Berlin. Kontaktbeschränkungen können das Gefühl von Isolation verstärken. Der Psychiater Andreas Meyer-Lindenberg erklärt, was helfen kann.

Bund und Länder appellieren an die Bundesbürger, ihre Kontakte in diesem Winter maximal einzuschränken. Ziel ist, das Gesundheitssystem weiter zu entlasten. Diese Kontaktbeschränkungen stellen viele vor Herausforderungen – und verstärken die Einsamkeit mancher. Psychiater Andreas Meyer-Lindenberg ist Vorsitzender des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim. Im Gespräch erklärt er, wie man der Einsamkeit entrinnen kann.

Herr Meyer-Lindenberg, die strengen Beschränkungen für persönliche Kontakte werden noch einmal für mehrere Wochen verschärft. Wie wirkt das auf die menschliche Seele?

Andreas Meyer-Lindenberg: Wir wissen aus vorherigen Isolationsmaßnahmen, dass es Menschen gibt, die länger damit zu kämpfen haben. Zum Beispiel mit Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen. Insgesamt betrifft das aber eine überschaubare Gruppe. Große Sorgen müssen wir uns deshalb nicht machen, sollten aber sehr genau darauf achten, wie es uns in einer solchen Ausnahmesituation geht.

Die Phase der Kontaktbeschränkungen fällt jetzt in eine Zeit, in der die Menschen ohnehin eher zu Melancholie neigen. Macht das die Situation schwieriger?

Meyer-Lindenberg: Davon muss man ausgehen. Es ist tatsächlich so, dass die Feiertage an sich bereits für viele eine schwierige Zeit sind. Auch die dunkle Jahreszeit kann auf die Stimmung schlagen. Nun kommt beides zusammen.

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Fachpersonen raten, soziale Kontakte über das Internet zu pflegen. Aber können solche Verabredungen qualitativ überhaupt mit echten Begegnungen mithalten?

Meyer-Lindenberg: Früher hätte man in der Forschung ganz klar gesagt: Nein. Kontakte im realen Raum sind deutlich wichtiger für das Wohlbefinden. Heute kann man das nicht mehr so klar beantworten. Auch virtuelle Kontakte sind echte soziale Kontakte. Sie sind in ihrer Wirkung auf unser Wohlbefinden zwar noch immer etwas schwächer, aber man sollte sie deshalb nicht gering schätzen.

Schon vor Ausbruch der Pandemie kamen Studien zu dem Ergebnis, dass die Zahl einsamer Menschen steigt. Woran liegt das?

Meyer-Lindenberg: Vor allem an der Art und Weise, wie wir leben: Die Familiengröße nimmt ab, Menschen wohnen häufiger alleine. Es gibt mehr Kleinfamilien und auch Single-Haushalte. Immer mehr Menschen ziehen in Städte, wo die Zahl derer, mit denen sie engen sozialen Kontakt haben, geringer ist als auf dem Land. All das führt zu einem deutlichen Anstieg der Einsamkeit über alle Altersgruppen hinweg. Und: Obwohl das Gefühl im Alter zunimmt, fühlen sich mittlerweile selbst über acht Prozent der Schulkinder einsam.

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Ganz grundsätzlich: Worin unterscheiden sich Einsamkeit und Alleinsein?

Meyer-Lindenberg: Einsam sein bedeutet, dass ich nicht die sozialen Kontakte habe, die ich will. Es besteht ein Missverhältnis zwischen dem, was ich möchte, und dem, was ich bekomme. Allein sein wiederum bedeutet, dass ich zwar objektiv wenige soziale Kontakte habe, mir das so aber vielleicht ganz recht ist.

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Kann sich der Mensch an das Alleinsein gewöhnen?

Meyer-Lindenberg: Ja, aber nicht unbedingt im guten Sinne. Wir wissen, dass Menschen, die längere Zeit einsam sind, damit beginnen, andere verzerrt wahrzunehmen. Sie entwickeln den Eindruck, andere Personen würden nichts mit ihnen zu tun haben wollen, sie gar ablehnen, obwohl das Gegenüber das überhaupt nicht ausdrücken möchte. Das kann dazu führen, dass sich die Einsamkeit noch verstärkt. Weil man sich leichter zurückgewiesen fühlt.

Leiden jene jetzt mehr, die einsam in die Corona-Krise hineingegangen sind?

Meyer-Lindenberg: Einsamkeit ist eine Form von chronischem sozialen Stress. Wer einsam ist, hat ein höheres Risiko, körperliche wie psychische Erkrankungen zu entwickeln.

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Welche zum Beispiel?

Meyer-Lindenberg: Daten belegen, dass Menschen, die einsamer sind, einen höheren Blutdruck haben. Außerdem haben sie ein höheres Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu leiden, depressiv zu werden oder eine Angsterkrankung zu entwickeln.

Andreas Meyer-Linderberg.
Andreas Meyer-Linderberg. © Privat | Privat

Was können Alleinstehende aktuell tun, um der Einsamkeit zu entrinnen?

Meyer-Lindenberg: Sie sollten die Kontakte, die sie haben, nutzen, nach Möglichkeit intensivieren und bewusst gestalten. Darüber hinaus sollten sie von allen verfügbaren Kanälen auch wirklich Gebrauch machen. Daten legen nahe, dass es beispielsweise besser ist, einen Videoanruf zu tätigen, statt nur zu telefonieren. Telefonieren wiederum ist besser, statt nur zu texten. Außerdem hilft es dem eigenen Wohlbefinden, etwas für andere zu tun. Zum Beispiel für Nachbarn einkaufen zu gehen. Auch dann, wenn ich die Person nicht physisch treffen kann, sondern die Einkäufe vor deren Tür abstelle.

Hilft es, sich bewusst zu machen, dass man nicht als Einziger oder Einzige allein ist?

Meyer-Lindenberg: Aus Erfahrung wissen wir, dass das sehr hilfreich ist. Denn eine Sache, die von vielen Menschen als belastend empfunden wurde, war, wenn nur eine bestimmte Gruppe in Quarantäne geschickt wurde. Diese Menschen haben sich dann besonders ausgegrenzt und zum Teil auch stigmatisiert gefühlt. Das Problem haben wir aktuell nicht, weil wir alle im selben Boot sitzen.

Können wir das Alleinsein auch gewinnbringend nutzen, indem wir uns beispielsweise auf uns selbst konzentrieren?

Meyer-Lindenberg: Das ist auch eine Frage der Einstellung: Reibe ich mich daran, dass ich die Situation nicht primär gewollt habe, oder sehe ich die Chance in der Situation? Das ist etwas, das wir als Psychotherapeuten häufig mit unseren Klienten besprechen. Wir raten ihnen dann dazu, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die sie beeinflussen können. Das ist oft einfacher gesagt als getan. Aber es hilft.