Hamburg. Ultras finden, dass sich die Szene im Wandel befindet: Fans positionieren sich auch zu verschiedenen politischen Themen. Was sie antreibt.
- Auf der Nordtribüne des Hamburger Volksparkstadions sorgen die HSV-Ultras regelmäßig für Stimmung
- Doch sie nehmen einen Wandel in der Ultra-Szene wahr und beziehen Position – auch zu politischen Themen
- Wie ist es, wenn man vom Spiel nur wenig sieht? Der Nordtribünen-Report
Eine halbe Stunde vor dem Anpfiff geht im Stehplatzbereich auf der Nordtribüne des Volksparkstadions nichts mehr. Dicht gedrängt stehen die HSV-Fans auf ihren Plätzen, als der Capo die erste Ansage macht. „Gegen Elversberg war der Support richtig gut. Aber da geht noch mehr heute“, ruft der Vorsänger der Ultras in sein Megafon. Viele Fanclubs haben bereits ihre Flaggen zwischen den Stehplatzblöcken 23 und 27A. gehisst.
Die Elbbande Hamburg, die Schreihälse Hamburg oder die Old Crazy Fans Hamburg sind nur drei von rund 60 Fangruppen, die hier ihre großen Fahnen schwenken. Auch das Abendblatt verfolgt das Heimspiel gegen den 1. FC Nürnberg vor drei Wochen im Block 26A, um die Perspektive der Fans einzunehmen, die hier zuletzt erlebten, wie der HSV gegen Schalke eine 2:0-Führung verspielte.
Ultras beim HSV: Stimmung, Zusammenhalt, neuer Capo – so tickt die Nordtribüne!
„Das Problem ist, dass du von hier nichts siehst“, sagt ein HSV-Fan auf der Nord. Und tatsächlich braucht man Glück, wenn man hinter den vielen Fahnen einen Blick auf die wichtigsten Szenen haben will. Dass Daniel Heuer Fernandes in der ersten Halbzeit drei Großchancen pariert, können viele auf der Nordtribüne nur erahnen – oder eben an der Reaktion der anderen Zuschauer hören. Wer ins Stadion geht, um in erster Linie das Fußballspiel zu sehen, ist hier im Stehplatzbereich zwischen den Ultras und der aktiven Fanszene im Volksparkstadion falsch.
Was aber treibt die Anhänger an, die ihren Club jede Woche mitunter auf 700 Kilometer weite Reisen begleiten, wenn sie vom Spiel so wenig sehen können? Und wie kommt es, dass die Nachfrage nach Karten für die Nordtribüne im siebten Zweitligajahr so sehr boomt wie nie? Eine erste Antwort bekommt man in einem der Lieder, die der Capo anstimmt: „Bin HSV-Fan schon, seitdem ich denken kann, meine Familie trägt’s immer schon im Blut. Generationen voll Liebe und Leidenschaft, dem HSV ergeben bis zu meinem Tod.“
HSV-Ultras im Volksparkstadion: Viele Fahnen verschlechtern die Sicht auf das Spielfeld
Es ist die „bedingungslose Leidenschaft“ – auch das ist Teil eines HSV-Lieds – die von den Anhängern auf der Nordtribüne, insbesondere der Ultragruppen, vorgelebt wird und die bei vielen anderen Fans eine Faszination ausübt. Aktuell sorgen vier Ultra-Gruppen auf der Nordtribüne für die Stimmung: Die Castaways, die Clique du Nord (CDN) sowie die Gruppen Iron Loyalty und Forza.
Die dominante Ultra-Gruppierung sind aber nach wie vor die Castaways, die nach der Auflösung von Poptown vor fünf Jahren die Führung auf der Nordtribüne übernommen haben. Sie stellen auch den Vorsänger auf dem prominenten Podest hinter dem Tor. Im Sommer gab es hier einen Wechsel. Der langjährige Capo Nico hat das Mikrofon an seinen Nachfolger Niko übergeben.
In den vergangenen Jahren hat es beim HSV einen Wandel in Wahrnehmung der Ultra-Szene gegeben
Vor allem aber gab es in den vergangenen Jahren einen Wandel in der Wahrnehmung der Ultraszene, insbesondere beim HSV. Wurden die Ultras vor zehn Jahren durch die undifferenzierte Diskussion um Pyrotechnik noch oft mit Krawallmachern gleichgesetzt, hat sich ihr Bild in der Öffentlichkeit verändert. Heute stehen sie vor allem beim HSV für ihre klare Haltung zu gesellschaftspolitischen Themen.
„Kein Platz für White Power Idioten und andere Faschos. Love Hamburg – hate racism“, stand auf einem von drei verschiedenen Transparenten, die die Fans in der ersten Halbzeit gegen Nürnberg hochhielten. Zur Einordnung: Zwei Wochen zuvor hatten HSV-Fans am Hauptbahnhof auf einer Gaza-Demo rassistische Parolen gerufen, unter anderem „White power“.
Aktive Fanszene beim HSV auf der Nordtribüne: Immer wieder Zeichen gegen Rassismus
War rechtes Gedankengut in den 1980er- und 1990er-Jahren in der damaligen Westkurve des Volksparkstadions noch ein fester Bestandteil der HSV-Fanszene, setzt die aktive Fanszene auf der Nordtribüne heute immer wieder Zeichen gegen Rassismus und Diskriminierung. Spätestens seit der Identitätsdebatte um Bakery Jatta gab es einen spürbaren Linksruck unter den HSV-Anhängern. Zielscheibe der Ablehnung ist dafür mittlerweile die Polizei. „Scheiß Bullen“ schallt es auf der Nord immer wieder zwischen den Fangesängen. „Niemals Freund, niemals Helfer“, stand auf einem Banner am Castaways-Podest beim Spiel gegen Magdeburg.
