Hannover. Mit Fieber gewinnt Kümmert den ESC-Vorentscheid und soll in Wien antreten. Doch er lässt der Hamburgerin Ann Sophie den Vortritt.
Der deutsche ESC-Vorentscheid in Hannover hatte es in sich: Zum einen gab es einen Eklat um die Finalisten - zum anderen bewies die Sendung, dass Fernsehen noch authentisch sein und für Überraschungen sorgen kann. Denn Newcomerin Ann Sophie wird Deutschland beim Eurovision Song Contest in Österreich vertreten - obwohl eigentlich Andreas Kümmert die Wahl gewonnen hatte. Doch er weigerte sich, sie anzunehmen. Das Publikum reagierte mit Buh-Rufen.
Die Hamburgerin, die in New York ihre Musikkarriere startete, hatte sich im Februar beim ESC-Clubkonzert die Wildcard für den deutschen Vorentscheid gesichert. In der live aus Hannover übertragenen ARD-Show „Unser Song für Österreich“ schlug Rock- und Bluessänger Andreas Kümmert die Hamburger Sängerin Ann Sophie im Finale. Die meisten Zuschauer hatten für ihn angerufen.
Als er seinen Titel noch einmal singen sollte, wollte er plötzlich ein paar Worte zu den Zusehern sagen. "Ich bin ein kleiner Sänger", so Kümmert. "Ich bin nicht wirklich in der Verfassung, diese Wahl anzunehmen", sagte der 28-Jährige nach seinem Sieg. Er glaube nicht, dass er es so gut könne, wie die eigentlich zweitplatzierte Ann Sophie.
"Fahr ich jetzt nach Wien?"
Moderatorin Barbara Schöneberger erklärte in einer spontanen Reaktion Ann Sophie zur deutschen ESC-Teilnehmerin. Die konnte es kaum glauben. "Fahr ich jetzt nach Wien?", fragte sie ungläubig. Und wandte sich an das Publikum in Hannover: "Wollt ihr das überhaupt?" Schöneberger sagte ohne weitere Absprache mit den ARD-Verantwortlichen: "Du fährst jetzt nach Wien".
Die Newcomerin Ann Sophie hatte sich bei einem Clubkonzert die „Wildcard“ gesichert und trat in Hannover gegen Fahrenhaidt, Faun, Alexa Feser, Mrs. Greenbird, Andreas Kümmert, Laing sowie Noize Generation an. Nach der ersten Runde der Live-Show wurde Ann Sophie ins Halbfinale gewählt und zählte somit zu den besten vier Künstlern des Vorentscheids. Die Zuschauer verhalfen ihr und Andreas Kümmert dann sogar ins Finale.
Zwischenzeitlich war die Live-Sendung unangenehm mit vorproduzierten Einspielern aufgefallen. Die Gewinner der jeweiligen Finalrunden erzählten in den Clips, wie sehr sie sich darüber freuen würden, weitergekommen zu sein. Das nahm der Show den Live-Charakter. Doch die offenbar nicht abgesprochene Aktion von Andreas Kümmert sorgte für einen Schock - bei Konkurrentin Ann Sophie, dem Publikum und vermutlich auch den Organisatoren.
Nur Barbara Schöneberger blieb gelassen und nahm Kümmerts Entscheidung hin. Erfrischende Spontaneität im sonst durchformatierten und reality-gescripteten TV.
Hamburgerin vertritt Deutschland in Wien
Eine Hamburgerin wird Deutschland also beim Eurovision Song Contest in Österreich vertreten. Ein beeindruckender, aber auch glücklicher Durchmarsch, wenn man bedenkt, dass Ann Sophie nur Dank einer Wildcard beim ESC-Clubkonzert antreten durfte.
Bleibt nur das Rätsel, warum ein so guter Sänger wie Andreas Kümmert auf die Chance in Wien verzichtet. Manche fragten sich zuvor, warum er überhaupt angetreten war. Der Rock- und Bluessänger hatte vor einem Jahr die Castingshow „The Voice of Germany“ gewonnen, schien sich aber nie wohl im Medienzirkus zu fühlen.
Ann Sophie sieht sich als „Rampensau“
Noch am Tag vor dem Vorentscheid hatte er die Proben verpasst. Er war mit 40 Grad Fieber beim Arzt, wie es in der Show hieß. Kümmert hat nicht nur eine Riesenstimme, er bringt Tiefe und viele Facetten in seine Songs. Leichtfertig hat er die Entscheidung sicherlich nicht getroffen. Nach seinem Abgang wirkt er zerknirscht.
Die 24-jährige Ann Sophie bekommt nun die Chance, sich beim ESC-Finale am 23. Mai in Wien vor einem Millionenpublikum zu präsentieren. Geschätzte 180 Millionen TV-Zuschauer in aller Welt hatten das Finale im vergangenen Jahr angesehen. Die Hamburgerin bezeichnet sich selbst als „Rampensau“, sie versprüht natürlichen Charme und wirkt echt. Manche mag ihr Auftritt an Lena Meyer-Landrut erinnert haben, die 2010 den Eurovision Song Contest für Deutschland gewann.
