Hamburg. Die Abendblatt-Gespräche mit Co-Trainer Hannes Drews - was als Aufstiegs-Chronologie beginnt, wird zur Dokumentation des Scheiterns.
Es ist 17.28 Uhr, als HSV-Co-Trainer Hannes Drews alleine den Rasen des Volksparkstadions verlässt. Auf der Anzeigetafel steht in großen Buchstaben „Tschüs“, über die Lautsprecher läuft „Moin moin Hamburg“ von den Goldkehlchen. „Hamburg – ich bin dir ewig treu. Nur du kannst mir die Heimatliebe schenken.“
Drews ist der Letzte aus dem Team, der in die Kabine geht. Am Mittelkreis hatte er noch einige Minuten mit Braunschweigs Trainer Daniel Meyer gesprochen. Nach dem 4:0 des HSV ist die Eintracht zurück in die Dritte Liga abgestiegen. Dass der HSV es auch im dritten Versuch in Folge nicht geschafft hat, zurück in die Bundesliga aufzusteigen, steht bereits seit einer Woche fest.
HSV: Tagebuch eines Nicht-Aufstiegs
Einer, der vom ersten bis zum letzten Tag der Saison dabei war, ist Drews. Zehn Monate zuvor hat er dem Vorschlag des Abendblatts zugestimmt, ihn in seiner ersten Spielzeit bei den HSV-Profis zu begleiten. In regelmäßiger Reihenfolge sollte der 39-Jährige in Retroperspektive einen Einblick geben. Welche Ideen verfolgt das Trainerteam? Wie entstehen einzelne Taktiken? Welche Entwicklungsschritte erkennen sie?
Drews, so viel sei vorweggesagt, wird in den insgesamt sechs Treffen keine Staatsgeheimnisse und Interna verraten. Vielmehr soll es darum gehen, die Arbeit der Trainer zu verstehen. Was am Ende des Projekts herauskommt, ist zunächst offen. Im besten Fall, so die Idee, ist es das Tagebuch des Aufstiegs.
Am Ende wird es die Chronologie eines erneuten Scheiterns. Das Abendblatt hat diese Saison nach den sechs Treffen mit Drews, aber auch nach vielen Gesprächen mit Spielern, Trainern und Verantwortlichen nachgezeichnet und nach Gründen für den erneuten Nicht-Aufstieg gesucht. Am Ende wurde es eine Reise durch eine aufregende, turbulente, intensive, aber letztlich auch enttäuschende Saison.
Vom Albtraum zum Traumstart
Neun Monate zuvor sitzen Daniel Thioune, Merlin Polzin und Hannes Drews zusammen mit den Videoanalysten Alexander Hahn und Sören Meier in einem Besprechungsraum des Grand Elysée. Es ist eine halbe Stunde vor dem Mittagessen mit der Mannschaft. Am Abend steht das erste Saisonspiel gegen Fortuna Düsseldorf an.
Per Powerpoint wirft Thioune seinen Matchplan an die Wand. Der neue HSV-Trainer erstellt die Präsentation selbst, schreibt die Pläne zunächst selbst, um während der Ausarbeitung auf Inhalte zu stoßen, die möglicherweise noch unklar sind. Eine Powerpoint mit Animationen, die dann diskutiert wird.
HSV-Coach fordert Mentalität und Leidenschaft
Es geht um das Anlauf-Verhalten der Fortuna. Um Wenn-dann-Situationen. Die HSV-Trainer wissen, dass Düsseldorf im 4-3-3 von außen anläuft. Der Plan: Über Chip-Bälle von Torhüter Daniel Heuer Fernandes auf die Flügel das Pressing überspielen und die Außenbahnspieler Josha Vagnoman und Tim Leibold in Position bringen. Das Konzept geht auf. Der HSV gewinnt durch zwei Tore von Neuzugang Simon Terodde 2:1.
Nach dem Spiel versammelt Thioune alle Spieler und Mitarbeiter aus dem Staff im Kreis. Auch die Profis kommen dazu, die nicht im Kader standen. So wird es der Trainer in jeder Woche machen. Thioune sagt der Mannschaft: „Die Mentalität und die Leidenschaft, die wir heute gezeigt haben, muss unsere Basis sein.“ Später sitzt das Trainerteam noch in den Katakomben bei einem Bier zusammen. Es wird gelacht. Die Vorfreude auf das, was kommt, ist groß.
