Berlin. Geldsorgen, aufgeschobene Familienplanung, Selbstzweifel: Warum so viele Menschen mit Ende Zwanzig in eine „Quarterlife Crisis“ rutschen.

Rund drei Millionen Menschen haben seine Youtube-Kanäle abonniert, die dort veröffentlichten Videos wurden mehr als 380 Millionen mal gestreamt: Rezo zählt zu den erfolgreichsten Internetpersönlichkeiten des Landes.

Allein sein 2019 veröffentlichter Clip „Die Zerstörung der CDU“ brachte ihm Millionen Klicks ein und ebendiese Partei auch in einige Erklärungsnot. Für das knapp 55-minütige Video, in dem er junge Wählerinnen und Wähler unter anderem dazu aufrief, die Unionsparteien nicht zu wählen, wurde der Influencer mit mehreren renommierten Journalistenpreisen ausgezeichnet.

Kurzum: Seiner medialen Arbeit wegen hat der Mittzwanziger „jetzt schon so viele Erfahrungen gesammelt, die ich mir vorher niemals erhofft hätte“, wie er in einem Podcast der „Zeit“ erzählt.

Junge Erwachsene stolpern über existenzielle Sorgen

Mit vorher meint Rezo die Zeit, in der er noch kein erfolgreicher Youtuber war, er kurz vor dem Abschluss seines Studiums stand und offenbar in einer Sinnkrise steckte.

„Ich wusste, in einem bis eineinhalb Jahren ist die Uni zu Ende – dann hab ich einen festen Job, dann sind die nächsten 30 Jahre vielleicht sehr gleich. Danach bin ich so alt, dass mir alles wehtut und ich keinen Bock mehr habe, wirklich was zu machen“, sinnierte Rezo. Er habe sich gefragt: „Waren die Entscheidungen in meinem Leben richtig? Hätte ich eine Weltreise machen sollen?“

Quarterlife Crisis: Noch vor dem 30. in einer tiefen Sinnkrise

Es sind ebendiese Gedanken und existenziellen Sorgen, über die immer mehr junge Erwachsene stolpern, wenn sie sich an der Schwelle zwischen akademischer Ausbildung und Beruf befinden. Immerhin 67 Prozent der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gaben in einer Linkedin-Umfrage an, bereits vor ihrem 30. Geburtstag an einem persönlichen Tiefpunkt angelangt zu sein.

Die Sinnkrise der Mittzwanziger ist so weit verbreitet, dass sie mittlerweile den populärpsychologischen Begriff „Quarterlife-Crisis“ hervorgebracht hat, wie Werner Gross, Psychologe, Psychotherapeut und Autor („Smart Career. Die Kunst, einen schweren Job leichtzunehmen“) aus Offenbach bestätigt.

Geprägt haben ihn die amerikanischen Journalistinnen Alexandra Robbins und Abby Wilner. Bereits 2001 veröffentlichten sie ihr gleichnamiges Buch, in dem die Autorinnen darauf hinwiesen, dass besonders „Mittzwanziger extrem anfällig für Zweifel (sind). Sie zweifeln an ihren Entscheidungen, ihren Fähigkeiten, ihrer Auffassungsgabe, ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“

Quarterlife Crisis: Ebensoviele Betroffene wie Midlife Crisis

Tatsächlich geraten ebenso viele junge Menschen in eine Quarterlife-Crisis wie mittelalte in eine Midlife-Crisis. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Psychologen Oliver Robinson von der University of Greenwich in London. Demnach ähnelten sich die Phänomene auch in ihren Merkmalen: Beide Episoden seien von Unsicherheit, Depression, Enttäuschung und Einsamkeit geprägt.

Ein Großteil der Betroffenen gerät demnach im Alter von rund 30 Jahren in eine Quarterlife-Crisis – „wenn Erwachsene den Druck verspüren, noch vor ihrem 35. Lebensjahr erfolgreich sein zu müssen“, schreibt Robinson.

