Pioniere der Region: Eine Datenanalyse zeigt, wer in Buxtehude, Winsen, Harburg und Co. schon vor über 100 Jahren ein Auto oder Motorrad besaß.

Wer schon zu Kaisers Zeiten ein eigenes Auto lenkte, musste sehr reich sein, gut betuchten Menschen als Chauffeur dienen oder den Wagen dringend für das Geschäft benötigen. Welche Bürger bereits in den Anfangstagen der Motorisierung ein Kraftfahrzeug in welchem Ort angemeldet hatten und zu welchem Zweck – das verrät ein Blick in das „Deutsche Automobil-Adreßbuch 1909“. Das Abendblatt hat die Daten für Harburg und einzelne Orte in den heutigen Landkreisen Harburg, Stade und Lüneburg ausgewertet.

Es zeigt sich: In der Liste der lokalen Autopioniere tauchen viele Namen zwischen Lüneburg, Winsen und Stade auf, die auch knapp 120 Jahre später noch bekannt sind. So war etwa der spätere Buxtehuder Modehausgründer Ernst Stackmann früh motorisiert. Überhaupt war Buxtehude – lange vor der Miterfindung der Tempo-30-Zone – mindestens aus feministischer Sicht eine bedeutende Autostadt. Für die damalige Stadt Harburg tun sich wiederum Lücken im Datensatz auf.

Als die „autofreie Stadt“ überall noch Realität war

Rund 45.000 Kraftfahrzeuge führt das Verzeichnis für das gesamte damalige Deutsche Reich im Jahr 1909 auf – inbegriffen sind Automobile und Motorräder. Zum Vergleich: Heute beläuft sich die Zahl aller Kraftfahrzeuge in Deutschland auf 59,6 Millionen. Im Jahr 2021 kamen hierzulande 580 Pkw auf 1000 Einwohner. Im Deutschen Reich lebten laut Volkszählung (1910) 64,9 Millionen Einwohner. Der aktuelle Bevölkerungsstand beläuft sich auf 84,1 Millionen.

Wie nahe die Verkehrsverhältnisse der heute wieder angesagten „autofreien Stadt“ damals noch waren, zeigt die Grafik mit einer Übersicht aller verzeichneten Kraftfahrzeuge im Jahr 1909 in ausgewählten Orten der Region. Zu sehen ist die Anzahl (1) der „Wagen für Luxus-, Vergnügung- und Sportzwecke“ (also Privatwagen), (2) der „Wagen zu Berufszwecken oder Geschäftszwecken“ sowie (3) der „Krafträder (beliebiger Zweck)“ Zur Einordnung: Im Hamburger Stadtgebiet waren 813 Kraftfahrzeuge eingetragen. Im Süden lag die Anzahl in den Städten und Gemeinden jeweils unter 25.

Automobile in Harburg, 1909 HA Grafik, HA Infografik
Automobile in Harburg, 1909 HA Grafik, HA Infografik © HA Grafik, HA Infografik, F. Hasse | Frank Hasse

Zahlen für die heutigen Landkreise gehen aus dem „Deutschen Automobil-Adreßbuch 1909“, das die Technische Universität Braunschweig für die Öffentlichkeit digital zugänglich gemacht hat, nicht hervor. 2019 überführte der Verein für Computergenealogie (CompGen) die Einträge von 1210 Seiten in eine Datenbank.

„Aufstrebende Industriestadt“: Zahlen für Harburg wohl nicht weitergegeben

Dass das Verzeichnis Lücken aufweist und keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben kann, wie auch der NDR feststellte, zeigt das Beispiel Harburg. So ist kein einziges Auto für ganz Harburg aufgeführt. Lediglich ein auf den Händler Aug. Lauenstein angemeldetes Kraftrad ist zu finden.

Fabian Pleiser von der Geschichtswerkstatt Harburg sagt dazu auf Abendblatt-Nachfrage: „Als aufstrebende Industriestadt war Harburg selbstverständlich motorisiert, höchstwahrscheinlich sogar mehr als so manch andere preußische Mittelstadt.“ Einzig denkbarer Grund: die zuständige Behörde in Harburg habe die Daten wohl nicht übermittelt. Auch in Buchholz handelt es sich bei den aufgeführten drei Kraftfahrzeugen lediglich um Krafträder.

