Hamburg. Für die Olympiakandidaten aus Hamburg beginnt die heiße Phase der Qualifikation. Das Abendblatt gibt einen Überblick über die Lage.
Sie hatten sich so viel vorgenommen. Mit einer Anti-Hitze-Beschichtung für Straßen wollten die Organisatoren der Olympischen Sommerspiele 2020 ein Jahr vor dem Start des größten Sportereignisses der Welt unter Beweis stellen, dass selbst die Naturgewalten sie nicht aus dem Konzept zu bringen vermögen. Hunderte Menschen sterben im japanischen Sommer in jedem Jahr an den Auswirkungen extremer Hitze; das Internationale Olympische Komitee (IOC) hatte Maßnahmen gefordert, um die Athleten bestmöglich zu schützen. Eine wäre gewesen, die Spiele in den Herbst zu schieben, wie es 1988 in Seoul (Südkorea) noch der Fall war. Doch weil die internationalen TV-Sender, vor allem die US-amerikanischen, die dem IOC seine Milliardeneinnahmen sichern, auf der Kernzeit Mitte Juli bis Ende August bestanden, war der Einfallsreichtum der Japaner gefragt.
Dann jedoch regnete es in der vorvergangenen Woche vor dem Start des Countdowns am 24. Juli mehrere Tage, die Temperaturen lagen bei angenehmen 28 Grad Celsius, die Hitzeprobe musste ausfallen. Viel heiße Luft um schwül-heiße Luft also? Das Wetter bleibt zu gewissen Teilen unberechenbar. Wenn eines sicher ist, dann das, was der deutsche IOC-Präsident Thomas Bach bei der Countdown-Feier im Internationalen Forum der Zehn-Millionen-Einwohner-Metropole sagte: „Ich habe nie eine Olympiastadt gesehen, die ein Jahr vor dem Start der Sommerspiele so gut vorbereitet ist wie Tokio. Die Vorbereitungen laufen exzellent, Japan wird Geschichte schreiben.“ Mehr als 3,2 der knapp neun Millionen Eintrittskarten für die 339 Wettkämpfe in 33 Sportarten, die vom 24. Juli bis zum 9. August ausgetragen werden, sind bereits verkauft. Mehr als 200.000 freiwillige Helfer haben ihre Dienste angeboten. Erstmals in der Geschichte werden die 5000 Medaillen aus 100 Prozent Recyclingmaterial hergestellt, das aus 6,2 Millionen gebrauchten Mobiltelefonen gewonnen wurde.
Nachhaltigkeit ist ein Kernthema
Nachhaltigkeit ist für das krisengeplagte IOC, das in den vergangenen Jahren eine Reihe an potenziellen Bewerberstädten verlor, weil die Bevölkerung – wie im November 2015 im Hamburger Referendum – zu große Bedenken gegen die ausufernden Kosten und den Gigantismus hegte, ein Kernthema. Die Nachrichten, dass auch im detailverliebten Japan die geplanten Kosten von knapp sechs auf rund 22 Milliarden Euro explodieren dürften, hatten die Herren der Ringe hart getroffen. Noch im Dezember 2018 war ein Budget von 10,3 Milliarden angegeben worden. Im März war Tsunekazu Takeda (71) als Präsident des Nationalen Olympiakomitees Japans zurückgetreten, nachdem Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit der Vergabe der Spiele an Tokio laut geworden waren.
Um die Kosten einzudämmen, hat das Organisationskomitee geplante Bauvorhaben einkassiert. So birgt eine Reduzierung der Plätze im neuen Olympiastadion von 80.000 auf 68.000 Einsparpotenzial von knapp 600 Millionen. Auch der Etat für die Schwimmarena wurde reduziert, drei weitere neu zu errichtende Sportstätten werden gar nicht erst gebaut. Insgesamt wird es 43 Wettkampfstätten geben. 25 davon bestehen bereits, zehn der 18 neuen werden nur temporär als Sportstätte genutzt. Baseball und Softball werden im 240 Kilometer entfernten Fukushima ausgetragen, das 2011 von dem verheerenden Tsunami und der daraus resultierenden Reaktorkatastrophe hart getroffen wurde und unter den Folgen bis heute leidet.
