Hamburg. Erst Journalist in Hamburg, jetzt Lehrer: Martin Schnitker hat sich für einen ungewöhnlichen Weg entschieden – und ist nicht allein.

Vor einem Jahr ist Martin Schnitker morgens in Tostedt auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz in den Zug nach Hamburg gestiegen. 50 Minuten später saß er an seinem Schreibtisch nahe der Binnenalster: Presse- und Öffentlichkeitsarbeit machen für den Unternehmensverband AGA. Journalistenanfragen beantworten, Veranstaltungen organisieren, solche Sachen.

Am Tag, als ihn das Abendblatt an seinem neuen Arbeitsplatz trifft, ist er morgens in Tostedt ins Auto gestiegen. 50 Minuten später hat er das Lehrerzimmer der Oberschule Lieth in Bad Fallingbostel betreten und bald darauf den Klassenraum mit der Nummer 36: Geschichte in der 7a. Napoleons Feldzug nach Russland, Verbannung des Kaisers der Franzosen nach Elba und St. Helena, solche Sachen. Der 56 Jahre alte frühere „Bild“-Wirtschaftsredakteur und AGA-Pressesprecher Schnitker ist seit September 2021 Lehrer.

Neustart im Job: Vom Journalisten zum Lehrer

Warum macht einer das, knapp zwölf Jahre vor Erreichen des Rentenalters den jahrzehntelang gern und erfolgreich ausgeübten Beruf aufgeben und etwas ganz Neues anfangen? „Ich habe mich gefragt: Was für einen Job machst du da eigentlich? Kannst du wirklich etwas Sinnvolles dabei bewirken?“ Die Antworten tendierten gegen Nein. „Was bringt dich mit Spaß morgens aus dem Bett? Worauf hast du wirklich Bock? Was wäre sinnvoll und sinnstiftend?“ Das waren die nächsten Fragen an sich selbst. Die Antwort lautete: anderen Menschen, Heranwachsenden, etwas beibringen. Also: Lehrer werden.

Wie viele Menschen in Deutschland pro Jahr nicht nur den Job, sondern den Beruf wechseln, in einer anderen Branche anfangen und womöglich noch einmal neu erlernen, was künftig den Lebensunterhalt sichern soll, das ist ungefähr bekannt. „Es sind etwa ein Prozent aller Erwerbstätigen pro Jahr“, sagt Janina Söhn, die am Soziologischen Forschungs-Institut an der Uni Göttingen zu Berufswechseln forscht. Das zeigen die jüngsten vorliegenden Daten aus der Zeit kurz vor der Pandemie.

Viele unfreiwillige Berufswechsel

In Deutschland gibt es gut 45 Millionen Erwerbstätige. Wie viele von den 450.000 Berufswechslern pro Jahr diesen Schritt – wie Martin Schnitker – freiwillig gehen und dabei – wie Schnitker – auch noch bereit sind, ein niedrigeres Einkommen in Kauf zu nehmen, das weiß auch die Soziologin nicht. Es ist seriös nicht zu ermitteln.

Die Zahl der Berufswechsler hat wegen der Pandemie ziemlich sicher zugelegt. Gastronomiebeschäftigte, die ihren Arbeitsplatz verloren, wechselten besonders häufig in die Reinigungsbranche, zu boomenden Paketdiensten oder in Testzentren, fanden Wissenschaftler vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufs­forschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit in der Studie „Wo sind die Kellner/-innen geblieben?“ heraus.

Beschäftigte am und im Umfeld des Hamburger Flughafens fingen in der Krise verstärkt in den Bereichen Handel und Kfz-Instandhaltung (40 Prozent) sowie bei Zeitarbeits­firmen (25 Prozent) an, beobachtete die Hamburger Arbeitsagentur. Freiwillige Wechsel waren das nicht, die Betroffenen hatten keine andere Wahl.

