Mixturen wurden im Ausland beschafft. Hamburger Apothekerverein spricht von “Korruption und Körperverletzung“.
Hamburg. Sie durchsuchten Wohnungen, filzten Apotheken, schnüffelten durch Hightech-Labore und wühlten sich durch Aktenberge: Zweieinhalb Jahre nach dem Bekanntwerden des Skandals um gefälschte Krebsmittel haben Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland ihre Ermittlungen ausgeweitet und erste Anklagen gegen Apotheker verfasst. Vor allem Apotheken im Norden sind betroffen. In Hamburg gibt es ebenfalls Strafanzeigen wegen betrügerischer Abrechnungen.
Die AOK Niedersachsen, die mit der Techniker Krankenkasse (TK) die Fälle aufgedeckt hatte, beziffert den ihr entstandenen Schaden auf mehr als zwei Millionen Euro. Deutschlandweit dürften sich die Betrügereien auf einen zweistelligen Millionenbetrag summieren.
TK-Sprecher Hermann Bärenfänger sagte dem Abendblatt: "Es geht um Betrugsfälle zwischen 2000 und 500 000 Euro. Wir haben gegen mehr als 100 Apotheken Strafanzeige gestellt." Nach einem Bericht von NDR Info haben Staatsanwälte Apotheken in Augsburg, Braunschweig, Celle, Kiel, Mainz, Münster und Wuppertal im Visier. Nach Abendblatt-Informationen ist eine Apotheke F. in Südbaden durch besonders große kriminelle Energie aufgefallen. Die Ermittler der Staatsanwaltschaft Mannheim sprachen von 70 Apotheken in Deutschland, die sie unter die Lupe nehmen. Die Zahlen unterscheiden sich deshalb, weil es Jahre dauern kann von ersten Betrugshinweisen bis zu einer Beweiskette der Kasse, zur Anzeige und schließlich den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Von einem Urteil ist man dann noch weit entfernt.
"Es ist nicht einfach, überhaupt eine Staatsanwaltschaft zu finden", sagte TK-Sprecher Bärenfänger. Der Kriminologe und Jurist Prof. Bernd-Dieter Meier (Universität Hannover), der eine Studie zu Abrechnungsbetrug verfasst hat, sagte dem Abendblatt: "Es wäre wünschenswert, wenn man die bekannt gewordenen Fälle effektiver verfolgen könnte. Es ist im Interesse der Kassen und der Patienten, wenn die Kassen mehr gegen diese Betrügereien tun."
Die Fälle von gefälschten Krebsmedikamenten führen in ein "riesiges Geflecht" von Betrügereien, sagte der Vorsitzende des Hamburger Apothekervereins, Jörn Graue, dem Abendblatt. Graue spricht von "Betrug, Körperverletzung und Korruption". Er war in einem Kreis von hoch spezialisierten Ermittlern dem Skandal auf die Spur gekommen. "Für die Behörden ist es oft schwierig, eine schlüssige Anklage zu formulieren", so Graue. In Hamburg wurden einige Verfahren gegen Geldstrafen eingestellt.
Manche Apotheker bedienten sich eigener, neu gegründeter Labore. Diese tricksten mit Originalpräparaten und billiger hergestellten oder in Deutschland nicht zugelassenen Nachahmern. Sie rechneten Originale ab, obwohl sie für die Herstellung der Krebsmittel günstigere Präparate verwendet haben. Die Gewinnspannen der schwarzen Schafe sind immens.
Der in Fachkreisen als "Holmsland-Affäre" bekannte Skandal geht auf einen deutschen Pharmahändler zurück, der in Holmsland (Dänemark) arbeitete. Er ließ ein auffällig günstiges Krebsmittel (Rituximab) untersuchen, das er aus Dubai bezog. Die Probe erwies sich als Fälschung. Bei den Recherchen trat ein Netzwerk von Lieferanten und Abnehmern zutage, das ein deutscher Unternehmer mit einer Firma auf der Isle of Man gesponnen hatte.
Dass deutsche Krebspatienten tatsächlich zu Schaden gekommen sind, lässt sich kaum nachweisen. Apotheker-Chef Graue sagte: "Die meisten werden bereits verstorben sein."