Hamburg. Innenverteidiger hatte im Stadtderby gerade erst sein Comeback nach Kreuzbandriss gefeiert. Auch sonst nehmen die Sorgen des HSV zu.

Am Morgen nach dem Trauma war die Zeit der intensiven Aufarbeitung noch nicht gekommen. HSV-Trainer Daniel Thioune verzichtete am frühen Dienstag auf die sonst obligatorische TV-Analyse der bitteren Derby-Niederlage vom Vorabend. „Heute war der Kopf für so etwas nicht frei“, erklärte wenig später Sportdirektor Michael Mutzel, der selbst nur eine Stunde geschlafen hatte.

Statt zuschauen, war am Dienstagmorgen also zuhören gefragt. Trainer Thioune versammelte die gesamte Mannschaft in der Kabine, auch Mutzel und Sportvorstand Jonas Boldt waren dabei, und appellierte an das Zusammengehörigkeitsgefühl. „Die Message war: Wir bleiben zusammen“, sagte Mutzel.

HSV-Fans: "Unfassbar frustrierend und vorhersehbar"

Es war eine Kampfansage – an die Mannschaft, aber auch an die eigenen Fans. Beim 0:1 gegen den FC St. Pauli hatte der HSV neben dem Derby und seinen Kapitän Tim Leibold vor allem auch die Zuversicht vieler Anhänger verloren, dass es in dieser Saison anders als in den vergangenen zwei Jahren laufen würde.

„Was mich halt am meisten nervt ist, dass dieser Verein einen immer richtig schön anfüttert, um einem dann mit der flachen Hand voll eine ins Gesicht zu klatschen“, schrieb beispielsweise HSV-Fan „Dösbaddel“ bei Twitter. Die Frage, ob all das nun schon wieder losgehen würde, hatte er längst beantwortet: „Es ist einfach so unfassbar frustrierend und vorhersehbar.“

HSV und die Angst vor dem Déjà-vu

Zwei Jahre ist es her, dass der HSV in seinem ersten Zweitligajahr die Hinrunde als Tabellenführer abschloss, nach der Winterpause einbrach, in der Rückrundentabelle nur den 15. Rang belegte und am Ende einen Aufstiegsplatz um nur ein Pünktchen verpasste, das durch ein blutleeres 0:0 im ersten Zweitligaderby gegen St. Pauli fehlte.

Ein Jahr ist es her, dass der HSV dieses Kunststück wiederholte, die Hinrunde erneut auf einen Aufstiegsplatz abschloss, nach der Winterpause erneut einbrach und nach zwei Derby-Niederlagen am Ende einen Relegationsplatz erneut um nur einen Punkt verpasste. Und in diesem Jahr?

HSV verliert das 105. Stadtdderby:

