Hamburg. Der HSV setzte auch gegen Hertha auf die neue defensivere Spielweise. Wie der Trainer den Strukturwechsel im Volkspark erklärt.
Am kommenden Sonntag wird der HSV vor eine besondere Herausforderung gestellt. In der ersten Runde des DFB-Pokals beim SV Meppen werden die Hamburger den Ball haben. Oft und viel. Es wäre keine Überraschung, wenn der Zweitligist beim Viertligisten bis zu 70 Prozent Ballbesitz haben wird. Angesichts der Erfahrungen in den vergangenen Zweitligajahren wäre das für den HSV eigentlich eine ganz normale Wochenendaufgabe. Doch in dieser Saison ist alles anders. Zumindest was den Ballbesitz angeht. 40 Prozent waren es laut „Kicker“-Statistik am ersten Spieltag beim 2:1-Sieg in Köln, 41 Prozent am zweiten Spieltag beim 1:1 gegen Hertha BSC. So niedrige Ballbesitzwerte hatten die Hamburger in der Liga seit sieben Jahren nicht mehr.
„Ich hätte gerne etwas mehr Ballbesitz gehabt“, sagte Trainer Steffen Baumgart insbesondere über die zweite Halbzeit, in der fast ausschließlich Hertha BSC den Ball hatte. „Aber in der vergangenen Saison hatten wir 60 bis 70 Prozent Ballbesitz und da musste ich mich entschuldigen, weil wir gegen Mannschaften mit 30 Prozent Ballbesitz 1:0 verloren haben“, sagte Baumgart und erinnerte sich an Niederlagen gegen Osnabrück (68 Prozent Ballbesitz, 1:2), in Düsseldorf (63 Prozent, 0:2), gegen Holstein Kiel (63 Prozent, 0:1) oder in Paderborn (58 Prozent, 0:1).
Vier Niederlagen unter Baumgart, die am Ende Platz vier für den HSV bedeuteten. Mal wieder. In dieser Saison soll das endlich anders werden. Und deshalb gehen die Hamburger nun einen anderen Weg. Es ist das Ende des Ballbesitzfußballs, der insbesondere in der Ära unter dem ehemaligen Sportvorstand Jonas Boldt zur DNA des HSV gehörte. Etwas anderes könne man dem Publikum in Hamburg nicht anbieten, sagte Boldt immer wieder hinter vorgehaltener Hand.
HSV: Baumgart trotz späten Ausgleichs zufrieden
Steffen Baumgart kennt keine vorgehaltenen Hände. Der 52-Jährige sagt immer und überall geradeaus das, was er denkt. Beispiel gefällig? „Ob wir jetzt Erster sind oder Fünfter zu diesem Zeitpunkt, interessiert keinen toten Sherrif“, sagte der HSV-Trainer am späten Sonnabend in der Analyse des Hertha-Spiels.
Die Hamburger sahen aber zumindest aus wie angeschossene Sherrifs, als sie nach dem 1:1 im ersten Heimspiel der Saison gegen die Berliner nach einer starken und dominanten ersten Halbzeit nach der Pause das Fußballspielen einstellten und kurz vor Schluss noch den verdienten Ausgleich durch Jonjoe Kenny kassierten (86.). Das Unentschieden fühlte sich für den HSV daher eher nach einer Niederlage an. Wobei Baumgart ja der Meinung ist: „In Hamburg ist ein Unentschieden eine Niederlage.“
HSV verpasst 2:0 gegen Hertha
Laut offizieller Zweitligatabelle hat der HSV für das 1:1 gegen Hertha aber einen Punkt bekommen. Mit vier Punkten aus zwei Spielen gegen zwei Schwergewichte der Liga können die Hamburger eigentlich gut leben. Und trotzdem ärgerten sich bis auf Baumgart alle über den vergeben Sieg, der mehr als möglich war.
Hätte Ludovit Reis nach einer tollen Kombination über Miro Muheim und Ransford Königsdörffer nach 26 Minuten das sichere 2:0 gemacht oder Immanuel Pherai bei seinem Pfostenfreistoß einen Zentimeter weiter nach rechts gezielt (85.), hätten womöglich die meisten über den perfekten Plan von Baumgart gesprochen und den HSV als Spitzenmannschaft bezeichnet. Aber: „Eine Topmannschaft macht das 2:0, dann ist der Deckel drauf“, sagte Jonas Meffert.
HSV wollte sich auf die Defensive konzentrieren
So aber kassierte der HSV nur eine Minute nach Pherais Pfostentreffer den verdienten Ausgleich. Verdient, weil der HSV nach einer starken ersten Halbzeit und dem Tor von Königsdörffer nach präziser Flanke von Bakery Jatta (11.) viel zu passiv spielte und sich wie schon in Köln auf das Verteidigen der Führung konzentrierte.
„Vielleicht waren wir zu passiv“, sagte Torhüter Daniel Heuer Fernandes. Neuzugang Silvan Hefti verzichtete auf den Zusatz vielleicht. „Wir waren zu passiv in der zweiten Hälfte“, sagte der Schweizer nach seinem HSV-Debüt, und hatte dann doch noch ein vielleicht dabei. „Im ersten Durchgang haben wir dominant gespielt, danach haben wir uns vielleicht hinten zu tief reindrücken lassen.“ Und Meffert meinte: „Vielleicht sind wir ein bisschen selbst schuld. Wir haben in der zweiten Halbzeit etwas zu defensiv gespielt.“
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Nicht nur vielleicht, sondern ganz sicher hat der HSV zu passiv gespielt. Aber das war auch Teil des Plans. Nur eben nicht so passiv, wie es dann aussah. Baumgarts Plan sah vor, sich tiefer zu positionieren und dann über Ballgewinne und Umschaltmomente die Entscheidung herbeizuführen. Doch die wenigen Momente erstickten schon im Ansatz. „Uns fehlen noch die Lösungen aus diesem etwas defensiveren Spiel nach Ballgewinnen. Das ist den Jungs noch nichts ins Blut übergegangen“, sagte Baumgart. Was nach sechs Jahren Ballbesitzfußball, darunter zweieinhalb Jahren dominanter Tim-Walter-Ball, auch keine Überraschung ist.
Überrascht hat der HSV mit seiner neuen Ausrichtung in jedem Fall die gesamte Liga. Nun geht es darum, dass die Hamburger nicht mehr allzu häufig eine böse Überraschung erleben, wenn der Gegner in Zukunft häufiger den Ball hat als der HSV.