Erstes Abendblatt-Gespräch mit Hannes Drews
Drews sitzt drei Tage nach dem Auftaktsieg in einer Loge im Volksparkstadion mit dem Abendblatt. Es ist das erste Treffen des vereinbarten Saisonprojekts. Drews, Trainingsjacke, Jeans, in der Hand eine Colaflasche, ist sechs Wochen zuvor von der U 21 in das Trainerteam von Thioune gerückt.
Nachdem Sportvorstand Jonas Boldt für den gesamten Verein den Weg der Entwicklung ausgerufen hat, soll er als Übergangstrainer die Verbindung zum Nachwuchs herstellen und die jungen Spieler wie Amadou Onana, Josha Vagnoman und Stephan Ambrosius gezielt fördern.
Hoffnungen in HSV-Talent Josha Vagnoman
Drews ist sicher: „Josha wird explodieren, die Qualität seiner Flanken nimmt zu. Ich habe hohe Erwartungen an Amadou, er hat Riesenpotenzial. Stephan kann eine Überraschung werden, wenn er gesund bleibt.“ Über die Saison sagt er: „Wir werden nur bestehen, wenn wir konstant die Einstellung auf den Platz bringen. Sonst bekommen wir in Aue oder Sandhausen Probleme.“
Aber zurück zum Anfang. Der mit einem echten Albtraum beginnt. Mit 1:4 verliert der HSV sein Erstrundenmatch im DFB-Pokal bei Absteiger Dynamo Dresden. Drews ist nicht dabei. Bei Auswärtsfahrten bleibt er in Hamburg, um mit den Nichtnominierten im Volkspark zu trainieren. So die Idee des neuen Trainerteams.
Aus im Pokal: erster HSV-Skandal
Nach der Einheit sitzt Drews in seinem Haus in Bordesholm auf dem Sofa und verfolgt, wie der neue HSV beim Drittligisten Dresden baden geht. Doch der Skandal folgt erst nach dem Spiel. Bei Sky sieht Drews, wie Neuzugang Toni Leistner nach dem Spiel kurz vor seinem Interview in den Fanblock klettert, sich einen pöbelnden Fan zur Brust nimmt und zu Boden drückt.
Eine Szene, wie es sie im deutschen Fußball zuvor noch nicht gegeben hat. Und dann noch mitten in der Corona-Pandemie. Im ersten Spiel mit Zuschauern. Ohne Mund-und-Nasen-Schutz. Der HSV hat seinen ersten Skandal.
HSV-Profi Toni Leistner von Team separiert
Am nächsten Morgen empfängt Drews den neuen Innenverteidiger, dessen Debüt für den HSV ausgerechnet in dessen Heimatstadt Dresden deutschlandweit für Schlagzeilen sorgt. Leistner wurde direkt danach durch die Hygienebeauftragten vom Team separiert, um eine mögliche Infektionsgefahr zu vermeiden.
Drews und Leistner sprechen lange über den Vorfall. „Wenn man von ihm hört, wie er beleidigt wurde, kann man seine Reaktion nachvollziehen. Trotzdem darf ihm so etwas nicht passieren“, sagt Drews eine Woche später beim ersten Abendblatt-Termin ernst und muss dann schmunzeln: „Das ging ja gut los. Gleich mal Action.“ Nach 52 Minuten muss Drews los. Das erste Training der Woche steht an.
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Die neue Anarchie
Es ist noch früh am Morgen, als Drews mit einer Maske zum nächsten Gespräch erscheint. Wieder in der Loge, die Tür zum Stadion bleibt geöffnet. Es ist Donnerstag, der 5. November, und die Corona-Zahlen in Deutschland sind wieder stark gestiegen.
Am Abend zuvor hat Drews mit seiner Freundin, die Lehrerin ist, überlegt, wie man eine Sportstunde mit Maske gestalten kann. Auch in der Mensa im Campus dürfen sich die Spieler nur noch mit Mund-und-Nasen-Schutz bewegen. In den Hotels werden die Gruppen an den Tischen verkleinert. Auch die Kabinenbelegung muss entzerrt werden. „Wir versuchen, jedes Risiko einer Infektion zu vermeiden“, sagt Drews. Vor allem nach dem guten Saisonstart.
