkturchef und Vizepräsident des IfW Kiel, Stefan Kooths. „Hinzu kommen nun infolge des Krieges in der Ukraine knapper und teurer gewordene Energierohstoffe, die in vielen Produktionsprozessen eine wichtige Rolle spielen. Dies schmälert Deutschlands Wirtschaftskraft obendrein“.

Er sieht in den kommenden Jahren deutlich niedrigere Wachstumsraten: Bei einer normalen Auslastung der Produktionskapazitäten dürfte die mögliche Zunahme der Wirtschaftsleistung bis Ende 2027 nur noch knapp 0,7 Prozent betragen – bis zur Corona-Krise waren es mit 1,3 Prozent doppelt so viel. Aufgrund der Alterung dürfte sich der Fachkräftemangel verschärfen.

Deutsche Werte sackten um 20 Prozent ab

Deutschland ist derzeit bei den Anlagestrategen nicht en vogue. Seit Jahresbeginn hat der Deutsche Aktienindex mehr verloren als seine Pendants. So sackten die Aktien hierzulande um mehr als 20 Prozent ab; der Dow verlor 15, der japanische Nikkei knapp fünf und der britische FTSE-100 sogar nur zwei Prozent. Eine Rolle spielt auch, dass Hedge-Fonds massiv gegen deutsche Titel wetten. Ray Dalio von Bridgewater setzt aktuell bei gleich sieben Dax-Titeln mit einem Short-Anteil von mehr als 0,5 Prozent der Aktien auf sinkende Kurse. Bei manchen Titeln wie Hello Fresh liegen sogar rund fünf Prozent bei Shortsellern.

Je tiefer die Kurse fallen, desto größer wird ihr Gewinn. Abwärtspotenzial gibt es weltweit: Die Staatsschuldenkrise ist nicht gelöst, der Konflikt zwischen China und den USA könnte sich zuspitzen, zudem drückt die hirnrissige Zero-Covid-Strategie in China die Wachstumsrate auf kümmerliche Werte, zuletzt lagen die Erwartungen bei 3,5 Prozent. Selbst diese Daten könnten geschönt sein: Ohnehin ziehen über dem Reich der Mitte dunkle Wolken zusammen – die Immobilienkrise ist nicht gelöst, zudem könnten soziale Unruhen drohen, da das alte Wohlstandsversprechen plötzlich brüchig wird. Bis zu 20 Prozent der Jugendlichen sind ohne Arbeit.

Die Märkte wirken überverkauft

Was aber macht Hoffnungen? Eine Befreiung aus dem Bärenmarkt brächte wohl nur ein Waffenstillstand oder ein Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine – beides würde einerseits die Inflation drücken und gerade deutsche Werte massiv befördern. Leider ist dieses Szenario unwahrscheinlich. Zudem darf man mittelfristig darauf hoffen, dass die Krise die Politik und das Land zum Umdenken bewegt und die Wirtschaft neuerlich entfesselt – so wie es Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 gelang. Politik aber reagiert wie ein Tanker. Bis ein Umsteuern sichtbar wird, dürfte die Fahrt vorerst weiter in die falsche Richtung gehen.

Ein dritter Hoffnungsschimmer ist technischer Natur – die Märkte wirken überverkauft. Viele schlechte Nachrichten sind längst eingepreist, gute Neuigkeiten könnten eine kräftige Gegenbewegung auslösen. Aber eine solche Erholung bewegt sich auf dünnem Eis. Auch der vielzitierte Anlagenotstand ist Geschichte. Viele Menschen werden in andere, sichere Assets fliehen, etwa Anleihen. Und wieder andere werden weniger Geld haben, da die Mehraufwendungen für Energie dem Land dreistellige Milliardensummen zusätzlich entziehen.

Aktien: Aufs Ausland blicken ist eine Option

So spricht manches dafür, dass es erst einmal schlimmer wird, bevor es besser wird. Und dass Deutschland in den nächsten Jahren nicht zu den Staaten gehört, die für Anleger sonderlich interessant sind. Wer auf Aktien setzt, sollte vermehrt ins (außereuropäische) Ausland blicken. Und auf defensive Werte setzen, wie Pharmakonzerne. Die Zeit zweistelliger Renditen dürfte vorerst vorbei sein.