Hamburg. Im Herbst 2023 verkündete der FC St. Pauli die „Rebellution“ im Nachwuchsleistungszentrum. Ein Einblick in die Talentschmiede.

Es ist bereits mehr als ein Jahr her, dass der FC St. Pauli einen im deutschen Profifußball einmaligen Entschluss verkündete. Auch um sich „gegen die Kapitalisierung des Jugendfußballs“ zu positionieren, entschied sich der Kiezclub für einen radikalen Schritt in seinem Nachwuchsleistungszentrum (NLZ).

„Künftig wird der Verein im NLZ vollständig darauf verzichten, im Verpflichtungs-, Verlängerungs- und Entwicklungsprozess mit Beratern oder Agenturen zu sprechen oder zu verhandeln. Diese Regelung gilt für alle minderjährigen Spieler im NLZ“, teilte der Club im September 2023 mit. Diesen Schritt gehe man im Zuge des Nachwuchskonzepts „Rebellution – ein anderer Jugendfußball ist möglich“.

FC St. Pauli will nicht mit Beratern im NLZ zusammenarbeiten

NLZ-Leiter Benjamin Liedtke konkretisierte die Pläne rund eine Woche später im Abendblatt-Podcast „Millerntalk“. „Wir wollen nicht im großen Stil unterwegs sein und Talente sichten“, sagte Liedtke etwa zur Auflösung der Scouting-Abteilung im NLZ. Stattdessen setze man als Stadtteilclub künftig nur noch auf Talente aus Hamburg und Umgebung, die notwendigen Kontakte zu Clubs wie dem Niendorfer TSV oder dem Eimsbütteler TV habe man bereits, erläuterte St. Paulis Nachwuchs-Chef.

Das Abendblatt hörte sich in den vergangenen Wochen im Umfeld des Bundesliga-Aufsteigers um, wie die „Rebellution“ ein Jahr später in der Praxis umgesetzt wird. Die erste Erkenntnis: Verschwunden sind die Spielerberater aus dem NLZ der Kiezkicker keineswegs. Dies hatte der Club allerdings auch nie angekündigt. „Ich würde nie einem Nachwuchsspieler verbieten, dass er sich nach wie vor Beratung einholt“, sagte Liedtke im Abendblatt-Podcast. „Wir setzen uns nur nicht mit ihnen an einen Tisch.“

Viele Spieler haben weiterhin einen Berater im Hintergrund

Über Portale wie „transfermarkt.de“, Social-Media-Profile und Internetauftritte von Beratungsagenturen wird schnell deutlich: Der Großteil der U-19- und U-17-Spieler im NLZ hat nach wie vor einen Berater an seiner Seite. U-17-Leistungsträger Taylan Dilerim (15) etwa wird von der Total Sports Agency von Nochi Hamasor, einem international bekannten Agenten, beraten. Die U-19-Spieler Jannis Raubold und Noah Palapies (beide 16) werden von der DLT Sports Group vertreten, Marwin Schmitz (17) von der TBSportmarketing GmbH. Nick Schmidt und Jamal Jonischkeit (beide 17) wiederum haben die Motrixx.GmbH an ihrer Seite, um einige Beispiele zu nennen.

Doch was nützen den minderjährigen Spielern diese Berater, wenn diese tatsächlich – so wird es von verschiedenen Seiten versichert – keinen Kontakt zu NLZ-Verantwortlichen haben? Ein klassisches Szenario, das dem Abendblatt immer wieder geschildert wird, ist eine Verhandlung über einen sogenannten Jugendfördervertrag. Während Vertragskonditionen wie Gehälter bei anderen Clubs – bei Jugendspielern sind das oft dreistellige oder niedrige vierstellige Monatsgehälter – direkt zwischen NLZ-Verantwortlichen und Spielerberatern verhandelt werden, sitzen bei St. Paulis Nachwuchstalenten in der Regel die Eltern allein am Verhandlungstisch. Weil diese aber meist fachfremd sind, werden sie von den Beratern auf die Treffen mit den NLZ-Verantwortlichen vorbereitet.

Liedtke sieht keine verschiedenen Verhandlungspositionen

„Für mich ist es kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander“, betonte St. Paulis NLZ-Leiter Liedtke im vergangenen Jahr. Aus seiner Sicht gebe es auch keine verschiedenen Verhandlungspositionen. „Warum muss es überhaupt eine Differenz geben zwischen Vereins- und Spielerperspektive? Beide Seiten haben das Interesse an der maximalen Förderung des einzelnen Spielers“, sagte er. „Ich bin davon überzeugt, dass ich das Spielerinteresse vertrete.“

Verschiedene Berater, die mehrheitlich nicht genannt werden, sondern weiterhin im Hintergrund agieren wollen, zeichnen im Gespräch mit dem Abendblatt ein anderes Bild. Die Eltern und Spieler befänden sich, so heißt es, durch den Ausschluss der Berater in einer geschwächten Verhandlungsposition. Häufig seien sich die Eltern in den Gesprächen auch zu schade dafür, für den eigenen Sohn um wenige Hundert Euro zu feilschen, weil sie das gute Verhältnis zum Club und die Ausbildungschance des Spielers wahren wollen. „Wir respektieren, dass der FC St. Pauli im NLZ-Bereich so arbeitet. Das heißt aber nicht, dass wir es auch akzeptieren“, sagt Berater Nochi Hamasor dem Abendblatt.