Simon Terodde rettet Remis im Hamburger Stadt-Derby
Sechs Tage zuvor hat der HSV im Volkspark das erste Stadtderby gespielt. Mit seinem vierten Doppelpack im sechsten Spiel rettete Simon Terodde ein 2:2. Mit fünf Siegen und einem Remis stehen die Hamburger souverän an der Tabellenspitze, bereits fünf Punkte vor Bochum und Kiel. „Der Trainer legt sich nicht auf ein System fest. Wir haben immer auch im Blick, was der Gegner anbietet und welche unserer Stärken dazu passen“, sagt Drews.
Vier Tage vor jedem Spiel sitzt das Trainerteam mit den Videoanalysten zusammen. 45 Minuten lang zeigen diese auf, wie der kommende Gegner spielt. Mit dem Ball, gegen den Ball. Dann haben alle Trainer noch zwei Tage Zeit, sich Gedanken zu machen. In der nächsten Sitzung wird dann über die Taktik diskutiert. Jeder soll seine Ideen präsentieren, auch für Standards.
Neue Variabilität des HSV-Coaches
Für die neue Variabilität wird Thioune medial früh gefeiert. Vor allem nach dem Heimspiel gegen Aue. In der Woche vor dem Spiel haben sich die Trainer noch einmal ganz genau angeschaut, wie Aue ein halbes Jahr zuvor beim 3:0 gegen den HSV gespielt hat. Mann gegen Mann über den ganzen Platz. „Alle Mannschaften haben danach geguckt, wie Aue den HSV geschlagen hat. Wir haben also überlegt, wie wir diese Taktik umdrehen können“, sagt Drews.
Die Idee: Mit Sonny Kittel und Aaron Hunt als zentrale Freigeister, die überall auf dem Platz hinlaufen können, will Thioune verhindern, dass Aue immer am Mann bleiben kann. Der Plan geht auf. Der HSV siegt souverän 3:0. „Mit Anarchietaktik an die Spitze“, schreibt das Abendblatt.
Die Aue-Taktik wird zur Blaupause. Genau wie die Ansprachen in der Kabine. Immer im Wechsel hält ein Spieler unmittelbar vor dem Anpfiff die letzte Motivationsrede. Gegen Aue ist Tom Mickel dran.
Der Ersatztorhüter erinnert in seiner Rede an das 0:3 im Februar. An den Spott, den der HSV danach aushalten musste. Mickel baut einen Spannungsbogen auf. „Ich hatte Gänsehaut. Man hat gemerkt, wie die Spieler schon gezuckt haben. Auch ich fühlte mich wie ein wildes Tier und wäre am liebsten direkt mit auf den Rasen gelaufen“, sagt Drews.
Erfolg gibt HSV zunächst Recht
Zum Auftakt gegen Düsseldorf hatte Kapitän Tim Leibold die Ansprache gehalten. David Kinsombi und Klaus Gjasula folgten. Die Atmosphäre in der Mannschaft stimmt. Trotz der Corona-Richtlinien herrscht ein gutes Miteinander. Es wird nicht nur über Fußball gesprochen.
Drei Tage vor der Präsidentenwahl in den USA sitzen Kinsombi, Lukas Hinterseer und Bobby Wood in der Schuhschleuse des Kabinentrakts und sprechen über Donald Trump und Joe Biden. Wood erzählt, wie er als US-Bürger über die Wahl denkt. Auch Drews macht sich Sorgen. Seiner Mutter hat er ein Buch geschenkt über die Nichte von Trump, Mary L.: „Wie meine Familie den gefährlichsten Mann der Welt erschuf“.
Drews freut sich, dass in der Kabine über abseitige Themen diskutiert wird. Die sportliche Führung hatte vor der Saison Wert darauf gelegt, dass mehr Typen in der Mannschaft sind, an denen sich die jungen Spieler orientieren können. Der Erfolg gibt dem HSV bislang recht.
