Hamburg. Weil er die Mindestnutzung nicht erreichte, hat Niklas Bartscht seine Dauerkarte verloren. Ungerecht? Oder gleiches Recht für alle?
Niklas Bartscht muss nicht lange überlegen, als er nach seinem ersten Besuch im Volksparkstadion gefragt wird. „HSV gegen Bayern München. Im Dezember war das. Der HSV hat 2:1 gewonnen“, sagt der HSV-Fan ohne zu Zögern. „Das war die Zeit von Rafael van der Vaart. Und Takahara. Und Raphael Wicky. Ich war zwölf Jahre alt.“ Heute ist Niklas Bartscht 35 Jahre alt. Ein Blick in die HSV-Historie zeigt schnell: In dieser Zeit, von der er spricht, hat der HSV nie gegen die Bayern gewonnen. Und es gab auch kein Spiel im Dezember.
Geschichten aus der Vergangenheit bringt Bartscht häufig durcheinander. Das liegt an seiner geistigen Einschränkung. Bartscht ist 70 Prozent schwerbehindert. Bei seiner Geburt wurde ein Herzfehler festgestellt. Nach mehreren Operationen leidet er seit seiner Kindheit an einer Lernbehinderung. Was er aber ganz genau weiß: „Seit ich klein bin, bin ich HSV-Fan. Der HSV ist mein Verein. Mein Zeitvertreib.“
HSV-Fan mit schwerer Behinderung wurde die Dauerkarte entzogen
Bartscht sitzt in seiner Wohnung in Barmbek und kramt seine Dauerkarten aus einer Box. Seit der Saison 2014/15 ist er Dauerkartenkunde beim HSV. Oder genauer gesagt: Er war Dauerkartenkunde. Zehn Jahre nach seinem ersten Saisonticket hat Bartscht im Sommer sein Dauerkartenvorkaufsrecht verloren.
Weil er die Mindestnutzung in der vergangenen Saison nicht erfüllen konnte, informierte ihn der HSV Ende Mai, dass er kein neues Angebot mehr für die Saison 2024/25 bekommen werde. Eine Nachricht, die ihn schwer getroffen hat. „Ich habe mich immer gefreut auf das Wochenende. Die sozialen Kontakte fehlen mir“, sagt Bartscht und spricht von „Einsamkeit“.
Niklas Bartscht: „Man muss im Stadion sein. Das ist anders als im Fernsehen“
Am Sonntag (13.30 Uhr) bestreitet der HSV sein drittes Heimspiel gegen Jahn Regensburg. Das Volksparkstadion wird wohl wieder annähernd ausverkauft sein. Bartscht könnte das Spiel zu Hause gucken. Er hat einen Fernseher und ein Sky-Abo. Aber er will sich die HSV-Spiele nicht im Fernsehen anschauen. „Man muss im Stadion sein. Das ist anders als im Fernsehen.“ Bartscht ist enttäuscht vom HSV.
Neben ihm sitzt seine Mutter Susanne. Sie kümmert sich täglich um ihren behinderten Sohn, macht aber nicht alles. Ihr Sohn lebt seit einiger Zeit alleine. Er arbeitet in der Patisserie eines Hamburger Hotels, geht jeden Tag alleine zur Arbeit. Und er ging auch immer alleine ins Stadion. Seine Mutter hat ihn zur Selbstständigkeit erzogen. Womöglich war diese Selbstständigkeit die Ursache, dass Niklas sein Dauerkartenanrecht beim HSV verloren hat. Aber der Reihe nach.
Susanne Bartscht: „Der HSV ist Niklas’ Leben“
Hinter der Familie Bartscht liegen Monate voller Aufregung. Emails, Telefonate, sogar ein Gang zur Polizei. „Der HSV ist Niklas’ Leben. Er begleitet ihn sein Leben lang. Man kann sich nicht vorstellen, was er alles über Fußball weiß“, sagt seine Mutter, die in den vergangenen Monaten dafür kämpfte, dass ihr Sohn seine Dauerkarte doch noch verlängern kann. Am Ende aber blieb es bei der Entscheidung des HSV: keine Dauerkarte mehr für Niklas Bartscht.