Dass es in den kommenden Monaten vielschichtige Diskussionen geben wird, ist ein Fakt, der zu Großveranstaltungen in demokratischen Staaten dazugehört wie die sprichwörtliche Höflichkeit zu den Japanern. Für die Protagonisten der Spiele hat mit dem Start des Countdowns nun jedoch die Phase begonnen, in der der Fokus immer enger auf ihre sportlichen Leistungen verdichtet wird. „Wir sind überzeugt davon, dass wir mit einer leistungsstarken und hoch motivierten Mannschaft nach Tokio fahren werden, die mehr als 400 Athletinnen und Athleten umfassen kann“, sagt Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympischen Sport-Bundes (DOSB). „Wir möchten dabei hervorragende Botschafter sein und ein Team präsentieren, auf das wir in ganz Deutschland stolz sein können. Wir wollen die Erfolge fair und sauber erzielen, die Fair-Play-Medaille ist uns wichtiger als der Medaillenspiegel.“
Erhöhung der Fördermittel
2016 in Rio de Janeiro (Brasilien) hatten die 452 deutschen Starter 42 Medaillen gewonnen, 17 Gold, 10 Silber, 15 Bronze. Aus Hamburg waren 36 Athleten nominiert, inklusive der Paralympics, die in Tokio vom 25. August bis 6. September stattfinden werden. Gold im Beachvolleyball für das HSV-Duo Laura Ludwig/Kira Walkenhorst sowie für Handbikerin Dorothee Vieth war deren größter Erfolg. Dazu kamen Silber für Achter-Ruderer Eric Johannesen, Edina Müller im Parakanu und die Rollstuhlbasketballerinnen sowie Bronze für die beiden Hockeyteams (Herren mit acht, Damen mit zwölf Hamburgern), den Boxer Artem Harutyunyan und die 49er-Segler Erik Heil und Thomas Plößel. „Es wird unheimlich schwer, dieses Ergebnis zu toppen. Meine Prognose ist, dass wir schon gut wären, wenn wir die Zahl unserer Teilnehmer annähernd noch einmal erreichen würden“, sagt Ingrid Unkelbach.
Die 59-Jährige leitet den Olympiastützpunkt Hamburg/Schleswig-Holstein in Dulsberg und hat dadurch täglich Kontakt zu den Spitzenathleten der Stadt. Mit Beachvolleyball, Schwimmen, Hockey, Rudern, Badminton, Segeln (Kiel) und Rollstuhlbasketball (paralympisch) werden sieben Bundesstützpunkt-Sportarten schwerpunktmäßig gefördert. Die Leistungssportreform, die der deutsche Sport in Kooperation mit dem Bundesinnenministerium nach Rio angeschoben hatte, habe zwar eine Erhöhung der Fördermittel ermöglicht. „Aber bis so etwas greift, braucht es Zeit. Die Konsequenzen daraus lassen sich jetzt noch nicht abschätzen“, sagt Unkelbach.
Fürste fordert Engagement aus der Wirtschaft
Die finanzielle Ausstattung der Hamburger Topathleten und des Nachwuchses ist Aufgabe des Teams Hamburg. 78 Athleten aus zwölf Sportarten, die bis Ende 2020 vertraglich gebunden sind, aber bei fehlender Leistung aus dem Team gestrichen werden können, werden von der Einrichtung mit monatlichen Festbeträgen gefördert, die sich an der Einordnung in drei Kategorien orientieren. So erhalten Mitglieder der Förderkategorien I (Olympiakader 2020) und III (Nachwuchskader Perspektive 2028) 250 Euro, diejenigen in Förderkategorie II (Perspektivkader 2024) sogar 400 Euro. „Der Olympiakader 2020 wird zusätzlich noch durch die Stiftung Deutsche Sporthilfe unterstützt und ist deshalb finanziell so gut versorgt wie noch nie“, sagt Alexander Harms.