Kiel ärgster Verfolger des HSV
Dann kommt das Spiel in Kiel. Drews, der viele Jahre bei Holstein gearbeitet hat, wird erstmals bei einem Auswärtsspiel dabei sein. Sein Neffe ist Kiel-Fan. Mit Störche-Trainer Ole Werner ist Drews befreundet, seit sie 2016 zusammen in Kiel gearbeitet haben. Jedes Jahr kommt Werner, zu Studentenzeiten als Gärtner tätig, zur Apfelernte im Garten von Drews in Bordesholm vorbei.
Jetzt ist Werner mit Kiel der ärgste Verfolger des HSV. „Der Start von Kiel verwundert mich nicht. Die Mannschaft hat eine herausragende Achse. Wir müssen Lee und Mühling aus dem Spiel nehmen. Sonst wird es eklig“, sagt Drews, der sich nach einer knappen Stunde verabschieden muss. „Ich bin leider unhöflich, aber ich muss zum nächsten Termin.“
Der Wendepunkt
Am Tag nach dem 1:1 in Kiel kommt Peter Dietz, im Volkspark besser bekannt als Helm-Peter, beim Training auf Drews zu und sagt: „Also das mit den Unentschieden darf nicht so weitergehen.“ In der Nachspielzeit hatte Holstein gegen den HSV noch den 1:1-Ausgleich geschossen, nachdem die Hamburger zuvor gute Konterchancen zum vorentscheidenden 2:0 vergeben hatten.
In der Pressekonferenz wird Thioune auf die Traumata der vergangenen Saison angesprochen, als der HSV durch die späten Gegentore den Aufstieg verspielte. Geht das schon wieder los? Trainer Thioune ist irritiert. „Auch ich fand die Berichterstattung schwierig. Die Fragen gingen alle in die gleiche Richtung. Kein Journalist hat angemerkt, dass Kiel auch das nötige Glück gehabt hat“, sagt Drews.
Erste HSV-Krise der Saison
Das Spiel liegt bereits sechs Wochen zurück. Es ist der 13. Dezember, und der Co-Trainer sitzt im HSV-Kapuzenpullover im VIP-Bereich des Volksparkstadions und schaut nach draußen. Hinter ihm und dem HSV liegt die erste Krise der Saison. Fünf Spiele in Folge haben die Hamburger nicht gewonnen. Drei Spiele in Folge zuletzt verloren. Bochum, Heidenheim, Hannover. Mit dem späten 2:1-Sieg bei Darmstadt 98 gelang dem HSV am Tag zuvor der Turnaround.
Drews verfolgt das Spiel am Fernseher. Nach dem zwischenzeitlichen 1:1 tritt er gegen den Wohnzimmertisch, sodass sich seine Freundin im Nebenzimmer erschrickt. Kurz vor Schluss ist es wieder Terodde, der den HSV erlöst. „Die Erleichterung in der Kabine ist riesig“, sagt Drews, der am Sonntag nach dem Spiel mit den Stammspielern im Kraftraum arbeitet und ausradelt.
HSV – Frust im Volkspark
Wie schnell der Frust im Umfeld des HSV wieder aufkommt, haben die HSV-Trainer in den vergangenen Wochen erfahren. Erst nach dem Kiel-Spiel, aber vor allem auch eine Woche später nach dem 1:3 gegen den VfL Bochum. Thiounes Taktik geht an diesem Tag nicht auf. Und er erfährt, wie schnell sich die Stimmung im Volkspark verändert.
„Ich will den Fußball nicht neu erfinden“, sagt er, als er sich nach dem Spiel den vielen kritischen Fragen stellen muss. Thioune hatte Bakery Jatta auf die rechte Seite in der defensiven Fünferkette aufgestellt. Dafür ließ er den zuvor tadellosen Stephan Ambrosius draußen, um Leistner ins Team zurückzubringen.
Stellt HSV-Coach Thioune zu viel um?
Was gegen Aue mit Jatta auf der linken Seite so gut klappte, geht gegen Bochum schief. Thioune muss sich nach der ersten Niederlage im achten Saisonspiel verteidigen. Genau wie zwei Wochen später, als er den formstarken Manuel Wintzheimer gegen Hannover 96 aus der Startelf nimmt, um dem zuvor glücklosen Sonny Kittel eine neue Chance zu geben. Nach 25 Minuten fliegt Kittel nach seinem zweiten Frustfoul vom Platz. Der HSV dominiert Hannover danach in Unterzahl, verliert aber 0:1.