Vor dem Vorentscheid
Die Musikstile beim Vorentscheid reichten von Pop über Folk bis hin zu Elektronik. Allein die Zuschauer bestimmten per Anruf oder SMS den Gewinner. Musikalische Gäste außer Konkurrenz waren in Hannover der Chartstürmer Mark Foster („Flash mich“) sowie die Schweizer Pop- und Soulsängerin Stefanie Heinzmann. Die Show wurde durch die Gewinnerin des Eurovision Song Contest 2014, Conchita Wurst, eröffnet. Die bärtige Dragqueen aus Österreich wirbt seit ihrem ESC-Triumph weltweit für Toleranz. In Hannover stellte Wurst zum ersten Mal ihren neuen Song vor.
Seit 1956 geht der europäische Sängerwettstreit jedes Jahr über die Bühne, bei der 60. Jubiläumsausgabe darf einmalig Australien mitmachen. Deutschland hat mit Nicole (1982) und Lena Meyer-Landrut (2010) zweimal gewonnen. Im vergangenen Jahr hatte das Frauentrio Elaiza für Deutschland den enttäuschenden 18. Platz belegt.
Die Teilnehmer
Unter den Bewerbern um den deutschen Startplatz beim Eurovision Song Contest in Wien tummelten sich Sieger von Castingshows der Privatsender. Die große Prominenz war dieses Mal nicht dabei.
Der „The Voice“-Sieger Andreas Kümmert ist wohl der bekannteste Anwärter. Nach dem Triumph in der Castingshow von ProSieben und Sat.1 mied der Bayer den großen Auftritt in Medien und gab lieber Konzerte. Seine Interpretation von Elton Johns „Rocket Man“ ist vielen im Ohr.
Der Musikstil der Band Faun nennt sich „Pagan-Folk“. Da schwingen Mystik, Minnesang und Mittelalter mit. Die sechs Künstler kombinieren Instrumente wie Drehleier, Harfe und Dudelsack. Der Durchbruch gelang Faun 2013 mit dem Album „Von den Elben“. Das Album „Luna“ erreichte 2014 Platz vier der deutschen Charts.
Von Null auf Platz eins der Album-Charts schaffte es das Kölner Duo Mrs. Greenbird Ende 2012 mit seinem Debüt, das sich mehr als 160.000 Mal verkaufte. Auch diese zwei Musiker haben eine Casting-Show gewonnen, nämlich das eingestellte Vox-Format „X Factor“. Sie nennen ihren Stil „Singersongwritercountryfolkpop“.
Elektronisch geht es bei Laing zu. Mit der Single „Morgens immer müde“ wurde das Berliner Damenquartett in ganz Deutschland bekannt. Kürzlich ist das zweite Album erschienen.
Noize Generation ist der Bühnenname von Jewgeni Grischbowski („Jeff“). „Der 1992 geborene Wahlmünchner gehört mit seinen Tracks und Remixen seit Jahren zu den Szenegrößen im Bereich der elektronischen Musik“, berichtet der NDR. Mittlerweile habe er sein Klavier- und Gitarrenspiel neu entdeckt und bewege sich zwischen elektronischen Klängen und Songwriting.
Alexa Feser jobbte früher als DJ, Zeitungszustellerin und Flugbegleiterin, um ihre Musik zu finanzieren. Inzwischen hat die Wiesbadenerin ein erfolgreiches Debütalbum („Gold von morgen“) veröffentlicht. Ihre Deutschlandtournee war ausverkauft.
Hinter dem Projekt Fahrenhaidt stehen die Berliner Musikproduzenten Erik Macholl und Andreas John. Ziel des Duos sei es, „den gestressten Menschen von heute durch seine Kompositionen Ruhe und Entspannung zu bringen“, bringt es der NDR auf den Punkt. Ihren Stil beschreiben die zwei als „modernen Nature-Pop“.
Abschließend bleibt noch die Newcomerin Ann Sophie aus Hamburg. Mit ihrem souligen Popsong „Jump The Gun“ und einem Auftritt im aufsehenerregenden rückenfreien Hosenanzug begeisterte sie das Publikum. Sie dürfte besonders viel Aufmerksamkeit erhalten, denn voriges Jahr hatten mit Elaiza ausgerechnet die Quereinsteiger gewonnen.
Australien schickt Guy Sebastian
Australien tritt bei seiner ersten Teilnahme am Eurovision Song Contest mit Guy Sebastian (33) an. Der öffentliche Sender SBS präsentierte den Sänger am Donnerstag im Opernhaus Sydney. Sebastian - bekannt für schnulzige Balladen - sagte, es sei noch nicht entschieden, mit welchem Song er antrete.
Sebastian hatte 2003 die australische Variante von „Deutschland sucht den Superstar“ gewonnen. Sein Debütsingle: „Angels Brought Me Here“ - Engel haben mich hergebracht. Der gebürtige Malaysier hat mehrere Hits mit Rhythm-and-Blues-Titeln und Soul gelandet.
Es gebe eine große Fangemeinde in Australien, deshalb habe man das Land zur 60. Ausgabe der Show aus Europa eingeladen, hatte der österreichische Rundfunk im Februar mitgeteilt. Australien erhält einen Startplatz direkt im Finale, genauso wie Deutschland, Frankreich, Spanien, Großbritannien, Italien und Gastgeber Österreich.