Es ist ein Fall, der nicht nur die Familie, sondern auch den HSV im Sommer ordentlich beschäftigt hat. Es ist eine Geschichte, in der es kein richtig und kein falsch gibt. Eine Geschichte über den richtigen Umgang der Gesellschaft und insbesondere von Fußballvereinen mit Menschen mit Behinderung. An deren Ende es aber vor allem einen Verlierer gibt: Niklas Bartscht.
Seit 2016 müssen die Besitzer einer HSV-Dauerkarte eine Mindestnutzung erfüllen
Rückblick: Im Februar meldet sich der HSV-Fan bei seiner Mutter und bittet sie um Hilfe. Er mache sich große Sorgen um seine Dauerkarte. Es könne passieren, dass er die Mindestnutzung nicht erfüllen kann. Schon drei Heimspiele hat er im Jahr 2024 aufgrund von Erkrankungen verpasst.
Im Jahr 2016 hatte der HSV aufgrund der hohen Nachfrage für seine Dauerkartenkunden eine Mindestnutzung von zwölf Spielen pro Saison eingeführt. Bleiben die Inhaber deutlich unter der Grenze, bekommen sie kein neues Angebot. Die Fans auf der Warteliste rücken nach.
In der Ticketbörse können Dauerkartenkunden ihr Ticket für ein Spiel verleihen
Niklas Bartscht weiß das. Schon in der Saison 2017/18 blieb er unter der Mindestzahl. Der HSV zeigte sich nachsichtig und gab der Familie eine weitere Chance, wies aber noch einmal ausdrücklich auf die Mindestnutzung sowie die Ticketbörse hin, in der Dauerkartenkunden ihre Karte für ein Spiel zur Verfügung stellen können, wenn sie verhindert sind. Zudem macht der HSV in einem Begleitschreiben der Dauerkarte auf die Ticketbörse aufmerksam, zweimal im Jahr zudem in einer zusätzlichen Mail.
Das Problem: Weder Niklas Bartscht noch seine Mutter wollen von dieser Ticketbörse etwas gewusst haben. Trotz seiner geistigen Einschränkung gehen die Emails, die der HSV verschickt, direkt an ihn. Wenn er eine Email als wichtig einschätzt, leitet er sie an seine Mutter weiter. Doch die Einschätzung, ob eine Email wichtig ist oder eben nicht, fällt ihm schwer.
Seine geistige Behinderung ist die Folge einer Herzoperation im Alter von sechs Monaten
Wer Niklas das erste Mal trifft, ist überrascht, wie klar und gesund er wirkt. Seine schwere Behinderung ist auf den ersten Blick kaum sicht- und spürbar. Neben seiner Intelligenzeinschränkung wurde aber auch eine Akalkulie diagnostiziert, also die erworbene Unfähigkeit im Umgang mit Zahlen. Auch das ist die Folge seiner Herzoperationen.
Dass er diese überhaupt überlebt hat, bezeichnet seine Mutter als „Sensation“. Nach der Geburt wurden Löcher in seinem Herzen festgestellt. Es kam zu einer krankhaften Verdickung des Herzmuskels. Mit sechs Monaten wurde er in London vom Kinderherzchirurgen Marc de Leval am Herzen operiert. Weltweit gab es nur zwei Ärzte, die diese Operation vornehmen konnten.
„Die Ärzte haben gesagt: Dass er das alles überlebt hat, ist ein Zeichen, was für ein Kämpfer er ist“, sagt seine Mutter. Trotzdem musste Niklas sechs Wochen beatmet werden. Die Folge war eine Entwicklungsverzögerung bis zu seinem siebten Lebensjahr. „Es war dramatisch.“
Wenn ihr Sohn ungerecht behandelt wird, könne seine Mutter zu einer Löwin werden
Susanne Bartscht hat viel Zeit und Kraft investiert, um ihrem Sohn ein normales Leben zu ermöglichen. Im Laufe der Jahre hat sie aber auch viel Diskriminierung und Ausgrenzung erlebt. Wenn sie das Gefühl hat, dass man ihren Sohn ungerecht behandelt, wird sie zur Löwin, wie sie selbst sagt. Und vom HSV fühlt sie sich ungerecht behandelt. „Es geht um einen menschlichen Umgang“, sagt sie.
Nachdem ihr Sohn von seinen Sorgen um die Mindestnutzung berichtete, rief sie im Frühjahr im Servicecenter des HSV an. Sie schilderte das Problem. Und war erleichtert, dass man ihr am Telefon sagte, dass sie sich keine Sorgen machen solle. Eine Entscheidung werde ohnehin erst nach der Saison fallen. Und aufgrund des Handicaps ihres Sohnes werde es sicher kein Problem geben. Einen Hinweis auf die Ticketbörse habe es nicht gegeben. So erzählt sie es.