Die Zeit der Fabrikbesitzer: Wer sich schon ein Privatauto leisten konnte

Nichtsdestotrotz verschafft das „Adreßbuch 1909“ einen aufschlussreichen Einblick in die damaligen Verhältnisse. Auch, weil bekannte Familiennamen auftauchen und die Berufe der Autobesitzer aufgeführt sind. Obwohl die frühen Automobile aus heutiger Sicht wie bessere Kutschen aussehen, waren sie dem Adel und Großbürgertum vorbehalten. Privatwagen – die im Verzeichnis „Wagen für Luxus-, Vergnügung- und Sportzwecke – heißen, waren in der Region besonders häufig im Besitz von Fabrikbesitzern und -direktoren.

Der Harburger Bäcker Otto Wedemann besaß im Jahr 1927 ein Automobil und ein Pferdefuhrwerk.
Der Harburger Bäcker Otto Wedemann besaß im Jahr 1927 ein Automobil und ein Pferdefuhrwerk. © Wedemann | Wedemann

Drei der insgesamt sieben Privatwagen in Winsen laufen auf Personen mit dem Nachnamen „Eppen“. Darunter der „Kommerzienrat“ und bekannte Papierfabrikant Georg Gustav Ferdinand Eppen, der im Jahr 1974 im Alter von 100 Jahren starb. Ein weiterer „Luxuswagen“ gehörte dem Fabrikbesitzer Joseph Näylor. Gut im Geschäft scheint auch der Apotheker Dr. Theodor Meinecke gewesen zu sein. Dessen Name taucht für zwei Privatautos und ein gewerbliches Fahrzeug auf. Winsen weist mit rund 30 Prozent den im lokalen Vergleich höchsten Anteil an Luxuswagen auf. Deutschlandweit war jedes vierte Kraftfahrzeug ein „Wagen für Luxus-, Vergnügungs- und Sportszwecke“ – in Hamburg als Spitzenreiter jedes zweite.

Die Automobilistin Margarete Winter und der Autobrand

In Buxtehude gehörten sogar alle vorhanden drei Privatautos einem Fabrikanten: Otto Asmus Winter, Leiter der großen Lederfabrik Wachenfeld und Sprössling der Papierfabrikantenfamilie Winter. Eines der Fahrzeuge – ein Opel – war allerdings im Januar 1909 verbrannt, wie der lokalen polizeilichen Liste der zugelassenen Kraftfahrzeuge zu entnehmen ist. Das Dokument ist im Stadtarchiv Buxtehude einzusehen, ein Grund für den Vorfall wird darin nicht genannt.

Die Familie Winter besaß das erste Privatauto der Stadt, das im Jahr 1903 zugelassen wurde. So schreibt es der frühere Buxtehuder Stadtarchivar Bernd Utermöhlen im Buch „Heimatliches Buxtehude“. Margarete Winter, Frau von Otto Winter und Tochter des Lederfabrikgründers Otto Wachenfeld, gilt zudem als eine der ersten Automobilistinnen Deutschlands. Mit einem „neunpferdigen Wagen“ (9 PS) des Herstellers Opel fuhr sie 1903 von Buxtehude aus nach Wien und zurück. Mit einem neuen Wagen erkundete sie 1905 gemeinsam mit ihrem Sohn Europa und hielt die Erlebnisse in dem Buch „5000 Kilometer Autofahrt ohne Chauffeur“ fest.

Wie sich der „Automobilismus“ ab 1903 entwickelte

Dabei fiel der Fabrikantengattin auf, wie Motorisierung Anfang des 20. Jahrhundert erste Fahrt aufnahm. So sei sie auf der Fahrt nach Wien und zurück im Jahr 1903 auf weniger als 20 andere Autos getroffen. In diesem Jahr wurde der Deutsche Automobilclub (ADAC) gegründet. Nur zwei Jahre später habe sich das Verkehrsaufkommen sichtbar verstärkt, insbesondere in Frankreich. „Wie riesig hat aber auch überall sonst der Autosport zugenommen. Wie wird es nach weiteren zwei Jahren sein?!”, schreibt sie in dem Erfahrungsbericht. Ein Massenphänomen wurde der motorisierte Individualverkehr dann in den 30er-Jahren, die Pkw-Produktion ging erst viele Jahre später, nach dem Zweiten Weltkrieg, durch die Decke.