Angst vor dem Start ins Berufsleben

Oft hätten sie das Gefühl, ein Leben im Autopilotmodus zu führen und Gefangene ihrer bisherigen Entscheidungen zu sein. „Sie scheuen sich vor dem Sprung ins kalte Wasser des Berufslebens“, sagt Gross. „Vorher ging es nur ums Trockenschwimmen. Damit verbunden ist natürlich auch die Frage, ob sie sich überhaupt für den richtigen Beruf entschieden haben.“

Erst Schulabschluss, dann Ausbildung und schließlich der Start ins Erwerbsleben: Etliche Jahre verlaufen die Leben junger Menschen nach einem streng getakteten Zeitplan, der wenig Abweichungen zulässt.

„Unser Bildungssystem bereitet uns kaum auf das reale Leben vor. Es eicht uns vielmehr darauf, den eigenen Selbstwert durch gute Noten und Abschlüsse zu stabilisieren. Wenn das wegbricht, braucht man erst einmal Ersatz“, erklärt Psychotherapeutin Ulrike Schneider-Schmid. In ihrer Praxis arbeitet sie mit Millennials, von denen viele nicht mehr wissen, wer sie sind, was sie wollen und wohin es gehen soll.

Finanzielle Sorgen und Wohnortwechsel machen vielen Angst

Ein weiteres Problem sieht Gross im „Terror des inneren Anspruchs“. Das meint: Je höher die eigenen Erwartungen und die des Umfeldes sind, desto größer ist die Gefahr, an ihnen zu zerbrechen – oder den bisherigen Lebensplan infrage zu stellen. Besonders Akademikerinnen und Akademiker neigten dazu.

Ferner sei der Berufsstart häufig mit finanziellen Sorgen, einem Wechsel des Wohnortes und damit der Angst vor dem Verlust von Freund- und Partnerschaften verbunden. Womit eine Identitätskrise bei vielen programmiert sei.

Auch der Wunsch nach einer eigenen Familie kann zusätzlich Druck aufbauen – „weil Betroffene oft nicht wissen, wann sie das Kinderkriegen überhaupt unterbekommen sollen“, sagt Ulrike Schneider-Schmid. Tatsächlich haben Ausbildung und Karriere bei vielen Millennials Vorrang vor der Familienplanung.

Die Zahl der älteren Mütter hat sich laut dem Statistischem Bundesamt seit dem Jahr 1990 beinahe vervierfacht. 2017 lag das Durchschnittsalter von Frauen bei der Geburt des ersten Kindes bei 30 Jahren.

Schlafstörungen, Ausschläge, Magen-Darm-Beschwerden

Robinsons Studie aus dem Jahr 2011 stützt die Erfahrungen der Psychotherapeuten. Demnach fühlen sich Menschen in einer Quarterlife-Crisis in erster Linie unter Druck gesetzt – sei es von anderen oder von sich selbst: 40 Prozent der Befragten hatten Geldsorgen, 32 Prozent litten unter der Erwartung oder dem Wunsch, mit 30 verheiratet zu sein und Kinder zu haben. 21 Prozent der Teilnehmenden waren so unglücklich mit ihrem Beruf, dass sie in eine andere Branche wechseln wollten.

Eine Untersuchung der „Harvard Business Review“ unter immerhin 88.000 Menschen kommt sogar zu dem Schluss, dass der Mensch zu keiner Zeit seines Lebens mit einem so plötzlichen Anstieg an Stress zurechtkommen muss wie in den späten Zwanzigern. Diese Phase sei die schlimmste Zeit des Lebens, resümieren die Forscherinnen und Forscher.

Quarterlife Crisis belastet Psyche und Körper gleichermaßen

Und so belastet die Sinnkrise vieler Mittzwanziger letztlich nicht nur ihre Psyche, sondern auch ihren Körper. Schlafstörungen, Hautausschläge oder Magen-Darm-Beschwerden sind typische Anzeichen, so Gross.

Doch es gibt auch eine gute Nachricht: „Die Quarterlife-Crisis ist eine normale Entwicklungskrise, von denen es im Leben viele gibt. Und die meisten finden da auch allein wieder heraus“, weiß Schneider-Schmid.

Statt sich in negativen Gedankenspiralen zu verfangen, sollten sich Betroffene auf ihre Stärken konzentrieren und das sogenannte Hier-und-jetzt-Belohnungssystem aktivieren. Dabei helfen etwa Achtsamkeitstrainings oder der Austausch über die eigenen Ängste – „im besten Fall mit einer Mentorin oder einem Mentor, der die Quarterlife-Crisis bereits überwunden hat“, so Schneider-Schmid.