St. Pauli gegen HSV – Emotionen auch ohne Zuschauer

Derbyheld: Daniel-Kofi Kyereh schoss den FC St. Pauli gegen den HSV ins späte Glück.
Derbyheld: Daniel-Kofi Kyereh schoss den FC St. Pauli gegen den HSV ins späte Glück. © Witters | Unbekannt
Der Offensivspieler donnerte in der 88. Minute den Ball zwischen Sven Ulreich und Pfosten in die HSV-Maschen.
Der Offensivspieler donnerte in der 88. Minute den Ball zwischen Sven Ulreich und Pfosten in die HSV-Maschen. © Witters | Unbekannt
Das 1:0 war der Goldene Treffer und die Bestätigung der inoffiziellen Stadtmeisterschaft für St. Pauli.
Das 1:0 war der Goldene Treffer und die Bestätigung der inoffiziellen Stadtmeisterschaft für St. Pauli. © Witters | Unbekannt
Groß war der Jubel nach dem Treffer...
Groß war der Jubel nach dem Treffer... © Witters | Unbekannt
...und groß war der Jubel nach dem Schlusspfiff.
...und groß war der Jubel nach dem Schlusspfiff. © Witters | Unbekannt
Für den HSV kam es noch dicker: Kapitän Tim Leibold sah in der Nachspielzeit für eine Tätlichkeit die Rote Karte.
Für den HSV kam es noch dicker: Kapitän Tim Leibold sah in der Nachspielzeit für eine Tätlichkeit die Rote Karte. © Witters | Unbekannt
Kritische Szene: In der 52. Minute prallen Gidon Jung und St. Paulis Rodrigo Zalazar im HSV-Strafraum aufeinander – es ertönt ein Strafstoß-Pfiff.
Kritische Szene: In der 52. Minute prallen Gidon Jung und St. Paulis Rodrigo Zalazar im HSV-Strafraum aufeinander – es ertönt ein Strafstoß-Pfiff. © Witters | Unbekannt
Doch nach Studium der Videobilder...
Doch nach Studium der Videobilder... © Witters | Unbekannt
...nimmt Schiedsrichter Deniz Aytekin seine Entscheidung zurück.
...nimmt Schiedsrichter Deniz Aytekin seine Entscheidung zurück. © Witters | Unbekannt
Alles klar? Die Kontrahenten Jeremy Dudziak (HSV, v.l.), Rodrigo Zalazar (St. Pauli), Leart Paqarada (St. Pauli) und David Kinsombi (HSV) beim Austausch von Nettigkeiten.
Alles klar? Die Kontrahenten Jeremy Dudziak (HSV, v.l.), Rodrigo Zalazar (St. Pauli), Leart Paqarada (St. Pauli) und David Kinsombi (HSV) beim Austausch von Nettigkeiten. © Witters | Unbekannt
Das Derby startete furios – hier setzt Sonny Kittel gleich in der ersten Minute einen Freistoß an die Latte.
Das Derby startete furios – hier setzt Sonny Kittel gleich in der ersten Minute einen Freistoß an die Latte. © Witters | Unbekannt
Auch in der Folge ging es in den Strafräumen hoch her.
Auch in der Folge ging es in den Strafräumen hoch her. © Witters | Unbekannt
Für St. Pauli vergab in der ersten Hälfte unter anderem Omar Marmoush zwei gute Möglichkeiten.
Für St. Pauli vergab in der ersten Hälfte unter anderem Omar Marmoush zwei gute Möglichkeiten. © Witters | Unbekannt
Guido Burgstaller blieb dagegen ohne klare Einschusschance.
Guido Burgstaller blieb dagegen ohne klare Einschusschance. © Witters | Unbekannt
Beim HSV war Bakary Jatta von Beginn an voll dabei.
Beim HSV war Bakary Jatta von Beginn an voll dabei. © Witters | Unbekannt
Aufseiten der Rothosen erhielt Gideon Jung die erste Verwarnung.
Aufseiten der Rothosen erhielt Gideon Jung die erste Verwarnung. © Witters | Unbekannt
Beim Kiezclub nahm Trainer Timo Schultz seinen Gelb verwarnten Kapitän Philipp Ziereis vorsichtshalber sogar schon nach 28 Minuten vom Feld. Für ihn kam Tore Reginiussen.
Beim Kiezclub nahm Trainer Timo Schultz seinen Gelb verwarnten Kapitän Philipp Ziereis vorsichtshalber sogar schon nach 28 Minuten vom Feld. Für ihn kam Tore Reginiussen. © Witters | Unbekannt
Der Spielerkreis des FC St. Pauli vor der Partie.
Der Spielerkreis des FC St. Pauli vor der Partie. © Witters | Unbekannt
Auch die HSV-Profis machten sich zum Anpfiff noch einmal heiß.
Auch die HSV-Profis machten sich zum Anpfiff noch einmal heiß. © Witters | Unbekannt
HSV-Trainer Daniel Thioune bei seinem eigenen Millerntor-Roar.
HSV-Trainer Daniel Thioune bei seinem eigenen Millerntor-Roar. © Witters | Unbekannt
Corona-Zeit? Derby-Zeit! St. Paulis Fans brannten vor dem Anstoß ein Feuerwerk am Stadion ab.
Corona-Zeit? Derby-Zeit! St. Paulis Fans brannten vor dem Anstoß ein Feuerwerk am Stadion ab. © Witters | Unbekannt
Auf Bengalos folgten auch Raketen...
Auf Bengalos folgten auch Raketen... © Witters | Unbekannt
...die den Einlauf der Mannschaften begleiteten.
...die den Einlauf der Mannschaften begleiteten. © Witters | Unbekannt
Auch die Mannschaft wurde bei ihrer Ankunft im Mannschaftsbus emotional begrüßt.
Auch die Mannschaft wurde bei ihrer Ankunft im Mannschaftsbus emotional begrüßt. © Witters | Unbekannt
Die klare Aufforderung ans Team:
Die klare Aufforderung ans Team: "Stadtmeister bleiben!" © Witters | Unbekannt
Auch der HSV-Bus fuhr am Millerntor vor...
Auch der HSV-Bus fuhr am Millerntor vor... © Witters | Unbekannt
...während die Polizei Stellung bezog.
...während die Polizei Stellung bezog. © Witters | Unbekannt
Der Mann mit der Mütze – in dem Fall St. Paulis Kapitän Daniel Buballa.
Der Mann mit der Mütze – in dem Fall St. Paulis Ex-Kapitän Daniel Buballa. © Witters | Unbekannt
Die HSV-Profis verschanzten sich indes unter ihren Kapuzen.
Die HSV-Profis verschanzten sich indes unter ihren Kapuzen. © Witters | Unbekannt
Jeremy Dudziak machte sich bei seiner Rückkehr an alte Wirkungsstätte derweil an spezielle Lockerungsübungen.
...während sich Jeremy Dudziak bei seiner Rückkehr an alte Wirkungsstätte derweil an spezielle Lockerungsübungen begab. © Witters | Unbekannt
1/30

