Der Mann, der Apple war, ist tot. Ohne den Visionär sähen unsere Gegenwart und Zukunft ganz anders aus - auch die unseres Autors .

Die Nachricht von Steve Jobs' Tod las ich noch vor dem Frühstück. Das erste bisschen Außenwelt des Tages erreicht mich normalerweise mit einem dicken Stapel Zeitungen, frisch aus dem Postkasten, oder einem kurzen Kontrollblick auf das iPhone-Display. Gestern früh war das Telefon mit einer Eilmeldung schneller.

Der ersten Bestürzung nachgebend (kann man real um einen IT-Milliardär aus Kalifornien trauern, dem man stets nur in digitaler Form begegnet ist?), schrieb ich in mein Facebook-Profil einige Sätze aus der berühmten Rede, die Mister Apple 2005 vor Uni-Absolventen in Stanford gehalten hatte: "Sich daran zu erinnern, dass man sterben muss, ist der beste Weg, um nicht zu glauben, dass man etwas zu verlieren hätte. Es gibt keinen Grund, nicht seinem Herzen zu folgen." Es war gegen 7 Uhr morgens, und ich war längst nicht mehr der Erste, der diesem Impuls nachgegeben hatte, bei der virtuellen Trauergemeinde nach Trost-Bits zu suchen. Im Profil einer Kollegin aus Berlin, die ich noch nie leibhaftig gesprochen habe, war nur ein einziges Wort zu lesen: "iHeaven". Wir wussten, was sie meinte und fühlte.

Jobs machte Maschinen zu Freunden fürs Leben

Für viele von uns war der Mann, der ein Leben lang Apple war, alles Mögliche. Er war der Weihnachtsmann, wann immer er in Jeans und schwarzem Rolli auf eine Bühne trat, um seinen Jüngern mit den magischen Worten "One more thing ..." irgendetwas zu präsentieren, das es im Idealfall so noch nicht gab und wir sofort besitzen wollten. Koste es, was er wolle. Er war der Buhmann, wenn ein Update oder ein Gerät mal wieder nicht genau das Detail lieferte, das wir schon so lange vermissten, weil die bei Apple natürlich genau wussten, dass sie uns so weiter im Zangengriff unserer eigenen Sehnsüchte hatten. Besonders schwere Fälle von kritikloser Begeisterung nannten ihn "iGod", und seine Neu-Schöpfung des Telefons war für sie, als er sie uns für einen Batzen Geld schenkte, standesgemäß das "Jesus Phone". Er war der gute Onkel Steve aus Amerika, dem man jederzeit gern sein Erspartes zusteckte. Bevor er kam, waren Computer böse und Microsoft und Bill Gates erst recht. Jobs machte Maschinen zu Freunden fürs Leben.

Bei einer USA-Reise vor einigen Jahren habe ich den kleinen iPod - den, der so aussah wie ein Päckchen Kaugummi - aus dem Apple-Laden in San Francisco am Zoll vorbei ins Flugzeug geschmuggelt. Ich wollte das Ding haben, unbedingt. Sollten die Amis mich doch verhaften, dachte ich mir und blieb unerwischt. Und erst vorgestern kaufte ich die neueste Episode der US-Arztserie "Grey's Anatomy" in Apples Supermarkt iTunes. Einer dieser Ärzte, die immer nur gnadenlos ehrlich sind, sagt dort: "Um ein Anführer zu sein, muss man die anderen nicht als Freunde haben. Man muss sie nur auf seine Seite ziehen." Der Satz hätte auch von Steve Jobs sein können.

Denn es gibt auch viele unschöne Legenden über den beinharten Konzernboss. Seine Mitarbeiter gingen, so heißt es, lieber zu Fuß, als mit dem gefürchteten Choleriker einen Fahrstuhl zu teilen, weil sie nie sicher sein konnten, am Ende der Fahrt noch ihren Job zu haben. Jobs parkte mit Vorliebe auf Behindertenparkplätzen. Er forderte nie weniger als 300 Prozent und war auch mit 150 nicht zufrieden.

Steve Jobs hat unsere, meine berufliche und private Welt mit iPod, iPhone und iPad stärker verändert als jeder andere Waren-Verkäufer. Er war Visionär, Ästhet, Marketing-Genie, Perfektionist. Eine unwiderstehliche Kombination aus Machtinstinkt und Charisma.