In der Corona-Pandemie ging Jobsicherheit vor

Eine Welle freiwilliger Kündigungen wie in den USA gab es während der Pandemie hierzulande nicht. Im Gegenteil: Deutsche Arbeitnehmer hielten in der Krise eher an ihrem Arbeitsplatz fest. Zu riskant erschien ein Job- oder Berufswechsel, zeitweise wurden ohnehin weniger freie Stellen angeboten. Inzwischen konstatieren Studien wieder eine hohe Wechselbereitschaft insbesondere bei jüngeren Beschäftigten.

„35 Prozent der Beschäftigten in nicht akademischen Berufen treibt aktuell ein ausgeprägter Wechselwunsch um“, heißt es etwa in einer aktuellen Untersuchung der Jobplattform Joblift.de. Die Göttinger Soziologin Janina Söhn ist allerdings mehr als skeptisch, was die Aussagekraft solcher Befragungen angeht. „Das eine ist, was man sagt, was man tun möchte. Das andere ist, ob man es dann auch wirklich tut.“

Martin Schnitker hat es getan. „Es macht Spaß, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten“, sagt er. Dass Lehrerwerden eine Möglichkeit ist, hatte er seit fünf Jahren im Hinterkopf. „Der Schulleiter meines Sohnes hat mir damals gesagt: Wir brauchen Leute wie Sie.“ Tatsächlich geht es an vielen Schulen gar nicht mehr ohne Quereinsteiger wie ihn. Allein an der Oberschule Lieth haben acht von 42 Lehrkräften ursprünglich nicht auf Lehramt studiert. Dass er selbst wenigstens einen kleinen Beitrag leistet, den gravierenden Lehrermangel zu lindern, ist noch so ein Grund, warum Schnitker seinen Wechsel als „sinnstiftend“ empfindet.

Schnitker hat die Schülerzeitung wiederbelebt

Mit einem abgeschlossenen Studium in Geschichte und Politik unterrichtet er nun genau das: Geschichte und Politik. Derzeit 20,5 Stunden pro Woche, einen Tag lang lernt er selbst Pädagogik und Didaktik am Lehrerseminar in Verden. Mehr als 100 Schülerinnen und Schüler in den Klassenstufen 5 bis 10 unterrichtet er aktuell, die meisten Vornamen hat er inzwischen drauf. Und in den Unterricht fließt ein, was früher seine Profession war. Sein Wahlpflichtkurs Deutsch hat die jahrelang eingeschlafene Schülerzeitung wiederbelebt.

Die Arbeit mit – teils heftig pubertierenden – Zehn- bis 16-Jährigen kann herausfordernd sein. „Du musst klare Ansagen machen, und du musst dich behaupten können.“ Auch das hat er drauf, und in der Napoleon-Stunde schlägt er locker einen Bogen vom Niedergang des Franzosen-Kaisers zum populären Computerspiel „Fortnite“. Das festigt den Lernerfolg.

Aus seiner Berufsvergangenheit ist geblieben, dass Schnitker Sakko trägt. Als einer von wenigen Männern im Kollegium. „Für mich selbst ist es das Zeichen, dass ich arbeite. Und es ist Ausdruck des Respekts, den ich meinem Gegenüber entgegenbringe. Egal, ob es ein Unternehmenschef ist oder eine Siebtklässlerin.“ Eigentlich, sagt der Junglehrer, habe er gar nicht den Beruf gewechselt. „Ich bin ja im Grunde in der Kommunikation geblieben.“ Nur, dass er jetzt eben mit Kindern und Jugendlichen kommuniziert, Erfolg und Misserfolg ganz unmittelbar spürt, ein direktes Feedback bekommt. „Da sind auch mal knallharte Bemerkungen zu hören, Schüler können ja brutal ehrlich sein“, sagt Schnitker. Auch das mag er an seinem neuen Beruf.

