Hamburg. In Hamburg wollen Firmen dieses Jahr 10.200 Ausbildungsplätze besetzen, aber es gibt nur 7500 Bewerber. Die Handelskammer hilft.
Es ist noch früh am Vormittag und Melina Schliski hat schon ein Gespräch hinter sich. Beim Ver- und Entsorgungsunternehmen Veolia Umweltservice. „Es ist gut gelaufen, ich bin für nächste Woche zu einem weiteren Gespräch eingeladen“, sagt die 20-Jährige. Im vergangenen Jahr hat sie an der Erich-Kästner-Stadtteilschule in Farmsen-Berne Abitur gemacht. Danach ist sie erst einmal gereist, jetzt jobbt sie als Verkäuferin in einer Bäckerei. Im August will die junge Frau eine Ausbildung beginnen. „Ich möchte gerne praktisch arbeiten. Jetzt noch einmal jahrelang nur lernen an der Uni, kann ich mir nicht vorstellen“, sagt sie. Kauffrau im Büromanagement oder im Groß- und Außenhandel, das könnte etwas für sie sein.
Firmen suchen Azubis
Eine Lehrstelle hat sie zwei Monate vor Beginn des Ausbildungsjahres aber noch nicht. Deshalb ist sie an diesem Donnerstagmorgen zum sogenannte Azubi-Speeddating in den Börsensaal der Handelskammer gekommen. Motto der von der Kammer immer im späten Frühling organisierten Veranstaltung: „In zehn Minuten zum Ausbildungsplatz.“ Mit mindestens zwei weiteren Firmen will Melina Schliski an diesem Vormittag noch reden. Die Auswahl ist groß.
Dutzende Firmen stellen sich vor
Mehr als 60 Hamburger Unternehmen sind da, um mit jungen Leuten ins Gespräch zu kommen, sich selbst vorzustellen, einen ersten Eindruck zu gewinnen, ob die junge Frau oder der junge Mann ins Unternehmen passen könnte. Gut 500 potenzielle Bewerber haben sich vorab angemeldet. Damit es nicht zu Warteschlangen kommt, ertönt alle zehn Minuten der Klang einer Handglocke im Saal. Dann ist das Gespräch beendet. Die oder der Nächste bitte!
Konzerne wie Bahn und Post sind darunter, die Hypovereinsbank sucht künftige Bankkaufleute, Siemens Geräte- und Systemelektroniker, das Schuhhaus Görtz ist da, der Kupferhersteller Aurubis, die Baumarktkette Bauhaus, Penny, Peek & Cloppenburg, Woolworth. Mehr als 850 Ausbildungsplätze wollen die Firmen noch besetzen. Am häufigsten gesucht: Einzelhandelskaufleute.
Viele Goodies für den Lehrling
Die kleine Softwarefirma ETC aus St. Georg ist erstmals dabei und hat mit Dagmar Becker und Tobias Tertel gleich ein Drittel der Gesamtbelegschaft in den Börsensaal entsandt, um einen künftigen Fachinformatiker zu gewinnen. „Unser jetziger Azubi hat seinen Abschluss, wir brauchen einen neuen“, sagt Tertel. ETC müsse sich intensiv bemühen, weil das Unternehmen wenig bekannt sei. „Bewerber gehen eher auf große Unternehmen zu.“ 90 Minuten nach Beginn hat es schon Gespräche mit vier Bewerbern gegeben, drei davon sind zu weiteren Gesprächen eingeladen. „Wir sind begeistert von ihnen, sie wissen, was sie wollen, bringen Erfahrungen mit“, sagt Dagmar Becker. Sogar ein Mittdreißiger sei dabeigewesen. ETC habe viel zu bieten, betont Tertel: Überdurchschnittliche Ausbildungsvergütung, Übernahmegarantie nach der Lehre, HVV-Fahrkarte, Obst und Getränke am Arbeitsplatz. Schon beim Speeddating geht es locker und entspannt zu. Bei ETC werden Weingummi und Erdbeeren angeboten.
Mehr freie Stellen als Bewerber
Der Ausbildungsmarkt ist ein Bewerbermarkt. Die Unternehmen müssen sich intensiv darum bemühen, ihre freien Ausbildungsplätze zu besetzen. Es sind gute Zeiten für junge Leute, die eine Lehre beginnen wollen. Das belegen auch die Zahlen der Arbeitsagentur Hamburg. Dort meldeten sich zwischen Oktober 2018 und Mai 2019 knapp 7500 junge Leute, die nach einer Lehrstelle suchen – die geringste Zahl in den vergangenen fünf Jahren. Zugleich meldeten Firmen 10.200 freie Lehrstellen bei der Agentur. So viele wie noch nie. Etwas mehr als die Hälfte davon war Anfang Juni noch nicht vergeben. Auch die Agentur führt regelmäßig Firmen und Bewerber zusammen. Nächster Termin: Sonnabend, 22. Juni, im Harburger Elbcampus.
Informatiker verzweifelt gesucht
Die Handwerkskammer hat ihr Azubi-Speeddating schon im April veranstaltet. In ihrer Online-Lehrstellenbörse sind 1300 freie Ausbildungsplätze registriert – 250 mehr als vor einem Jahr. „Die Firmen suchen intensiv, um ihren künftigen Fachkräftebedarf zu decken“, sagt Hamburgs neuer Handwerkspräsident, Hjalmar Stemmann. In der Onlinebörse der Handelskammer stehen 1750 Lehrstellen, allein 154 für Fachinformatiker.
Abgebrochenes Studium? Kein Problem!
Das Speeddating sei bei den Firmen beliebt und die Warteliste lang, weil viele Bewerber ernsthaft auf der Suche seien, sagt Fin Mohaupt, der Leiter für Aus- und Weiterbildung bei der Handelskammer. Es sind junge Leute wie Eike Harneit. Der 28-Jährige will nach zwei abgebrochenen Studiengängen eine Ausbildung in der Logistikbranche oder im Einzelhandel machen, die Aufstiegsmöglichkeiten eröffnet. „Ich bin mit einem etwas mulmigen Gefühl gekommen, weil sich mein Lebenslauf auf dem Papier ja nicht so gut macht“, sagt er. Nach vier Gesprächen weiß er aber: „Das ist für die Unternehmen kein Problem. Bei einem wurde gefragt, ob ich auch nächstes Jahre die Ausbildung anfangen und vorher bei ihnen jobben möchte.“
Eine besetzte Lehrstelle ist schon ein Erfolg
Vor einem Jahr habe das Speeddating zu etwa 90 Ausbildungsverträgen geführt, also im Schnitt zu mehr als einem pro Aussteller, sagt Fin Mohaupt. Hört sich erstmal wenig an. Doch Leif Einfeldt, Ausbildungsleiter für die Kaufleute bei Küchen aktuell, sagt: „Wenn ich hier auch nur einen Auszubildenden finde, haben wir schon gewonnen. Die Konkurrenz um gute Leute ist riesig.“ Mit Melina Schliski hat er sich auch schon zehn Minuten lang unterhalten.
Jetzt liegen ihre Unterlagen auf dem Stapel der fünf Bewerber, die Einfeldt zum intensiven Gespräch eingeladen hat. Doch wenig später kehrt die junge Frau zurück und will noch etwas mehr wissen über diesen Test, den Einfeldt vorhin erwähnt hatte. „Da machen Sie sich mal gar keine Sorgen“, sagt er. Einfeldt kämpft um eine Auszubildende, die auch andere Unternehmen gerne hätten.