Mit einem Opel-Motorwagen 18/24 PS unternahm Margarete Winter im Jahr 1905 eine lange Reise durch Europa. Hier an der Loire zu sehen.
Mit einem Opel-Motorwagen 18/24 PS unternahm Margarete Winter im Jahr 1905 eine lange Reise durch Europa. Hier an der Loire zu sehen. © Margarete Winter | Margarete Winter

Margarete Winter ist derweil nicht nur als Automobil-Pionierin bekannt. Ihre Familie verpachtete das „Haus Wachenfeld“ in Obersalzberg an Adolf Hitler, der das Anwesen nach seiner Ernennung zum Reichskanzler zu dem „Berghof“ umbaute und schließlich von Margarete Winter kaufte.

Im „Adreßbuch 1909“ taucht in Buxtehude auch der Name Ernst Stackmann auf. Der spätere Mode- und Kaufhausgründer wird im Jahr 1909 als Besitzer eines Kraftrades geführt. Das Geschäft in der heutigen Buxtehuder Fußgängerzone sollte der Sohn einer Weinhändlerfamilie dann im Jahr 1919 eröffnen – zunächst als kleinen Manufaktur- und Modeladen. Nach der Jahrhundertwende war Ernst Stackmann für eine Lehre in einem großen Modehaus nach Berlin gegangen.

Henry P. Newman und wer südlich von Hamburg noch Auto fuhr

Zu der illustren Gruppe von Privatautohalter gehörte auch der Hamburger Geschäftsmann und Kulturmäzen Henry P. Newman, dessen Wagen in Hittfeld gemeldet war. In der Schriftenreihe „Mäzene für Wissenschaft“ schreibt die Autorin: „Als Naturfreund ruderte und wanderte Newman oft mit der Familie und war für jeden Spaß zu haben. Zuweilen nahm er sie auch in seinem Auto mit, das eines der ersten in Hamburg war.“

Mit einem Opel-Motorwagen 18/24 PS unternahm Margarete Winter im Jahr 1905 eine lange Reise durch Europa.
Mit einem Opel-Motorwagen 18/24 PS unternahm Margarete Winter im Jahr 1905 eine lange Reise durch Europa. © Margarete Winter | Margarete Winter

In Wilhelmsburg besaß der Mühlenbesitzer Georg Plange einen Privatwagen, in Stade hatte Lederfabrikant Leonhard Richarz zwei der fünf Wagen gemeldet. In Lüneburg gab es nur ein einziges „Luxusauto“ im Besitz des Kaufmanns Heinrich Meyer.

Für geschäftliche Zwecke nutzen in dieser frühen Phase der Automobilgeschichte in der Region insbesondere Viehhändler, Kaufleute, Ärzte und Tierärzte und Handwerker wie beispielsweise Mechaniker, Schmiede oder Braumeister das Auto oder das Motorrad.

Traditionsbackhaus Wedemann: Privatwagen noch lange großer Luxus

Besonders Privatwagen, aber auch gewerblich genutzte Autos blieben noch viele Jahre ein Besonderheit. Auch Ende der Zwanzigerjahre gehörten Autofahrer noch zu den Pionieren der Motorisierung, denn der erste Weltkrieg hatte den Aufstieg der Pkw-Branche unterbrochen und auch vielen Herstellern den Garaus gemacht.

So weiß Franziska Wedemann, Vorsitzende des Wirtschaftsvereins für den Hamburger Süden, zu berichten, dass ihr Großvater Otto Wedemann einer der ersten in seinem Umfeld war, der sogar einen Privatwagen fuhr. Otto II. hatte 1928 das Bäckereigeschäft seines Vaters in Rönneburg übernommen. Das Harburger Traditionsunternehmen existiert noch heute und war – wie berichtet – bis Mitte 2022 in Familienhand.

Eine historische Postkarte zeigt ein Kriegerdenkmal in Harburg mit Automobil um 1910.
Eine historische Postkarte zeigt ein Kriegerdenkmal in Harburg mit Automobil um 1910. © Unbekannt/Fabian Pleiser | Unbekannt/Fabian Pleiser

Ein Foto aus dem Jahr 1927 zeigt einen „Weedemann“-Lieferwagen vor einem Pferdegespann mit Firmenschriftzug. Weedemann, die bis zum Sommer Eigentümerin in vierter Generation war, erzählt über ihren Großvater: „Es war die schönste Zeit für ihn. Ich weiß, dass er sehr stolz darauf war, Auslieferungen auch mit dem Auto machen zu können.“