Hamburg. Vor zwei Jahren erfährt der neue HSV-Profi eine Schock-Diagnose, die ihm den Boden unter den Füßen wegzieht. Doch er ging gestärkt daraus hervor.
Und plötzlich klingelte das Handy von Marco Richter. Davie Selke hatte seinen früheren Mitspieler von Hertha BSC angerufen, nachdem ihn dieser bei WhatsApp über das Angebot des HSV informiert hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Richter bereits mit Sportvorstand Stefan Kuntz getroffen und auch ein „sehr gutes Gespräch“ mit Trainer Steffen Baumgart geführt.
Für Richter steht danach fest, dass er unbedingt zum HSV wechseln will. Also schreibt er Selke, der selbst erst seit diesem Sommer in Hamburg unter Vertrag steht. „Davie rief mich direkt über Facetime an. Wir haben 30 Minuten telefoniert, in denen er mir alles über den HSV, das Stadion und die Abläufe erzählt hat“, berichtet Richter am Mittwoch im Volkspark, eine Woche nach seiner Unterschrift unter seinen bis Saisonende gültigen Leihvertrag.
Bei seinem Stammverein Mainz 05 steht Richter noch bis 2027 unter Vertrag. Weil der HSV keine Kaufoption besitzt, muss der Profi nach aktueller Lage der Dinge in einem Jahr zum Bundesligisten zurückkehren, bei dem er zuletzt nicht mehr glücklich wurde. Gerade einmal 712 Spielminuten kam Richter in der vergangenen Spielzeit zum Einsatz. Nachdem der erfolgreiche Trainer Bo Henriksen im Februar übernommen hatte, waren es nur noch 43 Minuten. „Das Jahr war schwierig. Ich wollte unbedingt eine Veränderung, das gebe ich offen zu“, sagt Richter ehrlich.
HSV-Profi Marco Richter: Seine bewegende Geschichte
Nach 176 Bundesligaspielen ist er nun in der Zweiten Liga beim HSV gelandet. Eine Liga, in der er vor einem Jahr auf keinen Fall spielen wollte. Dabei hatte ihn Hertha-Trainer Pal Dardai in der Vorbereitung extra zum Kapitän gekürt, das gesamte Offensivspiel auf ihn ausgerichtet und ihm immer wieder das Gefühl gegeben, wichtig zu sein. Doch Richter wollte nur eines: weg. Eine 0:3-Niederlage in der 2. Liga ist schließlich sein letztes Spiel für die Berliner, bevor er nach Mainz wechselt. Herthas Gegner damals: der HSV.
Mit seinem Abgang aus Berlin schloss Richter auch mit einem Kapitel ab, das ihn trotzdem den Rest seines Lebens begleiten wird. Rückblick: Weil ihn seit Längerem Schmerzen im Genitalbereich plagen, sucht er am 11. Juli 2022 den Urologen Bernhard Ralla auf. Dieser diagnostiziert einen Tumor im Hoden, der operativ entfernt werden muss. „Im ersten Moment ist für mich ist eine kleine Welt zusammengebrochen“, erinnert sich der Angreifer, der damals – wieder bei WhatsApp – ein Symbolbild mit nur drei Buchstaben an seinen Berater schickte: SOS.
Dieser ahnt noch nichts von der Schock-Diagnose. Er ruft seinen Spieler sofort an und erreicht ihn in einem Berliner Café. Richter kämpft mit den Tränen. In dem Lokal sitzen zwei seiner Mitspieler von Hertha BSC. Doch der Offensivmann, für den es in seiner Karriere bis dahin nur bergauf ging, ist am Boden zerstört, er will mit niemandem reden. „Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich nach der Diagnose in das Café gefahren bin. Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte, wohin mit mir“, sagte Richter zwei Monate später dem „Spiegel“.
Richter geht gestärkt aus Schock-Diagnose hervor
In seinem linken Hoden hatte sich ein 14,5 Millimeter großer Tumor gebildet. Die Erschütterung saß tief. „Da war sofort die Angst, die Angst ums Leben und davor, nie wieder Fußball spielen zu können“, ließ sich Richter im „Spiegel“ zitieren. Fast auf den Tag genau zwei Jahre später wiederholt er diese Worte nicht. „Nein, ich habe nicht ein Prozent an der Fortsetzung meiner Profikarriere gezweifelt“, sagt der 1,76 Meter große Fußballer bei seinem ersten Interview als HSV-Profi.
Richter wirkt erstaunlich klar im Kopf, als er über den Krebs spricht, den er besiegt hat. Es ist ihm anzumerken, dass ihn die einstige Schocknachricht längst nicht mehr belastet. Die Gründe seiner mentalen Stärke führt er auf ein „überragendes Umfeld“ zurück. „Meine Familie, meine Freundin, die Hertha waren immer für mich da“, weiß Richter zu schätzen. „Ich bin sehr gestärkt aus der Zeit hervorgegangen. Natürlich wünsche ich keinem, so etwas durchzumachen, das ist ganz klar.“
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HSV-Profi Richter: offener Umgang mit dem Krebs
Sein Tumor wird ihm nur zwei Tage nach der Diagnose in der Berliner Charité entfernt. Zuvor ließ er auf Anraten der Ärzte seine Spermien in einer Samenbank einlagern. Als er erfährt, dass dabei alles gut gelaufen sei, ist Richter erleichtert. Gleiches gilt für den 20. Juli, also neun Tage nach der Operation, als der Profi endlich Gewissheit hat: Der Krebs hat nicht gestreut, eine Chemotherapie ist nicht notwendig. „Ich habe nur noch einen Hoden. Na und? Es funktioniert alles“, sagte er dem „Spiegel“.
Gerade einmal eineinhalb Monate nach seiner OP läuft Richter schon wieder im Berliner Olympiastadion unter dem Applaus der Zuschauer auf. „Es sind zum Glück keine Langzeitfolgen aufgetreten“, sagt Richter am Mittwoch. Auch in den Nachkontrollen sei nie etwas auffällig gewesen. Auch die Lockerheit hat Richter längst zurückgewonnen. Beim HSV will er nun zu alter Stärke finden. Doch etwas anderes ist viel wichtiger – der Satz seines Lebens: „Ich habe den Krebs besiegt.“