Hamburg. Henrik Köncke spricht über Veränderungen beim HSV, mögliche Verantwortung im Aufsichtsrat und schwindende Fußballbegeisterung.
Wahrscheinlich hat es in der Abendblatt-Geschichte noch nie ein Interview gegeben, das einen so langen Vorlauf hatte. Mehr als zwei Jahre nach der ersten Anfrage und nach zahlreichen weiteren Versuchen sitzt Henrik Köncke (30) tatsächlich im Konferenzraum der Abendblatt-Redaktion am Großen Burstah und ist bereit zu reden. Was nach einer Selbstverständlichkeit klingt, ist nicht selbstverständlich. Denn Ultras, die Treuesten der treuen Fußballfans, reden normalerweise nicht mit Medien.
Köncke hat eine lange HSV-Fanbiografie hinter sich. Der Schifffahrtskaufmann ist Mitglied der aktiven Fanszene, war Vorsänger der Nordtribüne und überzeugter Ultra der 2019 aufgelösten HSV-Gruppierung Poptown. Er hat über den Abstieg getrauert, unzählige Trainerwechsel verfolgt und sich über Millionenflops geärgert. HSV-Anhänger ist der Fußballfan aber immer geblieben. Nur seine Fußballleidenschaft ist nicht mehr die gleiche. Ein Gespräch über das wichtigste Unwichtige des Lebens.
Hamburger Abendblatt: Herr Köncke, wie sehr leiden Sie gerade mit Ihrem HSV?
Henrik Köncke: Als HSV-Fan ist man grundsätzlich leidensfähig. Wirklich entsetzt bin ich in diesen Wochen von ganz anderen Dingen im Fußball.
Sie meinen wohl die Fußballrevolution Super League, die vor zweieinhalb Wochen über Nacht verkündet und nach nur zwei Tagen wieder beendet wurde. Kann man da nicht von „Ende gut, alles gut?“ sprechen?
Köncke: Auf keinen Fall. Für den Moment ist es sicherlich gut, dass die Super League so schnell wieder gestoppt wurde. Aber fast am gleichen Tag wurde still und heimlich die neue Champions-League-Reform durchgewinkt, was in meinen Augen fast genauso schlimm ist. Es gibt so viele Missstände im Fußball, sodass das Aussetzen der Super League, sofern es denn überhaupt dabei bleibt, für mich nur ein Etappensieg war.
Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von den Plänen der Super League erfuhren?
Köncke: Warum ist der HSV nicht dabei(lacht Ganz im Ernst: Ich habe fast so etwas wie Resignation gefühlt. Ich lag am Morgen im Bett und sah, wie eine Nachricht nach der nächsten auf meinem Handy aufploppte. Es war eine Riesengeschichte, die aber irgendwie gar nichts mehr in mir ausgelöst hat. Sie passte einfach zu den Entwicklungen der letzten Jahre. Trotzdem habe ich dann alles gelesen.
Und dann?
Köncke: Dann wurde ich auch ein wenig wütend. Diese Super League mit der Corona-Pandemie zu begründen, wie es Real Madrids Florentino Perez gemacht hat, fand ich nur frech und dreist. Aber genauso heuchlerisch empfand ich die nächsten Tage, als sich die Entscheidungsträger bei der Fifa, Uefa und in vielen anderen großen Clubs als Heilsbringer der Fans suggerierten. Auf beiden Seiten würde ich gerne im Nachhinein wissen, wer diese Leute beraten hat.
Die Gründung dieser „Super-Liga“ hat tatsächlich weltweit zu Protesten geführt. Haben die Fans die Initiatoren am Ende in die Knie gezwungen?
Köncke: Wer oder was nun ausschlaggebend für den schnellen Rückzug der Super League war, lässt sich empirisch nicht nachweisen. Natürlich war es wichtig, dass die Anhänger der betroffenen Clubs so schnell, so laut und so deutlich gegen die Gründung dieser Liga protestiert haben. Aber Fanproteste hat es auch in der Vergangenheit schon sehr häufig gegeben – und diese haben leider viel zu wenig Gehör gefunden.
Manch einer sagt, dass die Fanproteste nur Folklore waren, die Gründer der Super League vor allem aufgrund des politischen Drucks eingeknickt seien.
