Hamburg/Bremen. Nordduell am Millerntor gegen Werder: Warum ein Meisterspieler auch nach 40 Jahren an der Weser ein Herz für die Hamburger Clubs hat.
Für Thomas Wolter hätte die Spielplangestaltung der DFL für dieses Wochenende kaum besser ausfallen können. „Ich schaue nur selten Auswärtsspiele unserer Profis, weil ich meist selbst unterwegs bin“, sagt der sportliche Leiter der U-23- und U-19-Mannschaft des SV Werder Bremen. Jetzt aber, an diesem Sonnabend (18.30 Uhr/Sky und Liveticker auf abendblatt.de), da die Nachwuchsteams schon in der Winterpause sind, trifft es sich bestens, dass der SV Werder ausgerechnet beim Herzensclub seiner Jugend, beim FC St. Pauli, antritt.
„Das werde ich mir nicht entgehen lassen“, sagt der 61 Jahre alte Thomas Wolter, als er im Abendblatt-Podcast „Millerntalk“ über Aktuelles, aber natürlich auch vergangene Zeiten mit einer erfrischenden Offenheit und mancher Anekdote spricht. Im Sommer feierte Wolter sein 40-jähriges Dienstjubiläum bei Werder Bremen. Wobei er zugibt, dass er das selbst gar nicht so richtig auf dem Schirm hatte. „Ich war zu der Zeit im Urlaub, plötzlich kamen die Leute auf mich zu mit ihren Glückwünschen“, berichtet er.
FC St. Pauli empfängt Werder Bremen zum Nordduell
Der Tipp des Hamburger Sportjournalisten und Werder-Mitglieds Michael Schickel war es, der dem talentierten, damals 20 Jahre alten Mittelfeldspieler des in der Eimsbütteler Tornquiststraße beheimateten HEBC ein knapp einwöchiges Probetraining bei Werder Bremen ermöglichte.
Nur zwei Jahre nach dem Wiederaufstieg waren die Grün-Weißen 1983 Vizemeister geworden, punktgleich mit dem Titelträger HSV. Dies nur zur Einordnung der damaligen sportlichen Verhältnisse. Der SV Werder war also schon eine große Nummer, und Trainer Otto Rehhagel erntete viel Lob für die offensive, attraktive und auch erfolgreiche Spielweise, die er selbst so gern als „kontrollierte Offensive“ bezeichnete.
„Otto Rehhagel hat mich persönlich vom Bremer Hauptbahnhof abgeholt, wir sind dann zu Karstadt ins Restaurant gegangen. Dort wartete schon Beate Rehhagel auf uns. Zu dritt haben wir dann gefrühstückt, bevor es zum ersten Training ging“, erzählt Wolter. Eine Episode, die wohl nur zu Zeiten ohne Smartphone und Social Media so möglich war.
Schon bei Wolters erstem Termin in Bremen war Beate Rehhagel dabei
Die vielleicht größte Hürde hatte er damit schon mal bewältigt. Wer bei Werder Profi werden wollte und sollte, wurde erst einmal von Beate Rehhagel begutachtet. Ihr Gatte Otto war für die sportlichen Qualitäten zuständig, vertraute aber in Sachen Menschenkenntnis noch mehr seiner Frau. „Ich habe Beate also schon in der Stunde eins kennengelernt. Wir sind heute noch befreundet und telefonieren viel, wenn es irgendwie geht“, erzählt Wolter.
Auch der HSV hatte kurz nach Werder sein Interesse an Wolter bekundet, ebenso Schalke 04 und auch der FC St. Pauli, der aber im Frühjahr 1984 nur in der damals drittklassigen Oberliga Nord spielte. Dabei war St. Pauli ein „Herzensverein“ Wolters gewesen. „Mein Bruder hat ja selbst bei St. Pauli gespielt, und ich war oft am Millerntor.“ Aber die sportliche Herausforderung Bundesliga hatte eben ihren großen Reiz.
Mit „Magenschmerzen“ dem Jugendidol Günter Netzer abgesagt
Also stand Wolter vor der Frage, in seiner Heimatstadt zu bleiben, wo er noch bei der Allianz am Großen Burstah arbeitete, und zum HSV zu gehen oder eben nach Bremen zu wechseln. „Mein Bauchgefühl sagte mir: Mach das bei Werder. Die waren als Erste da und wollten mich unbedingt haben“, berichtet er.
Und so fuhr er eines Tages zusammen mit HEBC-Trainer Thomas Bornhöft zur HSV-Geschäftsstelle an der Rothenbaumchaussee „mit Magenschmerzen“, wie er sich noch heute gut erinnert. „Ich saß dann vor Günter Netzer und habe ihm abgesagt“, erzählt er. „Dabei war Netzer als Spieler das Idol aus meiner Jugendzeit gewesen, über den ich alles gelesen hatte und alles wusste.“
Vom Rothenbaum ging es direkt zurück ins HEBC-Clubheim: „Dort wartete schon Willi Lemke auf mich“. Der im August dieses Jahres im Alter von 77 Jahren verstorbene Werder-Manager hatte den unterschriftsreifen Vertrag für Wolter dabei. So nahm Thomas Wolters Profi-Karriere im grün-weißen Dress ihren Anfang. In den 14 folgenden Jahren heimste er zwei deutsche Meistertitel und zweimal den DFB-Pokal ein, die Krönung sollte 1992 der Gewinn des Europapokals der Pokalsieger sein.