Die "Generation i", die alterslos ist und weltweit emotional untereinander vernetzt, ist seine Schöpfung. Durch ihn wurden wir freiwillig und begeistert zu einer Masse von Egoisten; jeder von uns wollte anders sein, jeder von uns wurde ein klein wenig so wie unendlich viele andere. Die weißen Kopfhörerkabel, Nabelschnüre und Markenzeichen unseres Musikgeschmacks, waren anfangs noch klare Distinktionsmerkmale. Wer sie gut sichtbar trug, signalisierte dem Rest der Welt: Ich bin einer von den Guten, einer von den Hipstern. Wo ich bin, ist vorn, wo ihr seid, ist bloß Mainstream. Das mit der Minderheit gab sich allerdings im Laufe der letzten Jahre. Kürzlich wurde gemeldet, dass Apple Inc. über mehr Barvermögen verfüge als die wirtschaftskrisengebeutelten USA und das wertvollste Unternehmen der Welt sei. Das Wort "Computer" ist aus dem Namen verschwunden - gehandelt wird mit einem Lebensgefühl. In einem frühen Interview hatte Jobs gesagt, er sei schon mit Mitte 20 um die 100 Millionen Dollar schwer gewesen. Aber es sei ihm nie ums Geld gegangen. Steinreich zu werden war für einen wie ihn keine Kunst, das war Handwerk. Die Kunst bestand darin, dabei die Welt eigenhändig zu verändern.

Jobs wusste, was wir wollten, um ein schöneres Leben zu führen, bevor wir es auch nur ahnten. Er verkaufte uns nicht Produkte, er erfüllte uns Träume. Er wusste, dass niemand freiwillig mit bockiger Computer-Software ringt, die einen mit arroganten Fehlermeldungsztexten anraunzt. Wer einen der frühen Macs einschaltete, wurde mit einem Lächeln begrüßt. Wer sein Laptop in den Ruhezustand versetzt, sieht an der Seite ein kleines Lichtlein so sanft pulsieren, als würde der Kumpel nur ein Nickerchen machen. Eine legendäre Werbekampagne betörte uns mit den Worten "Think Different" und Bildern von Querdenkern wie Picasso oder Martin Luther King. Ein legendärer, nur einmal ausgestrahlter Werbespot spielte 1984 mit der düsteren Utopie eines Orwellschen Überwachungsstaats, der durch eine von Jobs gesandte Lichtgestalt angegriffen wird.

Wir haben heute das Wissen der Welt in unseren Hosentaschen

Jobs hat uns aber auch kalt lächelnd in seinem durchdesignten Produkt-Universum versklavt. Seit es iPhone und iPad gibt, haben sich so ziemlich alle Ausreden fürs Nichtstun oder Nichterreichbarsein erledigt. Das Büro und der liebe Chef, die nörgelnde Gattin oder die geldgierige Teenager-Tochter - sie sind immer bei uns, in jeder Zeitzone, nur eine Mail entfernt. Das Netz ist lückenlos, der Ausschaltknopf die einzige Rettung vor Jobs' Joch. Wir haben das Wissen der Welt in unserer Hosentasche, abrufbar mit einem Fingerzeig. Für jeden Blödsinn obendrauf gibt es etliche Apps, die mein Smartphone und damit mich noch etwas klüger machen. Immer noch unglaublich für einen wie mich, der nicht als "digital native" auf die Welt gekommen ist. Ich kann mich noch dunkel an jene prähistorischen Jahre erinnern, in denen man zum Faxen eines "Telebriefs" ein Postamt, ein Formular und viel Geduld benötigte. Mein erster Computer - noch kein Apple und der letzte, bei dem das so war - baute seine Zeitlupen-Verbindung über ein Telefonhörer-Modem auf, das pfeifende Geräusche von sich gab, bevor es seinen Dienst einstellte.

In Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker "2001" gab es den sprechenden Computer "HAL 9000", der verstand und mitunter auch tat, was man ihm sagte. In wenigen Tagen wird Jobs mit "Siri" diesen Traum wahrer werden lassen. Mit einer Software für das gerade vorgestellte iPhone 4S, die kapieren soll, was User von ihr wollen, und freundlich zurückflötet. Was das aus uns macht, wird ihr Schöpfer nicht mehr erleben. Es ist die letzte große Tragik seines Lebens, dass ein Kontroll-Fanatiker wie er vor einem unkontrollierbaren Bauchspeicheldrüsenkrebs kapitulieren musste. Mitte August krönte er seinen Nachfolger Tim Cook. Seine Zeit war gekommen. Apple wird von nun an Apple bleiben, aber nicht mehr Apple sein.

Unsere Zukunft ist eine nach seinen Spielregeln

Unsere Zukunft, wie Steve Jobs sie sah, ist eine Zukunft ausschließlich nach seinen Spielregeln. Mit der Idee, Musik tragbar und unsichtbar zu machen, hat er die komplette Musikindustrie revolutioniert. Die Buchbranche bekam zu spüren, was es heißt, digitalisiert zu werden. Glaubt man den Gerüchten, ist der TV-Markt der nächste Kandidat für eine freundliche Übernahme durch die herrschsüchtigen Apfelmännchen aus Cupertino. Die Welt, wie wir sie kennen, ist keine Scheibe, so viel steht dank Steve Jobs endgültig fest. Sie ist mehr und mehr ein Apfel. (abendblatt.de)