Hamburg. Die Stadtmeisterschaft geht erneut an den Kiezclub. Kyereh wird zum späten Derbyhelden, der HSV-Kapitän zum noch späteren Antihelden.

Es war kurz vor halb elf am späten Abend, als die Freude auf dem Kiez keine Grenzen kannte. „Derbysieger, Derbysieger, hey, hey“, sangen St. Paulis Profis, als sie am Mittelkreis singend und tanzend den späten 1:0-Sieg über den HSV feierten.

Die Stadtmeisterschaft ist wieder einmal entschieden, der HSV droht erneut den Aufstieg zu verspielen – und das fünfte St.-Pauli-Ausrufezeichen in Folge war gesetzt.

"Ich bin überglücklich", sagte Matchwinner Daniel-Kofi Kyereh, der mit seinem wuchtigen Schuss in der 88. Minute zum späten Derbyhelden avancierte. "Wir sind der glückliche, aber verdiente Sieger", befand St. Paulis Trainer Timo Schultz. Sein Gegenüber Daniel Thioune konnte indes seine "Riesen-Enttäuschung" kaum verbergen.

"Es war richtig enttäuschend heute Abend", sagte auch der am Ende vom Platz gestellte HSV-Kapitän Tim Leibold bei Sky. "Ich glaube, dass wir ein richtig, richtig gutes Spiel gemacht haben. Dass wir das Ding hinten raus noch verlieren, ist nicht in Worte zu fassen." Das sah auch Thioune so: "Der Ertrag war nicht ausreichend für den Aufwand, den wir betrieben haben."

St. Pauli mit überraschender Aufstellung

Für ein großes Fragezeichen sorgten rund drei Stunden zuvor die fleißigen Helfer am Millerntor, die die Aufstellungen für das 105. Stadtderby verteilten.

Während Gästetrainer Daniel Thioune seine Mannschaft wie erwartet – also mit den Rückkehrern Jeremy Dudziak und Stephan Ambrosius sowie Josha Vagnoman für Jan Gyamerah und Bakery Jatta für Khaled Narey – aufstellte, tauchte in der Startelf des FC St. Pauli ein überraschender Name auf: Rico Benatelli durfte für den zuletzt so starken Eric Smith im defensiven Mittelfeld auflaufen.

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Der Hintergrund: Smith, der in vier Spielen seit seiner Ausleihe im Januar viermal mit den Kiezkickern gewinnen konnte, hatte sich im Abschlusstraining am Sonntag ein muskuläres Wehwehchen in der Wade zugezogen.

HSV-Wachmacher: Kittel wuchtig aus 35,7 Metern

St. Paulis Mittelfeldzentrum war damit gesprengt – was der Statik dieses Derbys allerdings überraschend guttat. Denn auf ein vorsichtiges Abtasten beider Taktik-Formationen hatte am Montagabend beide Mannschaften so gar keine Lust. Es ging von der ersten Minute an hin und her – wobei beide Mittelfeldreihen konsequent mit offensivem Hochgeschwindigkeitsfußball einfach überspielt wurden. "Genau so stellt man sich ein Derby vor", urteilte St. Paulis Trainer Schultz hinterher.

Den Anfang machte Sonny Kittel nach nicht einmal 60 Sekunden, als der Ball ausnahmsweise mal für ein kurzen Moment ruhte. Der spielfreudige Techniker knallte den ersten Freistoß des Spiels aus 35,7 Metern an die Latte. "Eine Mischung aus Glück und Können", attestierte St. Paulis Sportchef Andreas Bornemann. Kittel eröffnete mit seinem "Cristiano-Ronaldo-mäßigem" Auftritt (Sky-Experte Torsten Mattuschka) eine famose erste Halbzeit voller guter Ansätze auf beiden Seiten.

Ein Feuerwerk der Fans und der Chancen

Nach dem ersten HSV-Schuss hüben war es drüben kurze Zeit später Vollgasfußballer Omar Marmoush, dessen Speedy-Gonzales-Geschwindigkeit nur durch ein grenzwertiges Einsteigen Tim Leibolds und Vagnomans im HSV-Strafraum im letzten Moment gestoppt werden konnte (10.). Es folgte ein Chancen-Feuerwerk, das auch ohne sogenannte Hunderprozenter mit dem Silvester-Feuerwerk der Fans vor dem Anpfiff mithalten konnte.

Hier ein weiterer Kittel-Freistoß (12.), dort ein hübsches Geschoss von Rodrigo Zalazar (17.). Hier ein Kopfball Gideon Jungs an die Latte (21.), dort eine starke Parade Sven Ulreichs, der unter größter Anstrengung ein Fast-Eigentor Bakery Jattas vereitelte (23.).

