Hamburg. Seit zehn Jahren engagiert sich die Initiative St. Depri für Betroffene. Im Profisport ist das Stigma psychischer Krankheiten gewaltig.
Die Stimmung ist ausgelassen beim FC St. Pauli. Den ersten Bundesliga-Sieg seit 13 Jahren eingefahren und durch das 3:0 beim SC Freiburg gezeigt, wie real die Chance auf den Klassenerhalt ist. Am Sonnabend folgt die nächste Stufe. 18.30 Uhr, Abendspiel im Millerntor-Stadion gegen den FSV Mainz 05. Wie schön das Leben als Fußballfan doch sein kann.
Die Euphorie rund um den Kiezclub würden gern alle Fans teilen. Einige können es schlicht nicht. Es gibt Menschen, die aus psychischen Gründen nicht die Kraft finden, ihrem Lieblingsverein live zuzujubeln. Die wegen Depressionen für ohnehin kaum noch etwas die Energie und Freude finden.
St. Depri hilft an Depression erkrankten Menschen und deren Angehörigen
So wie Michel. Auch bei ihm und seinen Freunden war die Stimmung ausgelassen. Alle große St.-Pauli-Fans, regelmäßig zusammen im Stadion und beim Feiern. Michel war immer dabei, immer hilfsbereit. Nur sich selbst hat er nicht geholfen. Dann war er tot. Selbstmord in Folge seiner Depressionen, von denen im Umfeld niemand etwas wusste.
Zehn Jahre ist das nun her. Und so lange gibt es auch St. Depri. „Wir sind immer für uns da“, lautet das Motto der Initiative, die Freunde und Bekannte Michels mit weiteren Mitgliedern der Fanszene gründen. Vor allem ist der Verein seitdem aber für Betroffene der ebenso stillen wie tückischen Krankheit und deren Angehörige da.
Ziel der Initiative: Kein Suizid von St.-Pauli-Fans mehr
„Wir haben uns gefragt, wie das sein kann, dass wir im Stadion so nah zusammenstehen, aber nichts voneinander wissen?“, sagt Elena Schram, die sich mit gut einem Dutzend Mitstreiter ehrenamtlich bei St. Depri engagiert. Das hehre Ziel ist, dass kein Fan des FC St. Pauli mehr Suizid begeht. „Vor allem wollen wir Erkrankten eine Anlaufstelle bieten. Sie sollen wissen, dass andere da sind“, sagt Schram.
Während die Wartezeiten für Therapieplätze im überlasteten Gesundheitssystem mehrere Monate betragen – in denen es zu spät sein kann –, ist das Angebot bei St. Depri niedrigschwellig. Jeden dritten Donnerstag im Monat findet um 19.45 Uhr ein frei zugänglicher Themenabend im Fanladen St. Pauli (Heiligengeistfeld 1) statt, bei dem es professionelle Vorträge rund um mentale Gesundheit sowie Austauschmöglichkeiten gibt.
Kiezhelden finanzieren St. Depri
Zudem gibt es ein Sportprogramm, eine Yogagruppe, Gesangskurse der „Levis Music School“ und ein Patenprojekt, bei dem Menschen ins Stadion oder zu Themenabenden begleitet werden, die sich allein nicht trauen.
Finanziert wird die Initiative durch Spendengelder. Der FC St. Pauli unterstützt durch die Kiezhelden, die das soziale Engagement des Clubs koordinieren. Für Betroffene ist alles komplett kostenlos und anonym. Lediglich eine kurze vorherige Meldung wird erwünscht.
Ex-Kiezkicker Andreas Biermann brachte sich 2014 um
Ebenso wie ein Bezug zum FC St. Pauli, da sich das Angebot an die innere und erweiterte Fanszene richtet. Losen Kontakt zur Bundesliga-Mannschaft gibt es hin und wieder. Kürzlich kam Ersatztorwart Sören Ahlers zum Gespräch, der langjährige Kapitän Jan-Philipp „Schnecke“ Kalla habe sich immer interessiert gezeigt. Pflicht ist eine Vereinsnähe jedoch nicht. „Wenn jemand gar nicht weiß, wohin, kann er zu uns kommen“, sagt Schram. Das gilt für alle Fans.
Denn über all dem steht der Wunsch, die Krankheit zu beherrschen, die in Deutschland jährlich rund 1100 Menschen das Leben kostet. Gut sechs Wochen vor Michel hatte sich Andreas Biermann mit 33 Jahren das Leben genommen. Der ehemalige Zweitligaspieler, der von 2008 bis 2010 beim FC St. Pauli spielte, war bereits 2009 an die Öffentlichkeit gegangen, um seine Erkrankung sowie einen Suizidversuch publik zu machen. Ursprünglich hatte er Kollegen und Betroffenen damit helfen wollen, fühlte sich anschließend im Profifußball nicht mehr wohl. „Die Befürchtungen, die ich hatte, bevor ich meine Krankheit öffentlich gemacht habe, haben sich bestätigt. Ich würde keinem depressiven Profi empfehlen, seine Krankheit öffentlich zu machen“, sagte Biermann zwei Jahre vor seinem Tod.
Basketball-Trainer Stefan Grassegger forscht zu Depressionen im Leistungssport
Geändert hat sich seitdem im Leistungssport wenig. „Für Profiathleten ist es extrem schwierig“, sagt Schram. Psychische Erkrankungen sind nach wie vor mit einem mitunter gewaltigen Stigma verbunden, selbst abseits des Profisports.
„In diesem Bereich ist das Thema aber noch deutlich ausgeprägter, weil man ja als Athlet angeblich keine Schwäche zeigen darf“, sagt Stefan Grassegger. Der Österreicher arbeitete bis zum Sommer als Assistenztrainer bei den Bundesliga-Basketballern der Veolia Towers Hamburg und forschte für seine Diplomarbeit an der Universität Wien über die Auswirkungen von Schlafhygiene und Perfektionismus auf depressive Erkrankungen bei Leistungssportlern.
Depressive Erkrankungen sind keine Schwäche
Die Resultate: „Schlechtes Schlafverhalten korreliert generell mit depressiven Erkrankungen. Im Profisport hängt vor allem ein negativ konnotierter Perfektionismus, also der Wunsch nach Perfektion aus Angst vor Fehlern, damit zusammen.“ Das eigentliche Problem sei aber, dass mentale Gesundheit mit mentaler Stärke gleichgesetzt wird, sagt Grassegger, der als Beispiel hierfür Michael Phelps nennt.
Der US-Schwimmer ist mit 28 olympischen Medaillen, davon 23 goldenen, der erfolgreichste Olympionike der Gegenwart – obwohl er unter schweren Depressionen litt. Grassegger fordert eine Sensibilisierung von Athleten für das Thema. „Wichtig ist zu erkennen, dass es keine Schwäche ist. Wer sich das Sprunggelenk verdreht, geht auch zum Arzt. Psychische Erkrankungen sind im gleichen Kontext zu sehen“, sagt der 34-Jährige.
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Grassegger rät, sich einem Mitspieler, überhaupt jemandem, anzuvertrauen. So wie bei St. Depri. Das sei oft der erste Schritt zurück in ein ausgelasseneres Leben.
Spendenkonto:
Kontoinhaber: St. Depri – wir sind immer für uns da e.V.
IBAN: DE96 2005 0550 1048 2169 70
BIC: HASPDEHHXXX
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