Verschließt sich der Kiezclub mit seiner Regelung Türen?

Ein anderer Berater sagt, dass sich St. Pauli mit seinem Vorgehen Türen verschließe. Er selbst versuche, wenn möglich, seine Spieler eher zu anderen Nordclubs wie Holstein Kiel oder dem HSV zu transferieren, weil eine Zusammenarbeit mit dem Kiezclub unmöglich geworden sei. NLZ-Leiter Liedtke hält dagegen. „Wir haben keine Spieler verloren, weil wir lieber direkt mit ihnen kommunizieren als über einen Berater. Vielmehr hilft es allen Beteiligten, persönlich und kontinuierlich im Austausch zu bleiben, um Spieler bestmöglich zu fördern – fußballerisch und als individuelle Persönlichkeit“, sagt er auf Nachfrage.

Die Agentur mit den meisten St.-Pauli-Nachwuchsspielern gehört dem früheren Drittligaprofi Eric Agyemang. Der 44-Jährige spielte in seiner aktiven Karriere unter anderem für Erzgebirge Aue, Wacker Burghausen und Arminia Bielefeld, ehe er seine Laufbahn bei der TuS Dassendorf, dem Wedeler TSV und Düneberger SV ausklingen ließ und begann, eine kleine Beratungsagentur zu gründen. Heute vertritt der Deutsch-Ghanaer mit „Agyemang Athletes“ bei St. Pauli sowohl einige volljährige Spieler wie U-23-Torwart Kevin Jendrzej (19), aber auch jüngere Talente wie Aron Amaglo, Reuel Amoah Duah, Diego Embaló (alle 15), Wissou Kaba (16), Joel Addo (17) oder Julien Yanda (17).

Foto Torjubel bei Wedel Eric Agyemang Fussball Herren Oberliga Hamburg So 24 09 2017 TSV Wedel
Eric Agyemang, hier 2017 im Trikot des Wedeler TSV, ließ seine aktive Karriere im Hamburger Amateurfußball ausklingen. © Imago | Claus Bergmann

Kaderplaner Gadet Yanda ist mit Spielerberater Eric Agyemang befreundet

Dem Abendblatt bestätigt Agyemang auf Nachfrage, dass er mit St. Paulis NLZ-Kaderplaner Gadet Yanda, der auch der Vater seines Klienten Julien Yanda ist, seit vielen Jahren befreundet ist. Nach Abendblatt-Informationen reden Yanda und Agyemang auch regelmäßig über Spieler miteinander. Dies ist mittlerweile sogar in anderen Nachwuchsleistungszentren bekannt.

Spricht der Club im „Verpflichtungs-, Verlängerungs- und Entwicklungsprozess“ also doch mit einem Berater und handelt seiner Ankündigung aus dem September 2023 zuwider? Nein, sagen der Club und Agyemang. Sobald es um diese Themen gehe, fänden keine Gespräche mehr statt. „Der FC St. Pauli tauscht sich kontinuierlich mit vielen Akteuren aus der Fußball-Community in Hamburg und Umgebung aus“, teilt der FC St. Pauli schriftlich mit. „Es geht bei dem Ausschluss von Beratern um die direkte Kommunikation zwischen Spielern/Familie und Verein sowie den Bereich unseres NLZ.“

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Sportlich hat die „Rebellution“ bisher keine großen Auswirkungen auf den Erfolg oder Misserfolg der NLZ-Mannschaften. In den Vorrundengruppen der neuen U-17- und U-19-DFB-Nachwuchsligen belegen die Kiezkicker jeweils Platz fünf von acht, würden damit die Qualifikation für die „Liga A“ in der zweiten Saisonhälfte verpassen. Was aus Sicht des FC St. Pauli aber auch nicht weiter schlimm ist, weil sich der Club neben der Zusammenarbeit mit Beratern auch von Ergebnisdruck im Nachwuchs verabschieden möchte.

„Insgesamt sind wir absolut zufrieden mit dem eingeschlagenen Weg und den Entscheidungen. Die Themen Scouts und Berater haben in der praktischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gar nicht die Relevanz, die ihr öffentlich teilweise zugemessen wird“, sagt Liedtke, der zudem betont, dass sich Veränderungen im Jugendfußball grundsätzlich erst nach einer gewissen Zeit beurteilen lassen. „Das Wichtigste bleibt für uns, im Sinne der Spieler und des Vereins gemeinsam die besten Wege zu finden und direkt sowie offen miteinander zu sprechen. Das hat sich absolut bewährt.“