Seit fast 20 Jahren gibt es Probleme mit verschiedenen ICE-Zügen. Doch die älteste Baureihe ist die zuverlässigste.
An der Stelle dieses kahlköpfigen Mannes möchte man jetzt nicht sein. Denn Ulrich Homburg, Vorstand für Personenverkehr der Deutschen Bahn AG, hat keine gute Botschaft mitgebracht. Sein Blick ist demütig, der Kopf gesenkt. Kameras fangen ein, wie er hinter einem Pult im 21. Stock des Bahntowers am Potsdamer Platz in Berlin steht und sagt: „Warum es zum Ausfall der Klimaanlagen kommt, ist noch nicht geklärt.“ Stunden später sitzt er bei Maybrit Illner und macht keine gute Figur.
Homburg ist jetzt der Blitzableiter für die Wut der Reisenden, die dieser Tage mit Schweißflecken aus überhitzten Zügen steigen. Homburg äußert Bedauern, er gelobt Besserung. Doch der Manager kann auch nicht versprechen, dass die Klimaanlagen der anhaltenden Hitze widerstehen. Denn eine Generalüberholung der ICE-Baureihe 2 wird es erst ab Herbst geben.
Wieder einmal muss das Staatsunternehmen eine Pannenserie bei jenem Zug in den Griff bekommen, der vor fast 20 Jahren ein neues Bahnzeitalter einläuten sollte. Ein Aushängeschild deutscher Ingenieurskunst sollte der ICE sein, das Versprechen auf die moderne, rasend schnelle und sichere Schienenreise. Doch seit der Jungfernfahrt 1991 kann die Bahn dieses Versprechen nicht richtig einlösen. Die Pannenakte ICE wächst von Jahr zu Jahr. Schuld daran sind eifrige Verkehrspolitiker ebenso wie Zughersteller, Aufsichtsbehörden und natürlich das Unternehmen selbst.
Die Geschichte des ICE fing schon nicht gut an. In den frühen 90er-Jahren beschäftigten verstopfte Toiletten und defekte Türen die Krisenmanager der Bahn. Beim ICE 2, seit 1996 im Einsatz, gab es Probleme mit den Kupplungen, die die Halbzüge miteinander verbinden. In diesem Sommer machen im ICE 2 die Klimaanlagen schlapp. Ausgelegt sind sie für maximal 32 Grad Celsius. Dieses Limit gilt auch für den ICE 1. Doch diese älteste Baureihe rollt derzeit gut gekühlt durch den Sommer 2010.
Das war bislang in diesen Wochen auch beim ICE 3 so. Allerdings fielen in Zügen dieser Baureihe im Sommer 2003 reihenweise die Kühlaggregate aus. Im vergangenen Winter versagte die Heizung im ICE 3, und am 17. April dieses Jahres verlor ein Schnellzug der Baureihe auf der Fahrt von Köln Richtung Frankfurt eine Außentür. Sie knallte in einen entgegenkommenden Zug, sechs Menschen wurden verletzt. Ursache war eine lose Stellmutter. Die schlimmste Panne des ICE 3 war jedoch ein Achsenbruch im Jahr 2008. An 67 Zügen werden die schweren Teile ausgetauscht. Die Ausbesserungswerke haben damit immer noch zu tun.
Unterzieht man die Pannen der drei Schnellzuggenerationen einer Prüfung, dann fällt auf: Ausgerechnet die ältesten Züge, die Generation ICE 1, verrichtet am zuverlässigsten ihren Dienst. 59 Züge sind derzeit noch im Einsatz.
Entworfen wurde der Zug noch in einer Ära, als keiner von der Bahn verlangte, wie ein privatwirtschaftliches Unternehmen zu agieren. Die Bundesbahn plante damals sehr lange und sorgfältig. Die Hersteller waren Erfüllungsgehilfen, die eins zu eins schraubten und schweißten, was Ingenieure mit Beamtenstatus ersonnen hatten. Allerdings spielten Kosten und Zeit damals eine untergeordnete Rolle – und eben das, so die Intention der Politik, sollte sich ändern.
Seitdem hat sich die Art und Weise, wie die Bahn ihre Züge beschafft, in der Tat komplett gewandelt. Jetzt schreibt die Deutsche Bahn AG Aufträge aus, Hersteller wie Siemens, Bombardier und Alstom bewerben sich, konstruieren, projektieren und liefern die kompletten Züge aus. Dabei nehmen sie sich Unternehmen der Auto- und Luftfahrtindustrie als Vorbild. Dort ist die sogenannte Plattformstrategie seit Langem gang und gäbe: Autos, Lkw und Flugzeuge werden nach dem Baukastenprinzip aus Standardelementen zusammengestellt. Das spart Kosten, schafft Standards und soll die Qualität befördern. Außerdem können die Hersteller so ihre Einheits-Züge, für lokale Gegebenheiten angepasst, weltweit verkaufen.
