Hamburg. Warum Sönke Fock trotz gestiegener Arbeitslosenzahl und aktueller Krisen vorerst optimistisch ist, was die Lage am Arbeitsmarkt angeht.

Seit zwei Monaten steigt die Zahl der Arbeitslosen in Hamburg wieder, sie liegt aktuell bei rund 77.000. Auch mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukra­ine, steigende Inflationsraten und der schwierigen Energieversorgung sorgt diese Entwicklung für Verunsicherung. Handelt es sich um eine Sommerdelle oder eine Trendumkehr am Arbeitsmarkt? Das Abendblatt sprach mit Sönke Fock, dem Chef der Arbeitsagentur Hamburg, über die Perspektiven im zweiten Halbjahr, Langzeitarbeitslose, ukrainische Flüchtlinge und die Lehrstellensituation.

Hamburger Abendblatt: Manche Betriebe schränken die Produktion wegen hoher Energiekosten ein. Macht sich das bei der Arbeitsagentur bereits bemerkbar?

Sönke Fock: Wir registrieren keine Zunahme des Kurzarbeitergeldes oder gar des Insolvenzgeldes. Wir wissen zwar von den Problemen aus gestörten Lieferketten, aber in unserer Statistik zeigt sich das nicht. Im Gegenteil. Die Kurzarbeit geht seit dem Corona-Höhepunkt kontinuierlich zurück.

Aber der Hamburger Arbeitsmarkt verliert an Dynamik?

Fock: Nein, da möchte ich widersprechen. Aus dem leichten Anstieg der Arbeitslosigkeit in den letzten zwei Monaten auf knapp 77.000 Jobsuchende kann man das nicht ableiten. Richtig ist, dass wir im Mai noch weniger als 70.000 Arbeitslose hatten und damit wieder nah am Vor-Corona-Niveau waren. Aber für den Anstieg jetzt sind spezielle Faktoren verantwortlich, die nichts mit der Dynamik des Arbeitsmarktes zu tun haben. Insgesamt ist die Arbeitslosigkeit im Frühjahr deutlich stärker gesunken als im Vor-Corona-Jahr 2019.

Was sind die Gründe für den Anstieg in den vergangenen Monaten?

Fock: In den Sommermonaten gibt es konjunkturunabhängig immer einen leichten Anstieg der Arbeitslosigkeit, weil Ausgelernte nicht überall übernommen werden und Neueinstellungen wegen der Ferienzeit auf Sparflamme laufen. Dazu kommen die ukrainischen Kriegsflüchtlinge, die jetzt Leistungen und Integrationsangebote über das Jobcenter erhalten und folglich auch in der Statistik auftauchen. Im Juni waren es 3000, im Juli 5000 und auch im August werden weitere Ukrainerinnen hinzukommen.

Wie lange wird es dauern, bis die Ukrainerinnen Jobs finden?

Fock: Mit rund 14.000 offenen Stellen ist der Hamburger Arbeitsmarkt gut aufnahmefähig. Die Sprachförderung läuft auf hohem Niveau, denn für viele Tätigkeiten wie im Dienstleistungssektor wird es ohne ausreichende deutsche Sprachkenntnisse schwierig. Außerdem müssen auch noch vorhandene Qualifizierungen anerkannt werden. Die Ukrainerinnen zeigen eine hohe Arbeitsbereitschaft, weil sie auch Geld in die Heimat schicken wollen. Einige werden noch im Verlauf des Jahres eine Beschäftigung finden. Auf Sicht eines Jahres sehe ich sehr gute Perspektiven für einen Großteil der Ukrainerinnen.

Wie vielen Arbeitslosen konnte die Agentur im ersten Halbjahr eine Stelle vermitteln?

Fock: Wir können das nicht messen. Denn wenn wir Arbeitslosen Stellenangebote zusenden und diese sich später aus der Arbeitslosigkeit abmelden, werden uns die Gründe dafür nicht mitgeteilt. So kann ein ganz anderer Job oder eine Firma dahinterstehen, denkbar ist auch, dass die alte Firma wieder angeklopft hat. Was wir kennen ist die Zahl derer, die sich Monat für Monat aus der Arbeitslosigkeit abmelden. Von Januar bis Juli waren das 34.765 Hamburger, zwölf Prozent weniger als vor einem Jahr, aber immerhin 2600 mehr als im selben Zeitraum 2020.

Wie sind die Perspektiven des Hamburger Arbeitsmarktes im zweiten Halbjahr?

Fock: Der Hamburger Arbeitsmarkt wird sich auch im zweiten Halbjahr als robust erweisen. Ich rechne damit, dass wir bei den Arbeitslosen unter 80.000 bleiben. Zwar ist nach allen Prognosen mit einem Rückgang der wirtschaftlichen Leistung zu rechnen. Aber der Arbeitsmarkt reagiert mit einer Verzögerung von sechs bis zwölf Monaten auf eine solche Entwicklung. Denn auch wenn Aufträge ausbleiben, reagieren die Unternehmen nicht gleich mit Entlassungen, da sie ihre Fachkräfte halten wollen und damit sehr gut beraten sind. Im Moment deutet bei unseren Frühindikatoren wie offene Stellen, Kurzarbeit oder Zeitarbeit nichts auf eine Verschlechterung der Lage hin.

