Grönwohld. Warum die in Schweden aufgewachsene Hamburgerin Mathilda Karlsson in Tokio im Springreiten für ihr Geburtsland startet.
Käsekuchen und Zimtschnecken liegen auf Porzellanplatten bereit, ein Teller mit belegten Brötchenhälften lädt ebenfalls zum Schlemmen ein. Doch der erste Blick fällt auf die Papierservietten, die auf die Teller drapiert sind. Eine Stute mit ihrem Fohlen ist darauf zu sehen. Es ist diese Liebe zum Detail, die unterstreicht, warum hier im Grönwohldhof, rund 40 Kilometer östlich des Hamburger Rathauses gelegen, eine ganz besondere Geschichte ihren Ursprung finden konnte.
Die Frau, die das Abendblatt an diesem nasskalten Nachmittag auf dem Gestüt empfängt, will im Sommer bei den Olympischen Spielen in Tokio Historisches vollbringen. Mathilda Karlsson will, wenn am 4. August in Japans Hauptstadt die Springreitwettbewerbe starten, für Sri Lanka an den Start gehen. Niemals zuvor hatte die knapp 22 Millionen Einwohner zählende Inselrepublik aus dem Indischen Ozean einen Teilnehmer oder eine Teilnehmerin zu Pferd bei Olympischen Spielen. Der Nationalsport ist, ein Relikt der britischen Kolonialisierung, Cricket. Pferdesport ist kaum bekannt. Doch das hat sich verändert.
Viel Zuspruch aus ihrem Geburtsland
„Als Anfang Januar offiziell bekannt wurde, dass ich mich für die Region Südostasien qualifiziert hatte, war ich gerade im Urlaub in Sri Lanka. Spontan wurde im Sitz des nationalen Olympiakomitees in der Hauptstadt Colombo eine Pressekonferenz einberufen. Da kamen 60 Journalisten“, sagt Mathilda Karlsson, und die Erinnerung lässt ihr gesamtes Gesicht leuchten.
Überhaupt wird sie für die Dauer des Gesprächs dieses ansteckende Lächeln nicht ablegen, mit dem sie auch die Menschen in ihrem Geburtsland bezaubert hat. „Es ist unglaublich, was für einen Zuspruch ich erhalte“, sagt sie. Tausende Menschen hätten ihr in den sozialen Netzwerken Glück gewünscht, überall sei sie angesprochen und geherzt worden. „Das hat mir gezeigt, wie richtig ich mit meiner Entscheidung lag“, sagt sie.
Eine Familie aus Schweden adoptierte Karlsson
Die Entscheidung, die sie meint, das war der Schritt, den sie 2018 vollzog: Für Sri Lanka zu starten und nicht mehr für Schweden; das Land, in dem sie aufgewachsen war. Mit drei Monaten war die 35-Jährige von einer Familie aus Kristianstad adoptiert worden.
„Es war das größte Glück meines Lebens, denn dadurch bin ich behütet in einer großartigen Familie aufgewachsen und habe alle Chancen erhalten, die ich mir hätte wünschen können“, sagt sie. Man spürt in vielen Momenten des Gesprächs, wie wichtig es ihr ist, nicht undankbar zu erscheinen, weil sie nun für Sri Lanka reitet. Aber wer die ganze Geschichte kennt, der versteht sie uneingeschränkt.
Heute hat Karlsson 20 eigene Pferde
In Schweden hatte Mathilda Karlsson als Sechsjährige mit dem Reiten begonnen. Und weil sie schnell spürte, dass Pferde ihre Leidenschaft sind, entschied sie sich während ihrer Ausbildung zur Bereiterin nach einem zehnwöchigen Auslandspraktikum in Breitenburg bei Itzehoe, in Deutschland zu bleiben.
Dort lernte sie Manfred von Allwörden kennen, der Teile seines im Bäckereigeschäft erwirtschafteten Geldes in die Ausbildung und Zucht von Springpferden investiert. Er fragte Mathilda Karlsson, ob sie sich vorstellen könne, mit ihm gemeinsam den Grönwohldhof zu betreiben. Konnte sie. Heute ist sie Chefbereiterin, hat 20 eigene Pferde, rund 80 weitere gehören Manfred von Allwörden.