Köncke: Wie gesagt: Man weiß es nicht. So oder so haben diese Tage aus meiner Sicht sehr deutlich gemacht, dass es wichtig ist, für seine Meinung und seine Werte einzustehen. Und ganz ohne Fanproteste hätten sich sicher auch nicht die großen Politiker zu Wort gemeldet. Ein ganz anderes Beispiel: Seit Jahren bekämpften die Fans die Montagsspiele – und wurden nun endlich gehört. Auch ohne Boris Johnson und einen vergleichbaren Aufschrei der ganzen Gesellschaft. Mit viel Engagement kann man viel bewegen!
Muss die Konsequenz lauten: Die Fans und Fußballbegeisterte sollte noch lauter sein?
Köncke: Absolut. Die Verhinderung der Super League darf nur der Anfang sein. Es gibt viel mehr Themen, die wir angehen müssen. Die Champions-League-Reform, eine unverschämte WM in Katar und ganz grundsätzlich ein Fußball, der trotz Corona immer nur ein höher, schneller, weiter kennt. Dieser Fußball entfremdet sich jeden Tag immer mehr von der Basis – und dagegen müssen wir uns wehren.
Der Aufschrei war groß, aber ist es am Ende nicht auch der Konsument, der entscheidet? Gucken Sie keine Champions League? Keine WM?
Köncke: Ich liebe den Fußballsport und schaue natürlich gerne Spiele auf höchstem Niveau. Aber Spiele in der Champions League wie in der vergangenen Woche zwischen Chelsea und Real Madrid haben einfach mein Interesse verloren, gerade aufgrund der aktuellen Situation und den Entwicklungen in den vergangenen Jahren und Monaten. Und auch WM-Spiele schaue ich nur, wenn ich durch Zufall irgendwo zum Grillen eingeladen bin, wo der Fernseher läuft …
Das WM-Finale 2014 …
Köncke: … habe ich geguckt, weil ich bei Freunden war. Aber bei der WM in Russland habe ich tatsächlich nur vereinzelt Spiele gesehen. Von Deutschland nur eins, aber so viele waren es ja auch nicht
Zurück zur Super League: Der HSV hat bis auf eine Bemerkung des Uefa-Präsidenten Alexander Ceferin, dass Hamburg vor 30 Jahren in so einer Liga gespielt hätte, wenig bis gar nichts mit der Gründung zu tun. Warum haben Sie die Vorgänge der vergangenen zwei Wochen trotzdem so sehr beschäftigt?
Köncke: Die Super League war eine ganz neue Dimension – ganz unabhängig davon, wie weit der HSV nun vom internationalen Geschäft entfernt ist. Es sollte ein Produkt geschaffen werden, das einfach diametral den Interessen der Fans entgegensteht. Der Fußball gehört aber nicht den Investoren, sondern den Fans, den Menschen, uns allen.
Ausgerechnet in der Super-League-Woche haben Sie und weitere HSV-Mitstreiter die kritische Initiative „Unser HSV“ gegründet. Ist der Zeitpunkt Zufall?
Köncke: Die Vorbereitungen zur Faninitiative haben schon lange vorher begonnen, bevor man diese Gründung der Super League als Fan überhaupt erahnen konnte. Deswegen war der Zeitpunkt einerseits Zufall. Andererseits passte er doppelt und dreifach zum Zeitgeist.
Worum geht es der Initiative?
Köncke: Es geht vor allem darum, den allgemeinen Wunsch nach Veränderung im Geschäft Fußball auf den HSV zu projizieren. Es gibt ja auch schon konkrete Konzepte der Faninitiative „Zukunft Profifußball“, die zum Beispiel in die 17 Handlungsempfehlungen der DFL Taskforce eingeflossen sind. Aber natürlich besteht die Gefahr, dass diese Empfehlungen irgendwann nach der Corona-Krise in den Schubladen der Vereinsoffiziellen verschwinden. Das wollen wir beim HSV auf keinen Fall zulassen.
Auf Ihrer neuen Homepage steht, dass „Unser HSV“ ein bunter Zusammenschluss mit Allesfahrern, Fanclubs, Ultras und Kuttenträgern sei. Können Sie das ein wenig konkretisieren?
Köncke: Die Initiative ist keiner einzelnen Gruppierung zuzuordnen. Wir sind eine wachsende Bewegung, die sich aus Fanclubs und auch einzelnen Anhängern zusammensetzt. Wir sind ein bunter Haufen – und jede und jeder sind willkommen, um sich aktiv einzubringen und mit zu gestalten.
Geht es der Initiative „nur“ um den HSV oder eher um das große Ganze, das Ihrer Meinung nach reformbedürftig ist?