Auf einem weiteren Transparent stand: „Kirchweyhe lehrt: Traue nicht der Presse und dem Polizeibericht. ACAB.“ Vorausgegangen war ein Polizeieinsatz vor dem Spiel des HSV eine Woche zuvor in Düsseldorf, als unbeteiligte HSV-Anhänger auf der Zugfahrt nach Düsseldorf stundenlang festgehalten und von der Bundespolizei für eine Ausschreitung im Regionalzug mitverantwortlich gemacht wurden. Durch den Polizeieinsatz verpassten auch viele Mitglieder der aktiven Fanszene das Spiel in Düsseldorf. Der fehlende Support der Ultras machte sich im Auswärtsblock des HSV direkt bemerkbar.
Starker Zusammenhalt zwischen Ultras und Team – nur bei einem Spiel Support phasenweise eingestellt
Der Zusammenhalt zwischen den Ultras und der Mannschaft ist in den vergangenen Jahren immer stärker geworden. Lediglich beim Spiel in Düsseldorf im März (0:2) stellte die Fanszene nach einem blutleeren Auftritt der Mannschaft ihren Support phasenweise ein. Wenige Tage später trafen sich einige Ultras mit der Mannschaft im Volksparkstadion zur Aussprache. Beim darauffolgenden Heimspiel gegen Wiesbaden schworen sich die Spieler und die Fans schon 15 Minuten vor dem Spiel ein. Ein ungewöhnlicher Vorgang. „Gemeinsam holen wir das Ding aus der Scheiße raus“, rief Ex-Capo Nico zur Mannschaft. Der HSV gewann überzeugend mit 3:0.
„In Spielen wie gestern braucht es auch die Kurve. Eine laute Kurve, die auch mal humorlos einfach nur anfeuert. Mit Schalalalala und Dauer-Fähnchen-Schwenken bekommt man die Mannschaft nicht aufgeweckt. Das war gestern nix von der Nordtribüne.“
Beim jüngsten Heimspiel gegen Nürnberg zündet das Zusammenspiel zwischen den Spielern und der Nordtribüne aber nicht. Die Stimmung von den Ultras schwappt nur schleppend auf die angrenzenden Blöcke. Und auch nicht auf den Platz. Die Mannschaft enttäuscht, lediglich Heuer Fernandes rettet das 1:1. Aber es gibt auch Kritik an den Fans. „In Spielen wie gestern braucht es auch die Kurve. Eine laute Kurve, die auch mal humorlos einfach nur anfeuert. Mit Schalalalala und Dauer-Fähnchen-Schwenken bekommt man die Mannschaft nicht aufgeweckt. Das war gestern nix von der Nordtribüne“, schreibt der ehemalige Leiter des Supporter Clubs, Timo Horn, am Tag nach dem Nürnberg-Spiel auf X.
HSV: Ist die Kurve zu unkritisch mit der Mannschaft?
Zuletzt schoben die HSV-Ultras zwar Frust, haben ihren Unmut in dieser Saison aber noch nicht lautstark kundgetan haben. Manch ein Beobachter des HSV sieht diese bedingungslose Unterstützung durchaus kritisch.
Die Ultras beim HSV aber ticken anders. Sie schwören auf einen starken Zusammenhalt mit der Mannschaft, der durch fannahe Spieler wie Ersatztorwart Tom Mickel in den vergangenen Jahren trotz aller sportlichen Enttäuschungen immer stärker gewachsen ist. Das Motto der Fans in einem ihrer Lieder: „Schrei es laut mit Stolz für uns, wenn du diese Liebe in dir trägst. Diese bedingungslose Leidenschaft, die sogar Repressionen übersteht.“
HSV: Ultras protestieren gegen verschiedene Themen
Repressionen wie willkürliche Stadionverbote sind in der Fanszene des HSV aktuell kein Thema. Trotzdem gibt es Themen, die die aktive Fanszene beschäftigen. Die Ultras protestieren gegen hohe Ticketpreise, die Vermietung des Volksparkstadions oder auch das Dauerthema Videobeweis. „Für einen Fußball mit Emotionen – VAR abschaffen“, steht auf einem weiteren Banner gegen Nürnberg.
Die zunehmende Haltung zu einem klaren Werteverständnis auf der Nordtribüne ist auch durch die Corona-Pandemie verstärkt worden. In dieser Zeit haben sich vor allem die Ultras durch zahlreiche Aktionen solidarisch gezeigt. „Die aktive Fanszene hat sehr eindrucksvoll unter Beweis gestellt, was man mit Solidarität auch in diesen Zeiten bewirken kann. Die Fans sind ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachgekommen“, sagte Ex-Capo Henrik Köncke, mittlerweile im Aufsichtsrat des HSV, schon vor drei Jahren im Abendblatt.
Mehr zum Thema HSV
- Urteil im Prozess gegen HSV-Profi Jatta: Doch Hintertür bleibt offen
- HSV-Entwarnung? Meffert auf dem Platz, Baumgart äußert sich
- Baumgart unter Druck: Wie die HSV-Spieler ihren Trainer sehen
Aktuell will sich die aktive Fanszene auf Anfrage nicht weiter äußern zur Entwicklung auf der Nordtribüne. Ihre Haltung wird man aber bereits an diesem Sonnabend wieder in ihrem Lied „Allez, allez, allez“ hören, im Optimalfall nach einem Sieg gegen Schalke: „Das Klima hier ist kühl, die Zeiten hier sind rau, und darum lernt‘ ich früh, für immer HSV.“