Hamburg. Mein Laden in Coronazeiten, Teil 9: Wie Unternehmerin Janine Werth ihr Geschäft am Großen Burstah durch die Krise steuert.

Heiligabend bis 14 Uhr im Laden stehen, die Kasse machen, aufräumen, vielleicht noch einige Mails schreiben. Genau dann, wenn es schon langsam dämmerig wird, andere die Tannenbaumkerzen anzünden und die ersten Plätzchen knabbern, in die U-Bahn steigen, um nach Hause zu fahren.

So stressig sehen normalerweise die letzten Stunden aus, bevor auch für Janine Werth Weihnachten wird. „Es kommen ja meistens bis zum Schluss noch Kunden, die Last-Minute-Geschenke suchen“, sagt die Einzelhändlerin. In diesem Jahr ist alles anders.

Seit neun Tagen ist ihr Laden Werte Freunde in der Hamburger Innenstadt zu. Werth hat in der vergangenen Woche einen Zettel an die Tür gehängt, auf dem sie die Kunden über den Corona-Lockdown informiert. „Ich hätte nie damit gerechnet, dass der Einzelhandel vor dem letzten wichtigen Adventssonnabend komplett geschlossen wird. Und das zum zweiten Mal in einem Jahr“, sagt die Unternehmerin. Für sie ist das der Worst Case, der schlimmste Fall, der hätte eintreten können.

Janine Werth drücken Existenzsorgen

Statt festlich gestimmt in die Feiertage zu starten, drücken sie Existenzsorgen. Und sie kann nichts tun. Vor zwei Jahren hatte Janine Werth ihren Laden für nachhaltige Mode und Naturkosmetik am Großen Burstah eröffnet, ein Lebenstraum. Jetzt muss die Gründerin zusehen, wie ihr der gute Start unter den Händen zerrinnt. Erst die fünfwöchige Schließzeit im Frühjahr, dann die Wiederöffnung mit Maskenpflicht und Abstandsregeln, im November wieder neue Beschränkungen, jetzt der zweite Lockdown. Seit zehn Monaten kämpft Janine Werth um das Überleben ihres Geschäfts.

Das Abendblatt begleitet die Hamburger Unternehmerin seit dem Beginn der Pandemie im März exemplarisch auf ihrem Weg durch die schwere Krise. Auch das Weihnachtsgeschäft bringt in diesem Jahr nicht das ein, was es hätte bringen müssen. Das ist bei fast allen stationären Händlern so, auch Werte Freunde verzeichnet massive Einbußen. So richtig gut waren nur die letzten beiden Verkaufstage vor der Zwangsschließung am 16. Dezember. Für 15.000 Euro waren in dem Konzeptstore Waren über die Ladentheke gegangen.

Viele Ideen für die Vorweihnachtszeit

Auch der Sonnabend davor, als sich der Lockdown schon abzeichnete, hatte Umsätze wie in Vor-Corona-Zeiten gebracht. „Aber das ändert nichts daran, dass ich den Dezember mit einem Minus von 50 Prozent im Vergleich zu 2019 abschließe“, sagt die 42-Jährige, die sich für ihren eigenen Laden mit einer halben Million Euro verschuldet hat. Dabei hatte sie sich für die Vorweihnachtszeit einiges ausgedacht. Einen Adventskalender zum Beispiel, bei dem es jeden Tag für ein neues Lieblingsprodukt Rabatt gab.

Als die Nachricht vom neuen Lockdown kam, hat die Unternehmerin drei Türchen auf einmal aufgemacht. Danach keines mehr. An den Tagen danach waren sie und ihre Mitarbeiterinnen noch im Laden, haben die letzten Bestellungen abgewickelt und die Inventur vorbereitet. „Wir haben die Herbst- und Winterkollektion schon ganz gut verkauft“, sagt Janine Werth. Auch Kosmetik war gefragt, vor allem Seifen werden in Corona-Zeiten gerne verschenkt. Aber an den Kleiderstangen hängen noch viele warme Jacken, in den Regalen stapeln sich Wollpullover.

Sechs Tage die Woche im Laden

Ob sie die noch verkaufen kann? Sicher ist es nicht. „Es fehlen ja nicht nur die letzten Tage des Weihnachtsgeschäfts, sondern auch die traditionell umsatzstarken Tage bis zum Jahreswechsel“, sagt Janine Werth. Schon vor einigen Wochen hat sie zum ersten Mal darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn sie aufgeben würde. Jetzt schimmert gedämpftes Licht durch die hohen Glasscheiben des geschlossenen Geschäfts auf die leere Straße, die Schaufenster sind festlich dekoriert. Ein Bild wie eingefroren. Werth hat sich und ihrem Team zum ersten Mal eine echte Pause verordnet. Will bis nach Neujahr nicht erreichbar sein. Das Jahr hat sie viel Kraft gekostet.

Die Idee zur Serie:

  • Zehntausende kleine Geschäfte, Gastronomiebetriebe, Soloselbstständige, Kleingewerbetreibende und Künstler in Hamburg waren von dem Shutdown infolge des Coronavirus betroffen, der das Leben in der Stadt wochenlang stark einschränkte. Auch wenn vieles gelockert wurde, sind die Auswirkungen bis heute präsent und werden noch lange bestehen bleiben.
  • Wie viele Firmen den Existenzkampf am Ende überstehen, kann derzeit niemand sagen. Das Abendblatt begleitet Unternehmerin Janine Werth und ihr Team seit März exemplarisch für viele andere auf ihrem Weg durch die womöglich schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Serie erscheint in loser Folge.