Fünf Titel und ein Länderspiel stehen in Wolters Vita
Auch ein Länderspiel steht in seiner sportlichen Vita: Im Dezember 1992 stand er in der Startformation beim 1:3 in Porto Alegre gegen Brasilien, ehe er in der 59. Minute gegen Michael Zorc ausgewechselt wurde. „Eigentlich fühle ich mich nicht als Nationalspieler“, sagt er heute bescheiden. Andererseits: Wenn man nur ein Länderspiel bestreiten darf, ist eines in Brasilien gewiss nicht die schlechteste Option dafür.
Auch nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn mit 430 absolvierten Pflichtspielen blieb Thomas Wolter Bremen und dem SV Werder treu, absolvierte Trainerlehrgänge, coachte verschiedene Juniorenteams, vor allem aber die U-23-Mannschaft, und wurde schließlich Sportlicher Leiter des Werder-Nachwuchses mit dem schon früh gegründeten Internat. „Mit dem Schreibkram wollte ich nie etwas zu tun haben“, sagt er ehrlich, weshalb er die administrative Leitung des Nachwuchsleistungszentrums (NLZ) viele Jahre seinem ehemaligen Mitspieler Björn Schierenbeck überließ.
Wolter sieht die Entwicklung der Nachwuchsarbeit zwiespältig
Die Entwicklung und Professionalisierung der Nachwuchsarbeit in den deutschen Proficlubs hat Wolter hautnah erlebt. „Wir haben heute sechs oder sieben Leute, die sich nur um die täglichen Bedürfnisse der Jungs kümmern, auch in psychologischer und in pädagogischer Hinsicht. Es wird auf die Ernährung geachtet, dafür werden Kochkurse abgehalten“, berichtet Wolter von der „enormen Veränderung“ in den vergangenen Jahrzehnten. „Wir bilden dual aus. Wir wollen sie zu guten Fußballern machen, aber ihnen auch helfen, Persönlichkeiten zu werden und mit den alltäglichen Dingen des Lebens umzugehen.“ Dazu sollen sie den höchstmöglichen Schulabschluss machen.
Doch längst nicht alles gefällt ihm an den heutigen Verhältnissen. „Das Umfeld von jungen Spielern ist sehr nervös, sehr unruhig, sobald einer ein bisschen geradeaus laufen kann“, beklagt Wolter. „So verlieren die Jungs oftmals ihre Unbekümmertheit und das, was du als Fußballer brauchst: die Intuition.“ Dass schon 13-Jährige teilweise lustlos, ohne jede Begeisterung über den Platz trotten, dürfe einfach nicht sein. „In dem Alter habe ich von morgens bis abends Fußball gespielt. Da wurde es für mich immer viel zu früh dunkel“, sagt er. „Leider fehlt heute dieser Straßenfußball.“
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Mit Interesse hat Thomas Wolter wahrgenommen, dass der kommende Gegner seine Nachwuchsarbeit gerade revolutioniert hat, die Struktur der einzelnen Mannschaften verändert hat und vor allem bei Jugendlichen nicht mehr mit deren Beratern verhandelt. „Ich finde es super, dass St. Pauli hier seinen eigenen Weg hat, weil dieser Verein ja auch für sich etwas Einmaliges darstellt“, sagt er.
Doch direkt nachahmen will Werder dies nicht. „Wir arbeiten erst einmal so weiter, wie wir es bisher gemacht haben, weil wir unseren Weg bis jetzt auch erfolgreich gegangen sind.“ So wird es bei Werder zum Beispiel auch weiter ein U-16 -Team geben. Dennoch sei sein Verein immer offen und interessiert. Zuletzt war eine Delegation für vier Wochen im spanischen Bilbao.
St. Pauli, HSV und Werder sollen in der Bundesliga spielen
Für diesen Sonnabend erwartet Thomas Wolter im Millerntor-Stadion derweil ein „Spiel auf Augenhöhe“, auch wenn Werder mit seinem bisher 19 Punkten acht mehr als St. Pauli auf dem Konto hat und zudem als Fünfter der Bundesliga-Auswärtstabelle anreist. „Aber St. Pauli hat sich als Aufsteiger auch schon etabliert in der Liga. Du siehst, dass sie angekommen sind“, sagt Wolter, der sich am Ende für Werder einen „gesicherten Mittelfeldplatz“ wünscht und dem St. Pauli zutraut, den Klassenerhalt direkt zu schaffen.
Und welchen Wunsch hat Thomas Wolter für den HSV, dem er einst mit Magenschmerzen und trotz seines Idols Günter Netzer als Managers absagte? „Vielleicht wollen das viele nicht hören, aber ich würde mich freuen, wenn der HSV wieder aufsteigt und wir alle diese Nordderbys wieder in der Bundesliga haben. Das macht doch die Bundesliga aus“, sagt er und hofft, dass auch in der kommenden Saison der Spielplangestalter der DFL ein Herz für ihn hat.