Für die AKW-Standorte sind längere Laufzeiten ein wirtschaftlicher Segen. Das Atomkraftwerk Brokdorf ist der bedeutendste Arbeitgeber in der Region.
Brokdorf. Werner Schultze ist ein stolzer Mann. Wenn er mit seinem dunklen Kombi durch Brokdorf fährt, dann grüßen ihn die Leute und Schultze grüßt zurück. Er ist der Bürgermeister der 1000-Einwohner-Gemeinde. Ehrenamtlich, wie das eben so ist auf dem Land. Einer, den man hier kennt und den man schätzt.
Schultze, das kann man sagen, hat es leicht in seinem Job. Denn während die Kommunen überall in der Bundesrepublik unter chronischer Geldnot leiden, geht es Brokdorf ausgesprochen gut. Der Grund ist das Atomkraftwerk auf der Südseite des Ortes. Brokdorfs größter und wichtigster Gewerbesteuerzahler, bedeutender Arbeitgeber in der Region und Standortfaktor Nummer eins. Daran wird sich auch in Zukunft kaum etwas ändern. In Berlin hat die schwarz-gelbe Bundesregierung die Laufzeitverlängerung der 17 deutschen Atomkraftwerke (AKW) unter Dach und Fach gebracht. Opposition, Umweltverbände und AKW-Gegner laufen seitdem Sturm. Brokdorf aber jubiliert. Die Einwohner werden weiterhin in einer der reichsten Gemeinden Norddeutschlands leben.
Der Brokdorfer Meiler gehört zu 80 Prozent dem Energiekonzern E.on und zu 20 Prozent dem schwedischen Unternehmen Vattenfall. Statt bis 2019, wie beim Atomausstieg unter Rot-Grün vereinbart, wird er nun mindestens bis 2033 weiterlaufen. "Die richtige Entscheidung für die richtige Energie", sagt Bürgermeister Schultze. Wie alle Befürworter der längeren Laufzeiten spricht er von Kernenergie und nicht von Atomenergie. Auch E.on nennt die Brokdorfer Anlage ganz offiziell ein Kernkraftwerk.
Die Sache mit der Kernkraft sieht CDU-Mann Schultze ganz rational: Sauber sei sie und sicher, und überhaupt müsse man anerkennen, dass sie nun schon Jahrzehnte friedlich zur Energiegewinnung genutzt werde. "Wie alle Technologien ist auch die Kernkraft beherrschbar", sagt er, "auch wenn es natürlich Risiken gibt." Schultze, 65 Jahre alt, kam vor 30 Jahren nach Brokdorf, der Liebe wegen. Sein Haar ist weiß, das Gesicht braun, er ist viel draußen, das sieht man ihm an. Aber Schultze, Techniker im Ruhestand, hat sich auch das Innenleben des Meilers in seiner Gemeinde angesehen. Und glaubt fest an dessen Sicherheit. 209 Betriebsstörungen hat es bislang zwar gegeben, jedoch winkt Schultze ab. "Keine davon war jemals sicherheitsrelevant."
Ein Dorf und sein Kraftwerk - so ist das hier. Das idyllische Brokdorf, eingerahmt von der Elbe auf der einen und sattgrünen Schafsweiden auf der anderen Seite ist abhängig von seinem Meiler wie ein Raucher vom Nikotin. Dabei geht es um weit mehr als nur die Gewerbesteuereinnahmen, die mittlerweile gar nicht mehr so hoch sind, wie sie einmal waren. Aktuell werden rund 550.000 Euro in die Gemeindekasse gespült. Vor Jahren allerdings ging es um Beträge im mehr als siebenstelligen Bereich. 2006 kam durch Nachzahlungen sogar eine Summe von 19,1 Millionen Euro zusammen. Das summiert sich mit der Zeit, dazu kommen die Zinsen. Viel bedeutender allerdings sind die Profite der lokalen Wirtschaft. "Da hängt viel dran", bestätigt Schultze. Konkret heißt das: Gerüstbauer, Malerbetriebe, Reinigungsfirmen und sogar der Supermarkt sind vom Kraftwerk abhängig. 320 Mitarbeiter sind direkt dort beschäftigt - wie viele dem Meiler indirekt ihren Job verdanken, kann nur gemutmaßt werden. E.on spricht von mehr als 2000 Dienstleistern, die pro Anlage profitieren. "Der Umsatz dieser meist mittelständischen Fremdfirmen liegt in der Summe jährlich im zweistelligen Millionenbereich", schreibt der Konzern.
