Hamburg. Der Düsseldorfer Coach spricht über die Motivationsmethoden seines früheren Assistenten und beschreibt die Stärken des HSV-Trainers.
15 Minuten vor dem Anpfiff saßen Merlin Polzin und Daniel Thioune am Sonntag jeweils in ihrer Kabine und schrieben sich eine kurze Nachricht hin und her. Polzin saß in der Gästekabine in Karlsruhe, Thioune in Nürnberg. Was für Düsseldorfs Chefcoach Thioune mittlerweile Routine ist, war für den aktuellen HSV-Trainer Polzin ein großer Moment. Und in großen Momenten denken die beiden gerne an ihre gemeinsame Zeit zurück. „Es ist etwas Besonderes, auch wenn wir nicht mehr den Kontakt haben, den wir jahrelang hatten. Große Momente verbinden, und Sonntag war ein großer Moment für Merlin“, sagt Thioune zwei Tage später im Gespräch mit dem Abendblatt.
Zehn Jahre ist es bereits her, dass Polzin eine Einheit der U17 des VfL Osnabrück unter Trainer Thioune beobachtete. Der Bramfelder, der wegen einer fortgeschrittenen Arthrose in den Zehen seine aktive Karriere früh beenden musste, war als Student in Osnabrück gerade dabei, seine Trainerlaufbahn aufzubauen. Thioune erinnert sich noch gut an diesen Moment. „Er saß da beim Training und hat sich etwas aufgeschrieben. Er sagte mir dann, dass er sich am Wochenende mal St. Pauli und den HSV anschauen könnte. In der nächsten Woche bekam ich eine seitenlange Gegneranalyse, inhaltlich richtig gut. Das kannte ich so nicht. Ich habe mir gedacht, dass ich den Jungen ungerne wieder gehen lassen will, und habe ihm die Co-Trainer-Position angeboten.“
Thioune und Polzin stiegen zusammen in Zweite Liga auf
Es war der Beginn einer Erfolgsgeschichte. Zusammen ging es über die U19 zu den Osnabrücker Profis, mit denen die beiden 2019 den Aufstieg in die Zweite Liga feierten und ein Jahr später den Klassenerhalt. Gleich beide Hamburger Proficlubs wollten die beiden haben. Polzin ist seit seiner Kindheit HSV-Fan. Ein weiterer großer Moment stand bevor. „Es wurde vom ersten Tag an klar, dass Merlin HSV-Fan ist. Als ich ihm erzählt habe, dass es ein Angebot aus Hamburg gibt, hat er zunächst an St. Pauli gedacht. Als ich meinte, dass es eher in Richtung seines Lieblingsvereins geht, konnte er es kaum glauben und ist völlig ausgeflippt.“
Die damaligen HSV-Verantwortlichen Jonas Boldt und Michael Mutzel holten das Trainerduo im Sommer 2020 zum HSV. Trotz eines Traumstarts mit fünf Siegen war allerdings Anfang Mai für Thioune Schluss. Polzin dagegen blieb. Er blieb unter Horst Hrubesch, unter Tim Walter und zuletzt auch unter Steffen Baumgart. Fünf Co-Trainer kamen und gingen. Polzin aber durfte immer weitermachen. Nun machte ihn Sportvorstand Stefan Kuntz zum Interimstrainer, wie schon Boldt im Februar nach der Trennung von Walter.
Thioune traut Polzin langfristig die Chefrolle zu
Anders als zu Beginn des Jahres in Rostock (2:2) sorgte Polzin zusammen mit seinem Trainerteam um Loic Favé und Richard Krohn für einen überzeugenden Auswärtssieg. Nun dürfen die drei auch das Heimspiel gegen Darmstadt 98 am Sonntag betreuen. Für Thioune wäre es keine Überraschung, wenn Polzin trotz seiner 34 Jahre die Chance nutzt, zur Dauerlösung zu werden. „Merlin hat mit seinen Analysen alle überrascht, ob das in der Dritten Liga war oder später mit Aaron Hunt beim HSV. Inhaltlich kriegt er sie sofort“, sagt Thioune.
Der Fortuna-Coach hat mitbekommen, dass Polzin der Mannschaft vor dem KSC-Spiel ein emotionales Video mit Karrierehighlights der HSV-Profis zeigte. „Die Geschichte mit dem Video passt zu ihm. Er ist für so etwas extrem zugänglich und greift gerne in diese Kisten rein, wenn er mit den Spielern zusammensitzt. Ob er etwas aus der Biografie von Kobe Bryant schneidet oder aus einem Podcast mit Jürgen Klopp. Er saugt unheimlich viel auf und transportiert es in die Mannschaft. Das kommt gut an“, sagt Thioune.
Thioune beschreibt die Akribie von Polzin
Die Akribie bei der Analyse der Gegner und der eigenen Mannschaft war schon immer die Stärke des ehemaligen Lehramtsstudenten. „Er geht erst, wenn er für alles eine Lösung hat“, sagt Thioune. „Er hat mir immer alle Probleme hingelegt und hat den Raum nicht verlassen, ehe wir nicht alle Lösungen hatten. Das kann herausfordernd sein und kostet auch eine Menge Zeit. Aber wenn alles geklärt war, konnte er auch mal in Ruhe atmen.“
Von 2011 bis Ende 2012 durchlief Polzin im Nachwuchs des HSV schon einmal einige Stationen in der Spielanalyse oder im Nachwuchsscouting. Der Kontakt zum HSV kam damals über Pit Reimers, den er auf einem Trainerlehrgang des Hamburger Fußballverbands kennengelernt hatte. Heute ist Reimers Trainer der Profis beim VfL Osnabrück und kämpft als Tabellenletzter gegen den Abstieg in die Regionalliga, während Polzin nun die Chance hat, mit seinem Lieblingsverein in die Bundesliga aufzusteigen. Viermal ist ihm das mit vier verschiedenen Cheftrainern misslungen. Nun greift Polzin selbst nach dem großen Schritt.
Thioune und Polzin sind jetzt Aufstiegskonkurrenten
Einer der Konkurrenten auf diesem Weg ist sein langjähriger Wegbegleiter Thioune, den er in der Tabelle am Sonntag durch den Sieg überholte. „Die Liga ist verrückt. Wenn man mit einem Sieg von Platz zehn auf zwei springt, ist das kaum greifbar“, sagt Thioune. Der kommende HSV-Gegner Darmstadt könnte als Tabellenelfter am Sonntag mit dem Zweiten HSV nach Punkten gleichziehen.
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Dass Polzin und Thioune nun direkte Aufstiegstrainer-Konkurrenten sind, sieht der Düsseldorfer entspannt. „Das sind wir schon seit drei Jahren“, sagt Thioune, der 2022 ohne Polzin zur Fortuna ging und seitdem bereits sechsmal auf den HSV und Polzin traf. Der 50-Jährige, der seinen Vertrag in Düsseldorf kürzlich bis 2028 verlängerte, kann sich eine Wiedervereinigung in Zukunft gut vorstellen. „Der HSV ist Merlins Nummer eins. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass wir irgendwann mal wieder zusammenarbeiten.“
Macht Polzin so weiter wie in Karlsruhe, stehen die Chancen zumindest gut, dass sich die beiden beim Rückspiel im Volksparkstadion in der Coachingzone gegenüberstehen und vorher nicht miteinander schreiben, sondern hinterher miteinander reden. „Es wäre sicher sehr cool, mal neben ihm bei einer Pressekonferenz zu sitzen“, sagt Thioune. Anfang März könnte es so weit sein.