Die nackten Zahlen sprechen gegen den HSV

Wieder schloss der HSV die Hinrunde als Tabellenführer ab, wieder brachen die Hamburger in der bisherigen Rückrunde ein – und wieder holte der HSV gegen seinen Stadtrivalen vom Millerntor aus zwei Spielen lediglich einen Punkt. Mit der nahe liegenden Frage, ob das alles nun schon wieder losgeht, können die HSV-Verantwortlichen dennoch nicht viel anfangen. „Da bin ich nicht dabei. Ich weigere mich, von einer Krise zu sprechen“, sagte Mutzel am Dienstag.

Die nackten Zahlen, Fakten und Ergebnisse sprechen allerdings eine andere Sprache. Der HSV konnte von sechs Rückrundenspielen lediglich eines (3:1 gegen Paderborn) gewinnen. Beim Letzten Würzburg erlaubten sich die Hamburger in der Vorwoche einen kollektiven Blackout – und auch beim Derby am Millerntor war trotz einer ordentlichen Leistung St. Pauli die bessere Mannschaft. 14:9 Torschüsse, 52:48 Prozent Ballbesitz, 54:46 Prozent Zweikampfquote, 5:4 Ecken – und vor allem: 1:0 Tore.

Die Statistik:

  • St. Pauli: Stojanovic – Ohlsson, Ziereis (28. Reginiussen), Lawrence, Paqarada (78. Buballa) – Benatelli – Becker (87. Zander), Zalazar – Kyereh – Burgstaller, Marmoush (87. Matanovic). Trainer: Timo Schultz
  • HSV: Ulreich – Vagnoman, Ambrosius, Jung (59. van Drongelen), Leibold – Heyer (90.+1 Meißner) – Kinsombi (90.+1 Narey), Dudziak (86. Wood) – Jatta (86. Wintzheimer), Terodde, Kittel. Trainer: Daniel Thioune
  • Schiedsrichter: Deniz Aytekin (Oberasbach)
  • Tore: 1:0 Kyereh (88.)
  • Gelbe Karten: Ziereis, Marmoush, Reginiussen, Benatelli – Jung
  • Rote Karte: – Leibold (90.+4/Tätlichkeit)

Leibold bittet Kollegen um Entschuldigung

Geht also doch wieder alles los?