Übertreibt es Thioune mit den Umstellungen? Richtet er sich zu stark nach dem Gegner aus? Die Diskussionen nehmen zu. „Unsere Aufstellung ist immer einer Idee geschuldet“, erklärt Drews. „Wir haben einen großen Kader mit 20 richtig guten Spielern. Jeder Einzelne hat den Anspruch zu spielen. Dem gerecht zu werden ist eine Herausforderung.“
Öffentlicher Druck auf HSV nimmt zu
Doch aus der zweiten Reihe kommt zu wenig Druck. Nach einem Testspiel gegen den dänischen Zweitligisten Viborg FF (1:3) kritisiert Trainer Thioune Spieler wie Lukas Hinterseer, Gideon Jung oder David Kinsombi, die bis dahin nur wenig Einsatzzeiten erhalten hatten. „Wenn ich nichts bekomme, kann ich auch nichts honorieren“, sagt Thioune.
Der öffentliche Druck nimmt zu. Mentaltrainer Martin Daxl ist zweimal die Woche im Volkspark, beobachtet Trainingseinheiten, versucht Strömungen und Stimmungen wahrzunehmen, steht für die Spieler als Ansprechpartner zur Verfügung. „Er hat einen Blick von oben und von der Seite. Er nimmt Schwingungen schneller wahr“, sagt Drews.
Co-Trainer Drews fordert mehr Dominanz
Auch er spürt, dass die Erwartungshaltung die Mannschaft belastet. Der Ergebnisdruck ist gestiegen. Die Idee, auf Entwicklung zu setzen, ist in dieser Phase zweitrangig. Drews fordert fürs eigene Spiel aber auch wieder mehr Dominanz. „Wir müssen wieder besser im Ballbesitz werden. Wir haben den besten Stürmer der Liga, den müssen wir füttern.“
Zwei Spiele stehen vor Weihnachten noch an. Gegen Sandhausen und zum Abschluss des Jahres in Karlsruhe. Drews’ Schlusswort zum Wochenende: „Fünf Spiele ohne Sieg sollten wir uns nicht noch einmal erlauben.“
Verletzung – Der Leistner-Schock
Am Sonntag, dem 14. Februar, sitzt das Trainerteam am Morgen mit den Analysten im Büro zusammen. Eineinhalb Stunden lang sezieren sie das Spiel vom Tag zuvor gegen Greuther Fürth. Sören Meier und Alexander Hahn hatten die Szenen wie immer mit dem Programm Sportscode geschnitten. Trotz einer Halbzeit in Überzahl und zahlreicher Chancen reichte es nur zu einem 0:0.
Seit elf Spielen ist der HSV ungeschlagen. Trotzdem gab es nach dem 3:3 in Aue den zweiten Rückschlag in Folge. Die Trainer suchen nach Gründen, nach Lösungen. 15 Minuten dauert die anschließende Mannschaftssitzung im VIP-Bereich. Normalerweise sitzen die Spieler mit den Trainern im Videoraum zusammen. Doch die Corona-Krise erfordert viele Umstellungen. So sitzt das Team im großen Abstand dort, wo sonst die Hospitality-Kunden sitzen.
HSV-Taktik „eine mutige Idee“
Und Hannes Drews sitzt noch am selben Tag nach dem Spielersatztraining mit dem Abendblatt zusammen. Er trägt Badelatschen mit den Initialen HD. Und erklärt, was die Mannschaft in der Woche trainiert hatte.
Um die kompakte Mittelfeldraute der Fürther, anders als im Hinspiel, zu bespielen, sucht der HSV Wege über die Außen. Gideon Jung soll als zentraler Spieler in der Dreierkette mit dem Ball ins Zentrum dribbeln, um die Fürther in die Mitte zu ziehen und Räume auf den Flügeln zu erzeugen. „Es war eine sehr mutige Idee“, sagt Drews.
Ähnlich hat es der HSV auch eine Woche zuvor in Aue gemacht, als die Hamburger ihre vielleicht beste Halbzeit der Saison spielen. Mit 3:1 führt Thiounes Team und spielt Kombinationsfußball aus dem Lehrbuch. Beim Gang in die Halbzeit sagt ein Auer Spieler: „Hört bitte auf jetzt. Das ist doch unfair.“
Das Problem: Der HSV hört in der zweiten Halbzeit tatsächlich auf, Fußball zu spielen. Aue gleicht noch zum 3:3 aus. Und kann sogar noch 4:3 gewinnen.