Der HSV beruft sich darauf, dass für alle Fans die gleichen Bedingungen gelten
Der HSV stellt die Geschichte anders da. Der Anruf kann nicht zurückverfolgt werden. Bei den Personen, die über die Dauerkarten entscheiden, kam der Inhalt jedenfalls nicht an. Ob das an der Entscheidung etwas geändert hätte, ist aber ohnehin unwahrscheinlich. Der Club verfolgt im Umgang mit Menschen mit Behinderung einen eigenen Inklusionsansatz.
„Für uns beim HSV bedeutet Inklusion, allen Fans, unabhängig von ihren individuellen Voraussetzungen, die gleichen Möglichkeiten zur Teilhabe zu bieten. Wir legen besonderen Wert darauf, gleiche Rahmenbedingungen für alle zu schaffen“, schreibt der HSV in seiner Erklärung.
Im Bereich der Inklusion war der HSV ein Vorreiter
Unter der Führung der Inklusionsbeauftragten Fanny Boyn hat der Club in den vergangenen zehn Jahren neue Leitlinien entwickelt. Der HSV war 2015 der erste Club im deutschen Fußball, der mit Boyn eine eigene Stelle für das Thema Inklusion schuf. Seit einem Jahr hat es die Deutsche Fußball-Liga zur Bedingung gemacht, dass jeder Verein einen Inklusionsbeauftragten hat. Der HSV war auf diesem Gebiet ein Vorreiter.
Boyn und der HSV sind zusammen mit Bayern München Sprecher der internationale Behinderten-Initiative CAFE (Centre for Access to Football in Europe). Boyn hat viele Inklusionsprojekte initiiert. Sie schrieb ein eigenes Konzept zur Schulung von Ordnern, um Berührungsängste bei der Kontrolle von Menschen mit Behinderungen abzubauen.
HSV: Menschen mit Behinderung sollen im Stadion ganz normaler Teil der Zuschauer sein
Im Stadion gibt es mittlerweile den Ankerplatz als Anlaufstelle für Autisten oder Depressive, die dort ihren Stress abbauen können. Es gibt Gebärdensprachdolmetscher, die die Stadionshow übersetzen. Blinde und Gehörlose können die Spiele im Stadion in einem eigenen Block mit einer Audiodeskription erleben. Künftig soll diese Live-Reportage durch einen neuen Wlan-Mast allen Zuschauern im Stadion zugänglich gemacht werden, so wie es schon bei der EM der Fall war.
Der HSV will durch einen ganzheitlichen Ansatz versuchen, das Thema Inklusion aus der Isolation zu holen. Es soll keine Extraeingänge oder Extrasitzbereiche nur für Behinderte geben, wie man sie in anderen Stadien findet. Es soll keine eigenen Inklusionstage geben, sondern Menschen mit Behinderung sollen immer und in allen Bereichen ein ganz normaler Teil der Zuschauer sein.
Der HSV verfolgt die Vision einer gemeinsamen Fankultur
Schon jetzt sind etwa bei den Einlaufkindern immer zwei Plätze für Menschen mit Behinderung reserviert. Zusammengefasst: Der HSV will Behinderte nicht anders behandeln, gleichzeitig aber auf die besonderen Bedürfnisse eingehen und diesen nachkommen.
„Unsere Werte und Regeln gelten für jeden, wobei wir die Individualität jedes Einzelnen berücksichtigen. Wir bewerten auf einer einheitlichen Grundlage und machen diese transparent“, schreibt der HSV. „Unser Ziel ist es, Barrieren abzubauen, unsere Gemeinschaft so zu gestalten, dass niemand ausgeschlossen wird und Vielfalt bzw. Einzigartigkeit jedes Einzelnen zu würdigen. Unsere Vision ist eine gemeinsame Fankultur, in der alle Menschen willkommen sind und ihren Platz finden, egal welche Identitäten sie mitbringen.“
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Für Susanne Bartscht sind diese Sätze aber keine nachvollziehbare Erklärung dafür, dass ihrem Sohn die Dauerkarte entzogen wurde. Sie verweist auf die gesundheitlichen Einschränkungen, die ihrem Sohn die Mindestnutzung nicht möglich machten.