St. Paulis Ziereis Gelb-Rot-gefährdet früh raus

Je länger allerdings die erste Halbzeit dauerte, desto mehr wurde aus dem anfänglichen Hin und Her ohne Verschnaufpause ein deutliches Übergewicht der Kiezkicker. „In der Anfangsphase hatten wir ein bisschen Glück, dann haben wir uns aber so richtig freigeschwommen. Wir sind nach einer halben Stunde deutlich besser im Spiel gewesen“, analysierte Bornemann treffend in der Pause bei Sky.

Dass zu diesem Zeitpunkt Innenverteidiger Philipp Ziereis, der Gelb-Rot-gefährdet nach nur 28 Minuten ausgewechselt werden musste, gar nicht mehr mitwirken konnte, war fast unerheblich. Die Rolle des Protagonisten übernahm St. Paulis Marmoush, der die gesamte HSV-Hintermannschaft immer wieder vor große Probleme stellte. Doch weil der blitzschnelle Angreifer, der vom VfL Wolfsburg ausgeliehen ist, gleich drei Möglichkeiten (28./29./35.) ungenutzt ließ, lautete nach 45 intensiven Minuten der Halbzeitzwischenstand weiterhin 0:0-Unentschieden.

Aytekin nimmt Elfmeter für St. Pauli zurück

Der HSV durfte sich kurz nach Wiederbeginn vor allem bei Schiedsrichter Deniz Aytekin bedanken, dass es zu-nächst beim torlosen Remis blieb. Der Unparteiische aus Oberaspach hatte nach einem harten Einsteigen Jungs gegen Zalazar ohne zu zögern auf Strafstoß entschieden, ehe er sich die Szene nach einem Anruf aus Köln von Videorichter Johann Pfeifer doch noch einmal in Ruhe am Spielfeldrand anschaute.

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Und nach mehreren Zeitlupen stand für Aytekin fest, dass der heranrauschende Jung den Ball eben doch noch im letzten Moment vor Zalazar getroffen hatte (52.). Eine richtige, aber glückliche Entscheidung für Jung, der wenig später ebenfalls Gelb-Rot-gefährdet gegen Comebacker Rick van Drongelen ausgewechselt werden musste.

Kyereh trifft mitten ins HSV-Herz

Nun hatte aber vor allem Videorichter Pfeifer Spaß am Spiel. Bei einem Treffer Simon Teroddes (64.) reichte allerdings eine flüchtige Überprüfung im Kölner Keller, da dem HSV-Torjäger vor seinem sehenswerten Treffer der Ball an die Hand gesprungen war.

Das Ausrufezeichen des Abends behielt sich St. Paulis Daniel-Kofi Kyereh aber für kurz vor Schluss auf. Der gerade erst eingewechselte Luca Zander legte auf den 24-Jährigen zurück, der aus zehn Metern mitten ins HSV-Herz traf.

Leibold ärgert sich über Schiedsrichter Aytekin

Für den Schluss- und Tiefpunkt sorgte Kapitän Leibold, der nach einem Schlag gegen Guido Burgstaller Rot sah und aus einer Ergebniskrise eine veritable Aufstiegskrise machte.

Der linke Außenverteidiger fehlt damit im nächsten schweren Nordderby gegen Aufstiegskonkurrent Holstein Kiel am kommenden Montag im Volksparkstadion. "Unnötig" und "überflüssig" fand dies Daniel Thioune, während der Rotsünder selbst auch fehlendes Fingerspitzengefühl beim Unparteiischen ausmachte.

Kapitän Tim Leibold erlebte den Schlusspfiff des aus HSV enttäuschenden 105. Stadtderbys nach seinem Platzverweis hinter der Bande.
Kapitän Tim Leibold erlebte den Schlusspfiff des aus HSV enttäuschenden 105. Stadtderbys nach seinem Platzverweis hinter der Bande. © Witters | Unbekannt

"Er ist normal ein Bomben-Schiedsrichter, der viele richtige Entscheidungen trifft", sagte Leibold über Aytekin. Sein Tritt sei "aus der Emotion heraus" nach der 90. Minute erfolgt: "Ich weiß nicht, ob man da unbedingt eine Rote Karte geben muss."

Die Statistik:

  • St. Pauli: Stojanovic – Ohlsson, Ziereis (28. Reginiussen), Lawrence, Paqarada (78. Buballa) – Benatelli – Becker (87. Zander), Zalazar – Kyereh – Burgstaller, Marmoush (87. Matanovic). Trainer: Timo Schultz
  • HSV: Ulreich – Vagnoman, Ambrosius, Jung (59. van Drongelen), Leibold – Heyer (90.+1 Meißner) – Kinsombi (90.+1 Narey), Dudziak (86. Wood) – Jatta (86. Wintzheimer), Terodde, Kittel. Trainer: Daniel Thioune
  • Schiedsrichter: Deniz Aytekin (Oberasbach)
  • Tore: 1:0 Kyereh (88.)
  • Gelbe Karten: Ziereis, Marmoush, Reginiussen, Benatelli – Jung
  • Rote Karte: – Leibold (90.+4/Tätlichkeit)