Auf der Tribüne sitzt Toni Leistner und ärgert sich. Der Abwehrchef ist trotz seiner schweren Muskel- und Sehnenverletzung mit nach Sachsen gereist. Nach seinem unglücklichen Saisonstart wurde er zum erhofften Stabilisator der Defensive.
Abwehrchef Toni Leistner fehlt zehn Spiele
Doch im Heimspiel gegen Paderborn Ende Januar reißt schon nach wenigen Minuten nach einem langen Sprint ein Muskelbündel. Zehn Spiele wird Leistner fehlen. Nur zwei davon wird der HSV gewinnen. Der Einbruch in der Rückrunde – er wird auch mit dem Fehlen des Verteidigers zu tun haben.
Aber eben auch mit diesem 3:3 gegen Aue. „Von außen sah es vielleicht so aus, als ob der eine oder andere Spieler Kopfprobleme bekommen hat. Jeder Schritt wurde gefühlt langsamer“, sagt Drews.
Daniel Thioune sicher: Aufstieg kann klappen
Trotz der neuen Rückschläge sind sich die Trainer sicher, dass es mit dem Aufstieg klappen kann. Und mittlerweile spricht auch Thioune davon, einen der ersten zwei Plätze bis zum Ende behaupten zu wollen. Auch die Mannschaft ist sich dessen bewusst.
„Wir sprechen in der Kabine nicht groß drüber, aber jeder hat den Ehrgeiz und Anspruch und weiß, dass wir aufsteigen wollen“, sagt Drews vor dem Auswärtsspiel beim Tabellenletzten Würzburger Kickers.
Die Bobby-Wood-Wochen
Zwei Monate später ist der HSV noch immer zuversichtlich, trotz des unerklärlichen 3:3 bei Hannover 96. Hinter den Hamburgern liegt eine erneute Phase von fünf sieglosen Spielen in Folge. Auf Aue und Fürth folgten ein peinliches 2:3 in Würzburg, ein unglückliches 0:1 beim FC St. Pauli und ein optimistisch machendes 1:1 gegen Holstein Kiel.
Vor allem der späte Derby-K.-o. am Millerntor ist ein Moment, in dem das Trainerteam schwerste Wiederaufbauarbeit leisten muss. In der Kabine ist es so leise wie nie zuvor in dieser Saison. Am nächsten Tag beim Training das gleiche Bild.
Sieg gegen Bochum macht HSV Hoffnung
Erst nach einem freien Tag findet der HSV neue Energie. In der Mannschaft entsteht in den Tagen vor dem Kiel-Spiel ein Jetzt-erst-recht-Schwur. Der aber erst eine Woche später wirkt.
Der 2:0-Sieg beim Tabellenführer VfL Bochum gibt dem HSV die Hoffnung zurück. Weil die Hamburger als Einheit funktionieren. Nach dem Konter zum 2:0 durch Khaled Narey stürmt die gesamte Ersatzbank zur Eckfahne.
Im Mannschaftschat der SAP-App Team One schicken die Spieler so viele Siegerfaust-Emojies wie lange nicht. Drews sitzt wieder zu Hause am Fernseher und fühlt sich bestätigt. „Dieses Jubelbild hat mir gezeigt, was wir für eine geile Truppe haben“, sagt er drei Wochen später beim nächsten Termin mit dem Abendblatt.
Corona erwischt auch den HSV
Drews sitzt im Kabinentrakt in einem kleinen Konferenzraum, in dem normalerweise die Videoanalysen oder Einzelgespräche stattfinden. Zum ersten Mal ist der Assistent nur per Zoom zugeschaltet. Die dritte Corona-Welle hat in Deutschland auch die Zweite Liga erwischt. Und jetzt auch den HSV.
Am Sonntagabend nach dem Bochum-Spiel schreiben die Teammanager Lennart Coerdt und Mats Wesling in die Infogruppe, dass alle Spieler am Morgen vor dem Training zu einem Drive-in-Test in den Volkspark kommen sollen.