Nein, sagte Rotsünder Leibold am Vorabend bei Sky. „Wir haben keine Angst davor.“ Auch am Dienstag hatte der Kapitän Redebedarf. Als Thioune die ganze Mannschaft um 9 Uhr in der Kabine versammelte, bat Leibold seine Kollegen um Entschuldigung. Eine Szene wie am Vorabend, als er nach einem leichten Tritt gegen den provozierenden Guido Burgstaller vom Platz flog, dürfe einem erfahrenen Mann wie ihm einfach nicht passieren. Wenige Stunden später verkündete das DFB-Sportgericht das Strafmaß: zwei Spiele Sperre und 8000 Euro.

Damit ist klar, dass neben den dauerverletzten Vizekapitänen Toni Leistner und Klaus Gjasula auch Kapitän Leibold in den beiden Blockbuster-Spielen gegen den Zweiten Holstein Kiel (am kommenden Montag) und beim Tabellenführer VfL Bochum (am Freitag darauf) fehlen wird.

Van Drongelen verletzt sich beim Comeback

Und es kommt noch dicker: Am späten Dienstagnachmittag teilte der HSV mit, dass sich Rick van Drongelen bei seinem Comeback nach Kreuzbandriss direkt schon wieder verletzt hat. Der niederländische Innenverteidiger zog sich demnach bei einer Grätsche im Stadtderby einen Außenbandriss im linken Sprunggelenk zu – die Ausfallzeit wird voraussichtlich mehrere Wochen betragen.

Lesen Sie auch:

Das Abwehr-Bollwerk, das noch in der Hinrunde so sattelfest war, ist damit endgültig gesprengt.

HSV-Anhänger werden schon philosophisch

„Sie haben es auch nicht anders verdient“, sagte am Dienstag einer der wenigen Anhänger, die das Spielersatztraining der Reservisten am Vormittag verfolgte. „Das geht ja alles wieder los.“

Der HSV ist ein kurioser Verein. Trotz ständiger Aufs und Abs, der Dauer-Häme und der fortlaufenden Enttäuschungen sind die meisten Fans trotzdem nicht klein zu bekommen. Nach dem Abstieg glaubte man an den direkten Wieder-Aufstieg. Nach dem verpatzten Wieder-Aufstieg hoffte man auf Versuch Nummer zwei. Als auch dieser kolossal scheiterte, hieß es im vergangenen Sommer: aller guten Dinge sind drei.

Auch der bereits zitierte „Dösbaddel“ suchte am Tag nach der Pleite und des geballten Fatalismus einen emotionalen Rettungsanker: „Trotzdem hat man immer wieder Hoffnung“, schrieb er, und fügte fast philosophisch bei Twitter an: „Das ist entweder Verblendung, Dummheit, Fanliebe, Ignoranz oder Hoffnung. Sucht euch was aus.“

HSV muss vor Spitzenspielen viele Fragen klären

Das Schöne am Fußball ist ja, dass auch für die Beantwortung dieser Frage kaum Zeit bleibt. So brauchte es lediglich 90 Minuten in Würzburg, um aus der mutmaßlich längsten HSV-Erfolgsserie dieses Jahrtausends (zwölf Spiele in Folge ohne Niederlage) eine Ergebniskrise (drei Partien in Folge ohne Sieg) zu machen.

Eine Derby-Niederlage später ist aus der Ergebniskrise eine veritable Aufstiegskrise geworden, die sich in der kommenden Woche innerhalb von nur fünf Tagen bereits wieder ins Gegenteil drehen kann. Denn nach den Spielen gegen Kiel und  in Bochum dürfte man schon etwas schlauer sein. Das Spektrum ist groß: Von der Rückkehr an die Tabellenspitze bis zur frühzeitigen Verabschieden aller Saisonziele scheint alles möglich.

Mehr zum Derby:

Das macht Mut und Angst zugleich. Viele Fragen müssen bis dahin beantwort werden: Wer kann Leibold ersetzen? Wer rückt für den erneut verletzten Hoffnungsträger Rick van Drongelen nach? Wie kann man Torjäger Simon Terodde endlich wieder besser in Szene setzen? Und was ist eigentlich mit Torhüter Sven Ulreich los? All diese Fragen wollen Mutzel und Thioune bis Montag beantworten. Die einzige Frage, die vorerst niemand mehr beim HSV hören will, lautet: Geht das schon wieder los?