Der 30-Jährige ist Teamleiter und Geschäftsführer der Stiftung Leistungssport, die das Team Hamburg ebenso mit 50.000 Euro im Jahr finanziert wie die Stadt. Der Rest der rund 320.000 Euro, die jährlich für die Athleten zur Verfügung stehen, wird von 14 Unterstützern aus der regionalen Wirtschaft beigetragen, die Hockey-Olympiasieger Moritz Fürste (34) mit seiner für die Vermarktung des Teams zuständigen Agentur Upsolut Sports akquiriert hat. „Das ist zwar eine Rekordsumme, aber ich bin dennoch der Meinung, dass mehr möglich wäre und wir ein deutlich stärkeres Engagement aus der Wirtschaft benötigen“, sagt Fürste. Harms ist zunächst einmal froh darüber, „dass wir die Förderung des Teams für diesen Olympiazyklus bis Ende 2020 durchfinanziert haben und die Sportler keine finanziellen Sorgen plagen sollten“.
Sorgen der Athleten differieren
Die sportlichen Sorgen der Team-Hamburg-Athleten differieren je nach Sportart. Im Beachvolleyball gelten die Vizeweltmeister Julius Thole (22) und Clemens Wickler (24) vom Eimsbütteler TV als Medaillenkandidaten, auch Lars Flüggen (29) und Nils Ehlers (24) vom HSV sollten sich nach ihren jüngsten guten Ergebnissen für die Spiele qualifizieren können. Olympiasiegerin und Ex-Weltmeisterin Laura Ludwig (33) ist mit ihrer neuen Spielpartnerin Margareta Kozuch (32) nach längerem Findungsprozess und Trainerwechsel zu Chefbundestrainer Imornefe Bowes (43), Ludwigs Lebensgefährten, inzwischen aussichtsreich Richtung Tokio unterwegs. Die deutschen Meisterinnen Victoria Bieneck (28) und Isabel Schneider (28/alle HSV), 2018 Weltranglistenzehnte, haben wiederum den Anschluss an die Weltspitze verloren. Die internationale Qualifikation läuft bis Mitte Juni 2020.
Im Hockey stehen neun Hamburgerinnen und vier Hamburger im Kader für die Feld-Europameisterschaft (16. bis 25. August im belgischen Antwerpen). Nur die Sieger erhalten das Tokio-Startrecht, der Rest muss sich Ende Oktober/Anfang November in Qualifikationsspielen das Ticket sichern. Im Rudern werden die Tokio-Startplätze bei der WM in Linz (Österreich/25. August bis 1. September) vergeben; aussichtsreichste Hamburger Kandidaten sind Torben Johannesen (24/RC Favorite Hammonia) im Achter und Tim Ole Naske (23/RG Hansa) im Doppelzweier. Im Schwimmen dürften Jacob Heidtmann (24), Rafael Miroslaw (18) und Julia Mrozinski (19) die Staffel-Startplätze besetzen, die sie in der vorvergangenen Woche bei der WM in Südkorea erkämpften. Im Judo will Martyna Trajdos (30/ETV) nach der Erstrundenpleite von Rio einen weiteren Anlauf wagen; bei der WM in Tokio Ende August kann sie wichtige Qualifikationspunkte sammeln.
Eine neue Werbekampagne wird gerade erarbeitet
Um die Mitglieder des Teams Hamburg in den kommenden Monaten sichtbarer zu machen, ist eine Reihe an Aktionen geplant, eine neue Werbekampagne wird gerade erarbeitet. „Aber wir werden den Hauptfokus auf die Zeit von März bis Ende Mai legen, wenn feststeht, welche Athleten tatsächlich dabei sind“, sagt Fürste. Die Stadt ist mit der Entwicklung ihrer Athleten zum aktuellen Stand zufrieden. „Das Team Hamburg bereitet sich professionell und ernsthaft auf die Spiele in Tokio vor. Es repräsentiert die Active City in der Welt des Sports. Dafür sind wir dankbar“, sagt Sportstaatsrat Christoph Holstein (55). Eine gemeinsame Zielstellung hat es noch nicht gegeben. „Leistungsbilanz und Auftreten des Teams 2016 in Rio waren vorbildlich. Insofern wäre es großartig, wenn die Athletinnen und Athleten hier anknüpfen könnten“, sagt Holstein.
Zuletzt ist die Temperatur in Tokio deutlich über die 30-Grad-Marke gestiegen, erste Tote waren zu beklagen. Man darf also erwarten, dass die Hitze tatsächlich eine große Rolle spielen wird im kommenden Jahr. Die Athleten werden darauf jedoch eingestellt sein. Ihre heiße Phase hat ja nun begonnen.