Torjäger Terodde an Corona erkrankt
Nacheinander werden Profis und Trainer mit dem PCR-Schnelltest der sanaGroup überprüft. Weil die Ergebnisse erst nach einer Stunde ermittelt werden, sollen alle Spieler zunächst nach Hause fahren.
Für Drews lohnt es sich nicht, nach Bordesholm zu fahren. Er fährt ein wenig durch die Stadt, wartet dann auf dem Parkplatz im Auto. Am Nachmittag erfahren alle die Nachricht. Ein Spieler ist positiv getestet.
Um wen es sich handelt, bleibt zunächst im kleinen Kreis. Erst am Abend wird die Mannschaft informiert, dass es Simon Terodde ist, der erkrankt ist und zwei Wochen in Quarantäne muss. Ausgerechnet der Torjäger.
Bobby Wood: „HSV ins Herz geschlossen“
Thioune tauscht sich mit seinen Führungsspielern aus, ob er Bobby Wood für Terodde bringen sollte. Die Spieler, unter anderem Terodde selbst, stimmen zu. Wood wirft sich gegen Heidenheim in jeden Zweikampf. Vor dem Tor bleibt er zwar unglücklich, aber er trägt dazu bei, dass der HSV die Heidenheimer mit 2:0 in die Knie zwingt.
„Für mich war das die beste Mannschaftsleistung“, sagt Drews. Wood lobt am nächsten Tag den Teamgeist. Der verschlossene Stürmer scheint sich gewandelt zu haben. Vor dem Spiel bei seinem Ex-Club Hannover sagt er im Abendblatt-Interview: „Ich habe den HSV in mein Herz geschlossen.“ Wood wolle sich mit dem Aufstieg bei den Fans verabschieden.
Das erneute Scheitern
Zwei Monate nach Woods Interview ist klar: Es hat wieder nicht gereicht. Wood selbst hat sich bereits Wochen zuvor vom HSV verabschiedet. Oder besser gesagt: Er wurde verabschiedet.
Fünf Tage nach dem 3:3 in Hannover, bei dem Wood einen ganz unglücklichen Tag erwischt und die zwischenzeitliche Großchance zur 4:1-Führung vergibt, sitzt er beim Heimspiel gegen Darmstadt wieder draußen und bleibt dort bis zum Abpfiff, während Thioune U-21-Stürmer Robin Meißner einwechselt.
Streit zwischen Wood und Thioune
Eine Majestätsbeleidigung für Wood. Der Stürmer stänkert nach der 1:2-Niederlage in der Kabine. Thioune bekommt das mit, stellt Wood zur Rede. Es kommt zum Wortgefecht.
Co-Trainer Drews bekommt die Szene nur am Rande mit, weil er schon unter der Dusche steht. Was im Detail gesagt wurde, kann und will Drews also nicht wiedergeben. Er sagt nur: „Ich war von Bobbys Reaktion überrascht und hätte das nicht erwartet, bei allem Verständnis für seine Enttäuschung.“
Enttäuschung beim HSV-Co-Trainer
Es ist der 24. Mai, und Drews sitzt im Wohnzimmer vor dem Laptop. Es ist das letzte Gespräch der Saison nach dem letzten Spiel der Saison. Die Enttäuschung über den Ausgang ist Drews auch durch die Zoom-Leitung abzulesen.
Über das, was in den zwei Monaten zuvor passiert ist, könnte man ein ganzes Buch füllen. Der Co-Trainer hat nicht lange geschlafen. Ein HSV-Cappy verdeckt seine zerzausten Haare.
HSV spielt viertes Jahr in Liga Zwei
Dass sein Club zum dritten Mal in Folge den Aufstieg verpasst hat, sollte nicht nur, aber auch mit dem Vorfall um Wood zwei Monate zuvor zu tun haben. Es war der Moment, in dem Thioune einen Teil der Mannschaft verlor.
Den endgültigen Rückhalt der sportlichen Leitung verlor der Cheftrainer aber erst drei Wochen später nach dem enttäuschenden 1:1 gegen Karlsruhe.