Der Olympia-Traum kam erst in Deutschland
Dass aus ihrer Leidenschaft eine Karriere im Leistungssport werden könnte, war für die 1,55 Meter kleine Amazone lange keine Option. Erst durch die Ausbildung in Deutschland reifte in ihr die Überzeugung, sich den Traum von einer Olympiateilnahme erfüllen zu können. Sie hätte im schwedischen Team wohl kaum Chancen gehabt.
Aber 2017 passierte das, was ihr Leben verändern sollte. Mit ihrem Partner Jörn Reinecke, mit dem sie im Hamburger Stadtteil Wellingsbüttel lebt, war sie im Singapur-Urlaub. „Aber es gefiel uns nicht, also haben wir spontan beschlossen, nach Sri Lanka zu fliegen.“
Verliebt in die Freundlichkeit der Menschen
Seit der Adoption war Mathilda Karlsson nicht mehr dort gewesen. Ihre schwedische Mutter hatte mit ihrer leiblichen Mutter anfangs Briefkontakt gehalten, aber sie selbst habe nie das Bedürfnis gehabt, ihre Wurzeln zu suchen. „Vielleicht hatte ich Angst davor, was ich entdecken würde. Außerdem war ich so glücklich über meine schwedische Familie, dass mir gar nichts fehlte“, sagt sie.
Umso überraschter war sie über das, was sie erlebte. „Ich habe mich sofort in die Schönheit des Landes und die Freundlichkeit der Menschen verliebt. Und weil ich spürte, wie viel Anteil die Menschen an meiner Geschichte nahmen, habe ich entschieden, für Sri Lanka zu starten.“
Schweden unterstützen sie in logistischen Fragen
Die Reaktionen, die sie aus dem schwedischen Team und auch von deutschen Springreitern erhielt, bestärkten sie in ihrer Entscheidung. „Alle, auch meine schwedischen Eltern, haben mich verstanden und sich sehr für mich gefreut. Ich fühle mich weiterhin als Schwedin, habe noch den Pass. Aber es fühlt sich einfach richtig an, für Sri Lanka zu starten“, sagt sie. Die Schweden sicherten ihr, da sie als einzige Starterin Sri Lankas auf sich allein gestellt ist, Unterstützung in logistischen Fragen zu.
Mathilda Karlsson ist dafür sehr dankbar, schließlich ist ihre Teilnahme auch für die Behörden in Sri Lanka Neuland. Sie weiß, dass es Kritiker gibt, die meinen, sie habe sich ihr Tokio-Ticket – 15 Einzelreiter dürfen starten, dazu kommen 20 Teams mit je drei Mitgliedern – auf schwach besetzten Turnieren erritten, zu denen sie nur dank ihrer Sponsoren Zugang hatte. Aber wer weiß, dass es für den südostasiatischen Raum nur zwei Einzelplätze für den Olympiawettkampf gibt, der kann ihre Leistung, sich gemeinsam mit Jasmine Chen (30/Taiwan) qualifiziert zu haben, besser einordnen. Zumal die Qualifikationsturniere alle vom Weltverband FEI zugelassen waren und sie auch bei Top-Events der Global Champions Tour nachgewiesen hat, dass sie einen Fünfsterneparcours souverän absolvieren kann.
Finale der besten 30 ist in Tokio ihr Ziel
Welche Chancen sie in Tokio hat, vermag Mathilda Karlsson nicht einzuschätzen, da die Teamplätze erst am 17. Februar vergeben werden. Das Finale der besten 30 ist ihr Ziel. Den Vorteil, sich mit ihrem elf Jahre alten Hengst Chopin bereits den Startplatz gesichert zu haben, will sie mit zielgerichtetem Training nutzen. Von März an wird sie mit der ehemaligen Weltranglistenersten Meredith Michaels-Beerbaum (50) in Florida trainieren. „Eine bessere Trainerin kann ich mir nicht wünschen“, sagt sie.
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Wünsche hat sie dagegen für Tokio, zwei sogar. Sie möchte US-Tennisstar Serena Williams treffen, „eine beeindruckende Frau, die sehr viel für Frauen im Sport getan hat“. Und sie möchte bei der Eröffnungsfeier die Fahne tragen. Die Chancen stehen gut: Aktuell ist niemand anderes aus Sri Lanka qualifiziert.