Lokführer statt Lichtdesigner – weil es nachhaltiger ist

Andreas Voigt gehört zu den Berufswechslern, die vorher arbeitslos waren. Dass sein Arbeitgeber in Hamburg während der Pandemie Insolvenz anmelden und er sich bei der Arbeitsagentur melden musste, war für den gelernten Tischler, Diplom-Innenarchitekten und Spezialisten für Lichtdesign allerdings ein fast schon willkommener Anlass und nicht der eigentliche Grund für den beruflichen Neustart mit 52 Jahren.

Sein letztes Projekt in der alten Firma war die Innengestaltung und Ausstellungsbeleuchtung in einem Nationalpark-Zentrum im Schwarzwald. Seit Anfang des Jahres wird Voigt bei der Deutschen Bahn in Hamburg zum Lokführer ausgebildet. Ab April oder Mai nächsten Jahres fährt er dann vorwiegend nachts in einer Rangierlok auf einem Güterbahnhof oder an der Spitze eines Güterzuges durch Deutschland. Er freut sich darauf.

Andreas Voigt (52) macht bei der Deutschen Bahn in Hamburg eine Ausbildung zum Lokführer. Vorher arbeitete er als Innenarchitekt und Lichtdesigner.
Andreas Voigt (52) macht bei der Deutschen Bahn in Hamburg eine Ausbildung zum Lokführer. Vorher arbeitete er als Innenarchitekt und Lichtdesigner. © Michael Rauhe / FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

„Ich hätte ohnehin innerhalb eines Jahres gekündigt“, sagt Voigt. Das hektische Projektgeschäft und bisweilen anstrengende Diskussionen mit Auftraggebern, die einen Spezialisten engagieren, aber glauben, sie selbst wüssten es doch am besten – da hatte er keine Lust mehr drauf. „Ich hätte mich in anderen Architekturbüros bewerben können und sogar mehr verdient. Aber ich wollte es nicht“, sagt der Mann, der mit seiner Lebenspartnerin und deren Kindern zusammenlebt.

Und warum dann Lokführer? „Weil es ein Beruf ist, der sehr viel mit Nachhaltigkeit zu tun hat. Ich war schon immer ein bisschen öko, bin gern und viel unterwegs. Zuletzt fast nur noch mit der Bahn“, sagt Voigt. Ein Freund von ihm ist Cargo-Lokführer, er wusste schon viel über die Aufgaben, den Verdienst, die Arbeitsbedingungen. Vier Tage nachdem er sich online bei der Gütersparte des Konzerns beworben hatte, kam die Antwort von DB Cargo.

Ohne Quereinsteiger geht es auch bei der Bahn nicht

Der gesamte Konzern will bundesweit allein in diesem Jahr 1700 Lokführer einstellen. Wie in vielen Schulen ist das ohne Quereinsteiger wie Andreas Voigt nicht zu schaffen. Ein Jahr lang wird er in Hamburg nun unter anderem im Fahrsimulator ausgebildet. Danach folgen mehrere Monate Spezialausbildung auf dem Rangierbahnhof Maschen. Um die 2650 Euro pro Monat zahlt die Bahn in dieser Zeit. Später werden es inklusive Zulagen und Weihnachtsgeld zwischen 44.500 und gut 53.000 Euro pro Jahr sein. „Das ist in etwa so viel, wie ich vorher verdient habe“, sagt Andreas Voigt.

In den Statistiken von Soziologin Janina Söhn zählt er damit zu dem etwa einen Drittel der Berufswechsler, deren Einkommen sich danach nicht groß verändert. Ein weiteres Drittel verdient danach mehr, das dritte Drittel weniger. Für sie ist der Neustart zugleich ein Abstieg. Zumindest finanziell.

Politologe wird Kinder-Erzieher

Statistisch gehört auch Peter Rey zu dieser Gruppe. Aber von einem Abstiegsgefühl ist bei ihm keine Spur, im Gegenteil. „Ich tue etwas, was ich wirklich sinnvoll finde“, sagt er. Früher im Leben als Voigt und Schnitker hat für Rey der grundlegende Neustart begonnen. Der 42 Jahre alte Politologe mit Nebenfach Kommunikationswissenschaft leitete bis 31. Mai das Kommunikationsteam von DPD, dem drittgrößten Paketdienst in Deutschland.

