Hamburg. Exklusiv: St. Paulis Präsident weist auf den fragwürdigen Umgang der Sachsen mit 50+1 hin. Wieso er auch die DFL in die Pflicht nimmt.
Am Donnerstagnachmittag verbreitete der FC St. Pauli ein Foto auf Social Media. Arm in Arm standen der Steuerberater Andreas Borcherding, Thomas Collien (Besitzer des St.-Pauli-Theaters), Bäckerei-Kaufmann Christopher Heinemann („Zeit für Brot“) und Miriam Wolframm (Cluster General Managerin des „Hamburg Dungeon“ und „Lego Discovery Centre Hamburg“) neben dem Rasen des Millerntor-Stadions und grinsten gemeinsam um die Wette.
Das Quartett soll als Vorstand der neuen Football Cooperative Sankt Pauli (FSCP eG) agieren – der ersten Genossenschaft im Profi-Fußball. Dieses innovative Finanzierungsmodell wird bei den Kiezkickern bereits seit einigen Wochen bei verschiedenen Informationsveranstaltungen vorgestellt. Die Genossenschaft soll beim Bundesliga-Aufsteiger nicht nur für frisches Geld sorgen, sondern im gleichen Schritt auch die in Deutschland geltende 50+1-Regel stärken, wonach Vereine und ihre Mitglieder gegenüber Investoren stets die Stimmmehrheit behalten müssen.
FC St. Pauli ist krasser Außenseiter gegen RB Leipzig
Ziemlich genau dort, wo Borcherding, Collien, Heinemann und Wolframm gerade noch so glücklich abgelichtet wurden, betreten an diesem Sonntagabend (19.30 Uhr/DAZN) die Spieler von RB Leipzig den Rasen. St. Pauli ist in der Partie krasser Außenseiter, was auch der mehr als 13-mal so hohe Kaderwert der Gäste zeigt (37,78 Millionen Euro zu 513,9 Millionen Euro).
„In diesem ungleichen Wettbewerb benötigt man sehr viel Spielglück und sehr viel Tagesform, um als FC St. Pauli gegen Leipzig bestehen zu können. Das werden wir auf unsere Seite ziehen wollen“, sagt Oke Göttlich, als er drei Tage vor dem Spiel das Abendblatt in einem Konferenzraum im Stadion empfängt. Der Präsident der Kiezkicker weiß, dass die Bundesliga-Betriebsgesellschaft RasenBallsport Leipzig GmbH im krassen Gegensatz zum FC St. Pauli steht.
Leipzigs umstrittene Auslegung von 50+1
2009 übernahm RB Leipzig nach seiner Gründung das Startrecht des Oberligisten SSV Markranstädt. Seit der Ausgliederung 2014 gehören 99 Prozent der Lizenzspielerabteilung und die Nachwuchsleistungsteams der Red Bull GmbH, nur ein Prozent hält der RB Leipzig e.V.. Das Kuriosum: Um die 50+1-Regel einzuhalten, liegt die Stimmmehrheit weiterhin beim e.V., bei dem die gerade mal 23 (!) stimmberechtigten Mitglieder auch größtenteils bei Red Bull angestellt sind.
„Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass dieses Konstrukt als 50+1-konform gilt“, sagt Thomas Kessen, Sprecher der bundesweiten Fanvertretung „Unsere Kurve“, als er im Abendblatt-Podcast „Millerntalk“ zu Gast ist. „Dieses Konstrukt existiert nur, weil ein Brausehersteller einen Werbeträger mit Reichweite aufgebaut hat“, schimpft Kessen.
Göttlich respektiert Leipzigs sportliche Ambition
Auch St. Paulis Göttlich teilt diese Einschätzung weitestgehend, drückt sich aber etwas gemäßigter aus. „Ich lehne nicht alles an RB Leipzig kategorisch ab. Ich würde mir nur wünschen, dass sie sich an alle Regeln halten“, sagt er. „Das betrifft zum Beispiel das Thema 50+1 im Zusammenhang mit Beteiligung des e.V.; aber auch mögliche Governance-Themen in Bezug auf die Verquickung von Konzern und Sponsoring sowie die Wettbewerbsintegrität zum Beispiel der Champions-League, wenn mehrere Clubs sehr Konzern-nah aufgestellt sind – wie RB Salzburg und RB Leipzig.“
Während das Leipziger Konstrukt von den Fußball-Verbänden bisher akzeptiert wird, ist der Fall Leipzig seit Juni erneut beim Bundeskartellamt anhängig. Die Wettbewerbshüter wollen dabei prüfen, ob die 50+1-Regelung nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis eingehalten wird. St. Paulis Präsident begrüßt das: „Mit einem demokratischen und partizipativen Gedanken, der in der DFL herrscht, hat dieser Verein nichts zu tun. Die Mehrheit der deutschen Proficlubs hat nicht die Möglichkeiten, die in Leipzig vorherrschen. Die DFL muss sich fragen, inwiefern sämtliche Leitlinien dort angewendet werden.“
St. Paulis Trainer Blessin wurde in Leipzig ausgebildet
Für Göttlich ist klar, dass Clubs wie auch Bayer Leverkusen oder der VfL Wolfsburg, die hundertprozentig im Besitz des Bayer-Konzerns beziehungsweise des Volkswagen-Konzerns sind, aber mit einer 50+1-Ausnahmegenehmigung spielen dürfen, einen klaren Vorteil gegenüber Clubs wie St. Pauli haben. „Es wäre nur anständig und respektvoll, das öffentlich einzuräumen“, sagt Göttlich. Dies gelte unabhängig von der guten Arbeit, die an diesen Standorten gemacht werde.
„RB Leipzig hat im Rahmen seiner außerordentlichen, systemsprengenden Möglichkeiten sportlich das Beste herausgeholt. Sie sind eine absolute Adresse im europäischen Fußball geworden und fußballerisch eine Bereicherung. Rein in Bezug auf die sportlichen Ambitionen ist dieser Club ein Vorbild“, sagt Göttlich, dessen Kiezclub auch von den Sachsen profitiert. Coach Alexander Blessin etwa wurde acht Jahre bei RB ausgebildet, auch Außenverteidiger Philipp Treu kickte einst in Leipzig.
„Unsere Kurve“-Sprecher Kessen sieht das anders – der Fan des VfL Osnabrück findet, dass RB den deutschen Fußball nicht bereichert. „Nur weil sie Fußball spielen, sind sie kein Teil des deutschen Fußballs“, stellt er klar. Dass Leipziger Fußballfans den Club unterstützen, findet Kessen gar „traurig“.
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Oke Göttlich äußert sich auch in diesem Punkt etwas gemäßigter, der Kiezclub-Präsident fordert stattdessen grundsätzlichere Veränderungen im Profifußball. „RB Leipzig ist ein Symptom, aber nicht alleiniger Auslöser einer falschen Entwicklung im deutschen Fußball“, sagt er.
Einen eigenen Ansatz, um sich dieser Entwicklung entgegenzustellen, bringt St. Pauli mit der Genossenschaft gerade auf den Weg.