Geht das AKW also vom Netz, brauchen die angehängten Unternehmen einen Plan B. Zudem hat sich Brokdorf in den vergangenen Jahren diverse Luxusartikel mit einem millionenschweren Investitionsvolumen geleistet, die sich ohne das Geld aus der Atomindustrie nicht ewig weiterfinanzieren lassen. Da wären ein beheiztes Freibad mit einer 100 Meter langen Wasserrutsche direkt hinter dem Deich, eine große Sportanlage mit Kraftraum, Sauna und Fußballplatz samt überdachter Tribüne und schließlich eine Eishalle, in der die Brokdorfer für günstige drei Euro Eintritt in den Wintermonaten ihre Runden drehen können. Brokdorf soll nicht mehr nur irgendein AKW-Standort an der Unterelbe sein, sondern ein Naherholungsgebiet und Touristenmagnet. Ein Ort mit Zukunft.
Entsprechend günstig sind auch die Kindergartenplätze. Für 70 Euro im Monat sind sie zu haben, das ist deutlich günstiger als im Rest von Schleswig-Holstein, wo unter 100 Euro meist nichts zu machen ist. Die Kita Brokdorf liegt an der Hauptstraße, ganz in der Nähe der Sportanlage und des gemeindefinanzierten Supermarktes. Ein roter Backsteinbau, bunte Bilder in den Fenstern, dahinter der Deich. Anke Rahna arbeitet hier, 53 Jahre alt, waschechte Brokdorferin von Geburt an. "Das AKW war nie ein Problem für uns", sagt sie. Nur damals vielleicht, in der Bauphase ab 1976, als es immer wieder große Proteste gab und viel los war im Dorf. Als im kalten Februar 1981 die Hubschrauber über den Köpfen von rund 100.000 AKW-Gegnern kreisten. Militante Demonstranten Zaunpfähle aus den hart gefrorenen Koppeln rissen und damit vor die Anlage zogen. Brokdorf, das war damals ein bundesweites Symbol für den Widerstand gegen Atomkraft. Aber das ist jetzt 30 Jahre her. Seitdem ist es ruhig geworden.
Rahna hat keine Angst, neben einem AKW zu wohnen. Fürchtet sich nicht vor Strahlen oder gar einem Großunfall oder Terroranschlag. "Das ist doch eine absolut sichere Anlage", sagt sie. Studien, die ein erhöhtes Krebs-Risiko in AKW-Nähe nachweisen, hält sie für unglaubwürdig. "Da ist doch nichts erwiesen." Rahna sagt, das sehe auch das Gros der Brokdorfer so. "Es gibt eine absolut positive Stimmung hier. Wir profitieren doch alle davon."
Ein paar Atom-Gegner gibt es dann aber doch. Regelmäßig halten sie eine Mahnwache vor den Werkstoren ab. Prominentester Vertreter der Widerständler ist Karsten Hinrichsen, der seiner Zeit durch alle Instanzen gegen die Inbetriebnahme des Werkes klagte. Noch heute wohnt er im Dorf, noch heute macht er gegen Kernkraft mobil. Erst im April hat eine 120 Kilometer lange Menschenkette mit mehr als 100.000 Teilnehmern gegen Atomkraft demonstriert. Von Brunsbüttel durch Brokdorf bis zum Meiler in Krümmel.
"Eigentlich müsste man auch mal eine Menschenkette für die Kernkraft machen", findet der Bürgermeister. Zwei Jahre ist er jetzt im Amt. Gemeinsam mit seinem Vorgänger und der elfköpfigen Gemeindevertretung ist Brokdorf zu einem Dorf geworden, das nicht nur Idylle, sondern auch Lebensstandards bietet, von denen andere Gemeinden nur träumen können. 1970, bevor der Meiler gebaut wurde, wohnten noch 700 Menschen in Brokdorf. Heute sind es 1047. Das Dorf wächst weiter, denn Bauland ist günstig. Wohlstand zieht eben. Und kann auch über eine Wohnzimmeraussicht auf die weiße Kuppel des Meilers hinweghelfen.