Laut Verein kommen rund 2000 Menschen mit Behinderung pro Heimspiel ins Stadion
„Niklas hatte ein ganz schwieriges Jahr. Er war oft krank und musste dreimal in die Notaufnahme. Wenn er krank wird, denkt er als Erstes an den HSV. Das war seine größte Sorge“, sagt Bartscht. Sie empfindet die Ablehnung des HSV als Diskriminierung. „Es geht darum, dass Niklas durch seine Behinderung bestimmte Dinge nicht kann, die für uns selbstverständlich erscheinen.“
Der HSV prüfte den Fall, entschied sich aber letztlich gegen eine Verlängerung, insbesondere aufgrund der Tatsache, dass die Mindestnutzung nicht zum ersten Mal nicht erfüllt wurde und die Familie sich nicht darum gekümmert habe, die Karte weiterzugeben.
Nur ein Spiel fehlte Niklas Bartscht, um die Mindestnutzung zu erfüllen
350 HSV-Mitglieder stehen aktuell auf der Dauerkarten-Warteliste. 98,5 Prozent der 23.700 Dauerkarteninhaber haben nach der vergangenen Saison von ihrem Vorrecht Gebrauch gemacht und verlängert. 435 von ihnen bekommen eine Ermäßigung von 57 Euro, da sie einen Grad der Behinderung von mindestens 50 Prozent haben. Der HSV schätzt, dass rund 2000 Menschen mit Behinderungen pro Heimspiel ins Volksparkstadion kommen. Darunter sind auch viele Fans mit nichtsichtbarer Behinderung.
Für Menschen mit Behinderung hat der HSV die Mindestnutzung von zwölf auf neun Spiele herabgesetzt. Niklas Bartscht kam am Ende auf acht Spiele. Zu wenig für den HSV, um die Dauerkarte erneut zu verlängern. In einem Telefonat mit Susanne Bartscht habe der Club der Mutter dafür das Angebot gemacht, dass ihr Sohn in Zukunft jedes Heimspiel auf dem gleichen Platz sehen könne, auf dem er immer saß, wenn sie sich rechtzeitig beim HSV melde.
Anzeige gegen den HSV: Bei der Polizei brach Niklas Bartscht in Tränen aus
Susanne Bartscht bestreitet, dass es zu diesem Angebot gekommen sei. Sie schrieb stattdessen einen Brief an den HSV-Vorstand Eric Huwer. Sie wandte sich an Investor Klaus-Michael Kühne, in der Hoffnung, dass dieser ein Machtwort für ihren Sohn sprechen werde.
Nachdem Niklas dann telefonisch vom HSV informiert wurde, dass die Entscheidung endgültig sei, ging sie zur Polizei und stellte eine Anzeige gegen den HSV wegen des Verstoßes gegen das Gleichstellungsgesetz. „Niklas war so innerlich aufgewühlt, wie ich ihn selten erlebt habe“, sagt seine Mutter. Bei der Schilderung des Falles brach Niklas Bartscht vor dem Polizisten in Tränen aus. „Ich war erschüttert, weil ich zum ersten Mal gespürt habe, wie betroffen er ist.“
Der HSV argumentiert: Für alle gilt gleiches Recht
Sie wusste aber, dass die Anzeige ins Leere laufen wird und suchte das Gespräch mit dem Behindertenbeauftragten der Stadt Hamburg, Sven Bliesener, der wiederum mit dem HSV sprach. Doch auch das hatte schließlich keinen Einfluss mehr auf die Entscheidung. Susanne Bartscht empfindet das als ungerecht. Gleiches Recht für alle, lautet dagegen das Argument des HSV.
Ob die beiden Seite am Ende doch noch einmal zusammenkommen und eine Lösung finden? Der HSV ist dazu bereit. „Unser Angebot bleibt weiterhin bestehen: Wir unterstützen selbstverständlich gern bei der Organisation des Stadionbesuchs und stellen jeden benötigten Service für Ihren Sohn bereit. Der Entzug der Dauerkarte bedeutet nicht, dass Sie zukünftig ausgeschlossen sind“, schreibt der HSV.
Niklas Bartscht wird so schnell nicht mehr ins Stadion gehen. Die Hoffnung, dass er seine Dauerkarte zurückbekommt, hat er aber noch nicht aufgegeben.