Wie hat sich die Lage bei den Langzeitarbeitslosen entwickelt?

Fock: Die Arbeitslosen, die länger als ein Jahr ohne Beschäftigung sind, hatten es deutlich schwerer nach dem Abklingen der Corona-Pandemie wieder in Beschäftigung zu finden. In Krisen fallen die Stellen für Un- und Angelernte zuerst weg. Aber zeitverzögert zeigt sich auch hier eine Erholung. Noch vor einem Jahr im Juli 2021 hatten wir 29.000 Langzeitarbeitslose, jetzt sind es 24.000. Die Langzeitarbeits­losigkeit betrifft knapp ein Drittel aller Arbeitslosen in Hamburg.

Wie hat der Hamburger Arbeitsmarkt die Corona-Pandemie verkraftet?

Fock: Die Kurzarbeit war der entscheidende Schlüssel, um die heftigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie abzufedern. Der Schock war groß und brachte die Arbeitslosigkeit in Hamburg auf mehr als 90.000 im Juli 2020. Von da an gab es aber einen kontinuierlichen Rückgang. Geholfen hat auch, dass nicht alle Branchen gleich hart eingeschränkt wurden. Die Kurzarbeit mit erhöhten Leistungssätzen auch für die Beschäftigten sowie die Übernahme des Arbeitgeberanteils zur Sozialversicherung hat rund 100.000 Arbeitsplätze in Hamburg gerettet.

Läuft die Beratung in der Arbeitsagentur wieder von Angesicht zu Angesicht?

Fock: Ja, wir praktizieren wieder die persönliche Beratung. Gerade bei der Erstberatung ist das wichtig, weil man so einen ganz anderen Eindruck voneinander bekommt, als wenn die Gespräche über Telefon oder Video erfolgen. In der Pandemie ging es aber besonders um die wechselseitigen Gesundheitsaspekte der Kunden und der Mitarbeiter. Wäre ein großer Teil unserer Mitarbeiter erkrankt, hätten wir den Ansturm auf das Kurzarbeitergeld nicht bewältigen können.

Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten bleibt trotz aller Krisen stabil bei einer Million. Woran liegt das?

Fock: In der Tat wurde die eine Million nur einmal im Juli 2020, also auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie, unterschritten. Seitdem liegt die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Hamburg wieder konstant bei über einer Million. Innerhalb von zwölf Monaten sind 26.800 neue Stellen in Hamburg entstanden. Mit einem Plus von 2,7 Prozent liegt der Zuwachs über dem Bundesdurchschnitt. Die Stabilität hängt vor allem mit dem Branchenmix in Hamburg zusammen, der Krisen besser abfedert. Zudem ist Hamburg ein hipper Arbeitsort, der viele Arbeitnehmer anzieht. Das wissen die Unternehmen und bauen hier ihre Aktivitäten vor allem bei wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen aus. In diesem Bereich gibt es die größten Stellenzuwächse.

Wie viele Schulabgänger haben noch keinen Ausbildungsplatz?

Fock: Uns gegenüber haben rund 2000 Schüler bekundet, noch keinen Ausbildungsplatz zu haben. Das sind rund 23 Prozent weniger als zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres. Bei knapp noch 4300 unbesetzten Ausbildungsstellen haben alle große Chancen, jetzt noch in eine Berufsausbildung zu starten. Die meisten freien Ausbildungsplätze – rund 860 – gibt es noch in den kaufmännischen Berufen, sei es im Einzelhandel, im Büro, bei Speditionen oder Versicherungen und Finanzdienstleistern. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der freien Lehrstellen um knapp 20 Prozent erhöht. Die Bewerber haben also die Qual der Wahl.

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  • Beschäftigen sich Schülerinnen und Schüler aus Ihrer Sicht zu wenig damit, was sie später beruflich machen wollen?

    Fock: Nein, das sehe ich nicht so. Was sie nach der Schule machen sollen, treibt die Jugendlichen schon sehr um. Aber dieser Orientierungsbedarf muss in Handlungen umgesetzt werden. Es ist eher das Problem, aus der Vielzahl der Angebote das Passende zu finden. Während der Pandemie gab es keine Praktika, das hat die Orientierung erschwert. Arbeitgeber und Azubis konnten sich nicht kennenlernen. Das große Angebot an Ausbildungsplätzen suggeriert den Jugendlichen eher, sie können sich mit der Entscheidung Zeit lassen und sie haben auch Alternativen. Jeder zweite hat das Abitur und kann auch studieren oder es wird erst einmal ein Aussteigerjahr geplant.