„Früher wurde immer so gebaut, wie der Kunde das genau wollte. Das waren dann fast immer teure Maßanfertigungen“, erinnert sich der Manager eines Zugherstellers. „Der Trend geht heute zu Standardlösungen – das ist auch eine Preisfrage.“ Die Tatsache, dass der Mann seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, hat zwei Gründe: Zum einen ist die Bahn der größte Auftraggeber der Eisenbahnindustrie in Europa. Zum anderen wollen die Hersteller den Eindruck vermeiden, sie seien an den ICE-Pannen schuld. Egal, wo man sich umhört, ob bei Siemens, Bombardier oder Alstom: Die Antworten gleichen sich. „Wir liefern Züge zu den Bedingungen, die die Bahn uns nennt“, lautet die Standardauskunft der Hersteller. Meist folgt dann noch ein Hinweis auf Wartungsintervalle und die Häufigkeit der Einsätze. Bahn und Hersteller schieben die Schuldfrage zwischen sich hin und her.
Markus Hecht aus Berlin hat kein Problem damit, seinen Namen zu nennen. Der Professor für Schienenfahrzeuge an der Technischen Universität bemängelt, dass es aufseiten der Bahn inzwischen zu wenige Fachleute gibt, die den Herstellern die richtigen Vorgaben machen können. Und er kritisiert die Politik, die sich nach Pannen gern an die Seite der Fahrgäste stelle, ihren Einfluss über den Aufsichtsrat aber zu wenig geltend mache. „Es fehlt bei der Bahn an klaren Zielvorgaben und Rahmenbedingungen“, sagt Hecht.
Geht es nach Bahn und Politik, dann sollen die Hersteller künftig bei Ausfällen härter in die Verantwortung genommen werden. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) lässt gerade eine Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) vorbereiten. Dort ist im Paragrafen vier die Haftung der Bahn festgeschrieben. Die Position des Ministeriums ist klar: „Die Verantwortung für das ‚sichere Bauen‘ kann künftig nicht mehr ausschließlich bei den Eisenbahnen liegen.“ Natürlich unterstützt der Konzern dieses Ansinnen: „Der Bahn muss die Chance gegeben werden, die Hersteller mehr in die Verantwortung zu nehmen“, erklärt Georg Brunnhuber, Sonderbeauftragter der Bahn und CDU-Politiker.
Selbst Kritiker der Deutschen Bahn hätten gegen die Novelle nichts einzuwenden. Der Fahrgastverband ProBahn ist von der Mitverantwortung der Hersteller für die vielen ICE-Pannen überzeugt. „An der Gesamtsituation trägt die Industrie eine große Teilschuld“, sagt der ProBahn-Bundesvorsitzende Karl-Peter Naumann. Sein Verband fordert mehr Tests von Zügen, bevor erstmals Fahrgäste einsteigen. „Es macht sicherlich Sinn, einen Prototypen zu bauen und diesen ein Jahr lang zu testen.“
Doch so einfach lassen sich die Pannen nicht beseitigen. Denn über Bahn und Herstellern steht noch das Eisenbahnbundesamt (EBA), das Züge in Deutschland zulässt und Pannen prüft, wenn sie die Sicherheit betreffen. Derzeit untersuchen Mitarbeiter der Behörde den ICE, der am vergangenen Wochenende überhitzt in Bielefeld endete. 44 entkräftete Reisende mussten ärztlich behandelt werden.
Bisher hatte das EBA die Klimaanlagen vor Inbetriebnahme eines Zuges gar nicht geprüft. „Das sind sogenannte Komfortteile, die nicht genehmigungspflichtig sind“, sagt ein Sprecher der Behörde. Bahnexperte Hecht spricht in diesem Zusammenhang von einem Zulassungsproblem. „Bei Temperaturen von mehr als 30 Grad wird auch eine Klimaanlage ein sicherheitsrelevantes Bauteil.“
Die Bahn verspricht, es in Zukunft besser zu machen – wie nach allen früheren Pannen auch. Zum Beispiel beim „Velaro D“. Derzeit wird der Zug bei Siemens in Krefeld gebaut, Ende 2011 soll er auf die Schiene gehen. Hersteller und Bahn beteuern, sie würden dabei einen neuen Weg der Kooperation beschreiten. So hat Siemens im Werk ein 3-D-Labor eingerichtet, in dem der Zug virtuell konstruiert wurde. Experten der Bahn sitzen vom Anfang an mit am Tisch, tragen 3-D-Brillen und schauen sich das Produkt schon vor dem Bau an. Sie sollen ihre Erfahrung aus der Instandhaltung früherer Zuggenerationen einbringen. Die Bahn lernt ihre Züge so schon sehr früh kennen.
Siemens hofft, dass die enge Kooperation zu dicken Folgeaufträgen führen wird. Derzeit verhandelt man exklusiv mit der Bahn über den Bau von 300 Zügen, die den vorläufigen Namen ICx tragen. Bis zu sechs Milliarden Euro könnte der Auftrag bringen. Die gute Nachricht für Bahnfahrer: Die Klimaanlagen des ICx sollen Temperaturen bis 45 Grad aushalten. Die schlechte lautet: Der Zug wird 2015 aufs Gleis kommen. Frühestens.