„Tolles Unternehmen, tolles Team. Ich habe das lange mit großer Überzeugung und sehr viel Leidenschaft gemacht. Aber irgendwann hat es mir nicht mehr genügt. Ich habe angefangen, mich zu fragen, ob ich das alles noch sinnvoll finde und bis zum Ende des Berufslebens machen will“, sagt er beim Telefonat mit dem Abendblatt. Im „Kinderhaus“ in seiner Heimatstadt ist gerade Essenspause in der „Roten Gruppe“. Rey ist dort der Praktikant. Praktikum ist Pflicht vor Beginn der Ausbildung zum Kita-Erzieher, die für ihn Anfang September beginnt.

Neustart im Job – und weniger als das halbe Gehalt

Es ist Plan B. Plan A war, DPD nach 14 Jahren zu verlassen und die Unternehmenssprecher-Karriere in einer größeren Firma fortzusetzen. Andere Branche, neue interessante Aufgaben, mehr Geld. Es wäre der nahe liegende nächste Schritt gewesen – und doch „der gleiche Quatsch“, sagt Rey. Dass er aus der Firmenzentrale in die Kita wechselt, hat viel mit den beiden Töchtern zu tun. Die Große kommt im Sommer von der Kita in die Schule, die Kleine ist in der Krippe.

„Ich sehe bei beiden, wie wichtig es ist, dass Kinder gemeinsam lernen, wie cool und sinnvoll es ist, was in den Einrichtungen gemacht wird. Meine Hochachtung für die Arbeit von Erzieherinnen und Erziehern ist immens gewachsen“, so Rey. Als er sich gefragt habe, was er wirklich gern beruflich machen wolle, sei ihm klar geworden: „Der Umgang mit Kindern würde mir Spaß machen, und ich kann das auch.“

Finanziell wird es ein Einschnitt für die Familie. „Meine Frau verdient auch, aber wir werden den Gürtel erst einmal enger schnallen müssen.“ Als Quereinsteiger wird er während der Ausbildung etwa 1300 Euro pro Monat verdienen, als Berufsanfänger um die 3000 Euro brutto. Als Unternehmenssprecher war es „mindestens das Doppelte“. Sein alter Arbeitgeber unterstützt den Wechsel. Rey ist bis Ende August Stand-by für das Unternehmen, bekommt sein Gehalt, ist aber freigestellt und kann sein Pflichtpraktikum machen, muss sich nicht arbeitslos melden.

Neustart nach 50: „Viele finden es spannend, manche seltsam“

Und wie sehen seine künftigen Kolleginnen und Kollegen den 42 Jahre alten Berufsanfänger? Die Reaktionen sind gemischt. „Viele finden es interessant und spannend, manche seltsam, und manche sagen: Das klappt nicht“, weiß Rey aus einem Gespräch mit einer Kita-Leiterin.

Bei DPD hatte er einst auch als Praktikant in der Presseabteilung begonnen, am Ende war er Chef einer 17-köpfigen Abteilung. Soll nun eine zweite steile Karriere in der Kinderbetreuungsbranche folgen? Rey sagt, er habe da keinen festen Plan. Wenn er sich dagegen entscheide, Führungsverantwortung anzustreben, „muss ich mich wahrscheinlich zusammenreißen“, fürchtet er. „Meine Frau hat schon gesagt: Pass auf, am Ende machst du doch wieder nur Management und hast nichts mehr mit Kindern zu tun.“ Kita-Leitung oder stellvertretende Leitung, das kann er sich aber durchaus vorstellen.

Was Peter Rey genau weiß, ist, dass er gerade in der Realität tut, was viele andere in der Fantasie tun. „Seitdem sich herumgesprochen hat, was ich jetzt mache“, sagt er, „erzählen mir sehr viele Bekannte, was sie statt ihres jetzigen Jobs wirklich am liebsten arbeiten würden.“