Thioune-Rausschmiss ein Schock für Drews
Es ist Sonntagabend, als Drews gerade auf der Autobahn unterwegs ist, nachdem er die Eltern seiner Freundin besucht hat. Als Sportdirektor Michael Mutzel auf seinem Handy anruft, rechnet er mit allem Möglichen, aber nicht mit der Nachricht, die folgen sollte.
Man habe Daniel Thioune freigestellt, wolle aber, dass er zusammen mit Merlin Polzin auch dem neuen Trainer Horst Hrubesch bis zum Saisonende assistiert. Drews’ Magen krampft sich zusammen. Er ist geschockt.
Und denkt natürlich zunächst, dass auch er gefeuert wird. Nach etwas Bedenkzeit und einen Telefonat mit Thioune entschließt sich Drews, die Arbeit auch mit Hrubesch fortzusetzen.
HSV-Legende Horst Hrubesch kommt
Es ist merkwürdig still am nächsten Vormittag, als Hrubesch erstmals zur Mannschaft spricht. „Es war durch die Masken schwer, in den Gesichtern der Spieler eine Reaktion zu erkennen“, wird Hrubesch nach dem letzten Spiel gegen Braunschweig sagen. In seinem ersten Training am Nachmittag nimmt sich der 70-Jährige fast jeden Spieler zur Seite, drückt ihn, herzt ihn.
Aber auch er braucht ein paar Tage, um einen Effekt zu erzielen. Dann aber wirkt er. In seinem ersten Heimspiel gegen den 1. FC Nürnberg wirken seine Jungs nach dem 1:0 durch Meißner wie befreit.
Plötzlich glauben alle wieder an die Restchance auf die Relegation, als der HSV in die zweiwöchige, von der DFL vorgeschriebene Hotelquarantäne startet.
HSV-Niederlage gegen Osnabrück
Die Tage im Teamhotel Grand Elysée sind lang. Das Trainerteam trifft sich am Donnerstagabend und schaut zusammen das DFB-Pokalfinale Dortmund gegen Leipzig. Es wird gekickert und gedartet. Am Sonnabend geht es schließlich nach Osnabrück. Und was dort passiert, macht selbst Hrubesch sprachlos.
Der HSV kassiert eine deprimierende 2:3-Niederlage. Die Aufstiegschance ist dahin. „So eine Leistung ist für mich nicht zu erklären“, sagt auch Hannes Drews. Selbige Worte hatte er zuvor bereits über das 2:3 in Würzburg und das 1:2 in Sandhausen gesagt.
HSV-Profi Jeremy Dudziak wird suspendiert
Am Morgen danach kommt Jeremy Dudziak zu spät zur Teambesprechung. Nicht zum ersten Mal. Hrubesch zögert nicht lange und suspendiert den Mittelfeldspieler. Sechs Tage lang wohnt der HSV im Luxushotel Treudelberg. Doch keiner hat mehr Lust auf diese quälend lange Woche.
Hrubesch versucht mit einer Golfeinheit, die Stimmung im Team ein wenig aufzubessern. Für eine halbe Stunde geht es am Mittwoch auf die Driving Range. Es wird wieder ein wenig gelacht.
Aber die schlechte Stimmung ist nicht mehr zu drehen. Daran ändert auch der 4:0-Sieg zum Abschluss gegen Braunschweig nichts. Der HSV steht wieder auf dem vierten Platz. Und sucht einmal mehr nach den Gründen.
Unklar, wie es für Drews beim HSV weitergeht
„Für mich gibt es nicht diesen einen Grund“, sagte Drews. „Auch wir im Trainerteam hinterfragen uns, was wir hätten anders machen müssen.“ Drews denkt an die Spiele in Aue. In Hannover. In den kommenden Wochen will er sich noch einmal mit Daniel Thioune und Merlin Polzin treffen.
Wie es mit ihm selbst beim HSV weitergeht, ist nach dem letzten Spiel noch offen. Um 19.15 Uhr verlässt Drews das Stadion. „Ich habe mich einfach gefreut, meine Freundin endlich wiederzusehen“, sagt er.
HSV-Saison: Chronologie des Scheiterns
Am 16. Juni geht es im Volkspark mit einem neuen Trainer weiter. Mit Tim Walter. Und Drews? Der weiß nach zehn Monaten mit den Profis und sechs Treffen mit dem Abendblatt nur: Diese Saison zu verarbeiten wird noch dauern.