Oft stand die gelernte Kosmetikerin sechs Tage die Woche mit im Laden und hat mit ihrer temperamentvollen, zupackenden Art für stabile Stimmung im Team gesorgt. An den Wochenenden war sie meistens für Werte Freunde in den Sozialen Medien unterwegs und hat mit ihrem Lebenspartner Stefan Schmid, der sie bei den Finanzen unterstützt, die Geschäftszahlen gewälzt, Pläne aufgestellt und immer wieder neue Ideen entwickelt, wie sie ihren Laden durch die Krise steuern kann. Statt eines richtigen Urlaubs hatte das Paar die wenigen freien Tage im Juli im Zelt auf Amrum verbracht. Um Geld zu sparen. Janine Werth ist erschöpft. Das zuzugeben, fällt ihr nicht leicht. Schon seit Wochen plagen sie Schmerzen im Arm. Auch deshalb war Weihnachten ein emotionaler Rettungsanker für die Powerfrau.

„Das war eine große Kraftanstrengung“

„Wir können das, was wir im Frühjahr gemacht haben, nicht wiederholen“, sagt Werth. Von einem Tag auf den anderen hatte sie damals ihr auf den stationären Handel ausgelegtes Geschäft ins Digitale verlagert. Fünf Wochen lang haben sie und ihre sechs Mitarbeiterinnen jeden Tag Bestellungen, die per E-Mail oder Telefon eingingen, verpackt und verschickt. Hautanalysen wurden per Tablet abgewickelt. „Das war eine große Kraftanstrengung.“ Knapp ein Drittel des geplanten Umsatzes hat sie so reingeholt. Motto: Wir schaffen das! Nach der Wiedereröffnung Ende April kamen die Kunden wieder, langsam aber stetig stiegen die Verkaufszahlen. Im September lagen sie mit zweistelligen Zuwächsen im Vergleich zum Vorjahr sogar wieder im Plan. Es sah so aus, als würde Werte Freunde

die Krise besser meistern als viele andere Händler. Aber die Verluste aus der Schließzeit konnte der laufende Verkauf nicht aufholen. Als dann die Herbstware kam, immerhin mit einem Volumen von 130.000 Euro, wurde es zum ersten Mal richtig eng. Mit der Schließung der Kosmetikstudios Anfang November brach eine wichtige Einnahmequelle weg. Das war der Zeitpunkt, als Janine Werth bei Instagram Alarm geschlagen hat. „Wenn wir keine Lösung finden, könnte in drei Wochen das Licht ausgehen“, sagte sie. Hinter der Schieflage steckt eine Liquiditätslücke von mehreren 10.000 Euro.

Unbefriedigendes Gespräch mit der Hausbank

Ein Gespräch mit der Hausbank verlief äußerst unbefriedigend. Den Antrag auf Aussetzung der Tilgung für den Kredit, die ab Anfang 2021 startet, steckt seit über vier Wochen in der Prüfung. Auch eine Reduzierung der teuren Dispo-Zinsen in Höhe von elf Prozent kam nicht in Frage. Stattdessen erhöhte das Geldinstitut die Gebühren für die Bereitstellung des Dispo-Kredits. Aber Aufgeben ist eben doch keine Option. Werth und ihr Lebenspartner suchten sich einen Berater. Anfang Dezember beschlossen sie über die Bürgschaftsbank, die schon mit einem Darlehen an dem Start-up beteiligt ist, einen Kreditantrag für den Corona Recovery Fonds in Höhe von 130.000 Euro zu stellen, um in den nächsten Schließungswochen über die Runden zu kommen und an der Entwicklung einer Digitalstrategie zu arbeiten. Das Fördermodell sieht vor, dass die Hamburgische Investitions- und Förderbank im Gegenzug mit einer stillen Beteiligung Finanzmittel in Werths Laden einbringt.

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Eine Beteiligung aus Mitteln von Stadt und Bund als Rettung – das hätte sich die Unternehmerin, die auch schon bei Amazon und der Drogeriekette Müller gearbeitet hat, nie träumen lassen. Wenn der Lockdown im Frühjahr eine Vollbremsung war, ist es dieses Mal traurige Routine. „Wir haben sofort wieder alle Möglichkeiten zur Kostenreduzierung geprüft“, sagt die Geschäftsinhaberin. Sie hat das Team in Kurzarbeit geschickt – dieses Mal komplett. Eine weitere Mietstundung ab Januar ist besprochen, die Lieferung der ersten Frühjahrsware verschoben. Werth hofft auch auf Überbrückungshilfe, immerhin 7000 Euro könnten es als Ausgleich für die Schließzeit bis zum 10. Januar werden.

„Ein Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zum Ausfall. Und deutlich weniger als im Frühjahr. Aber immerhin.“ Jetzt will sie erstmal Weihnachten feiern. Und hat sogar noch einige Weihnachtsgeschenke besorgt, Bücher vor allem. Und neue Tassen für ihre Mitarbeiterinnen. Auch ein Signal, dass es weitergeht. Ihre Mutter ist zu Besuch da und hat schon versprochen, dass sie das Kochen übernimmt. Janine Werth will die Feiertage nutzen, um nachzudenken. „Es kann 2021 nicht so weitergehen wie in diesem Jahr, finanziell und emotional immer am Rand eines Vulkans“, sagt sie. Ihr schönstes Weihnachtsgeschenk hat sie schon einige Tage vor dem Fest bekommen – die Kreditzusage über 130.000 Euro des Corona Recovery Fonds.

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