Köncke: Natürlich geht es uns zunächst einmal um unseren HSV. Hier wollen wir etwas nachhaltig bewirken. Aber idealerweise beobachten auch Anhänger anderer Clubs unser Treiben und ziehen wie bei einem Schneeballeffekt nach. Am Ende geht es dann natürlich um das große Ganze.
Kommen wir aber vom großen Ganzen zum HSV: Was muss sich Ihrer Meinung nach beim HSV außerhalb des Platzes ändern?
Köncke: Es geht darum, dass die HSV Fans ein Gehör finden und an der Entwicklung des HSV partizipieren. Der HSV muss die Chancen erkennen, die beispielsweise in Diversität, Transparenz, gesellschaftlicher Verantwortung, Nachhaltigkeit und Zusammenhalt liegen. Auch der Umgang mit Investorenmodellen, der Rechtsform und vieles mehr ist wichtig. Der Nordtribünen e. V. hat ja gerade erst im Herbst vier sehr konkrete Briefe veröffentlicht, die derartige Themen aufgreifen. In erster Linie ist es wichtig, dass uns Fans zugehört wird, die Interessen wahrgenommen werden und ein Austausch stattfindet. Wir wollen eine gegenseitige Wertschätzung und einen Verein, der eine klare Haltung und eine Identität ausstrahlt.
Fühlen Sie diese erhoffte Wertschätzung von der aktuellen HSV-Führung?
Köncke (lange Pause): Der HSV ist im Dialog mit seinen Fans. Das ist schon viel mehr, als das bei anderen Clubs der Fall ist. Mir persönlich fällt es aber nicht ganz leicht, einzuschätzen, wie ausgeprägt diese Wertschätzung tatsächlich ist. Ein Austausch ist aber da.
Gab es nach den vier Briefen des Nordtribünen e. V. im Herbst einen Austausch mit den handelnden Personen?
Köncke: Eine ganzheitliche Betrachtung zu all den Themen gab es von der Clubführung bislang noch nicht. Insgesamt haben wir aus vielen Gremien und der Anhängerschaft des HSV sehr viel Feedback und Zustimmung bekommen.
Auch das Team Freese, das dem Ultra-Lager nahestehen soll und gerade erst bei den Supporterswahlen die Mehrheit bekommen hat, hat viel Zustimmung erhalten. Haben Sie sich über das Wahlergebnis gefreut?
Köncke: Grundsätzlich habe ich mich erst einmal über das große Interesse und die hohe Wahlbeteiligung gefreut. Das war in den vergangenen Jahren anders. Ich habe auch eine hohe Wertschätzung vor dem, was die alte Abteilungsleitung in den vergangenen Jahren gemacht hat. Die neue Abteilungsleitung hat jetzt die Chance, positive, zukunftsweisende Impulse zu setzen. Sie sind mit klaren Positionen angetreten, und ich freue mich darauf, wenn wir gemeinschaftlich diese umsetzen und den HSV nach vorn bringen.
Muss die Clubführung diese neuen Impulse fürchten?
Köncke: Man muss sich vor nichts fürchten, man muss nur die Meinung der Fans verstehen. Ich würde es positiv ausdrücken: Hier kann etwas Großes entstehen.
Sie wurden vor der Eskalierung des Präsidiumsstreits sowohl von Moritz Schaefer als auch von Marcell Jansen ins Spiel als möglicher neuer Aufsichtsrat gebracht. Streben Sie weiterhin ein Mandat im Aufsichtsrat als Vertreter der aktiven Fanszene an?
Köncke: Nach meinem Verständnis bleiben alle Gespräche, die geführt wurden, vertraulich. Aber wenn ich nach vorne gucke, dann kann ich schon sagen, dass ich es sehr begrüßen würde, wenn die Interessen und auch die Kompetenzen der Fans im Aufsichtsrat berücksichtigt werden. Zudem ist es ohnehin eine der 17 Handlungsempfehlungen der DFL-Taskforce, dass die Faninteressen in den Aufsichtsräten der Clubs stärker berücksichtigt würden. Ob ich oder eine andere Person die Interessen Fans vertritt, ist dabei völlig nebensächlich. Es geht um die Inhalte und die Haltung.
Sie stünden also weiter bereit?
Köncke: Wenn ich gefragt werden würde, dann würde ich mich mit den Personen, die mich fragen, dazu austauschen. Es bedarf auf alle Fälle der richtigen Konstellation und der Wirksamkeit in dem Gremium. Zunächst einmal muss ja aber ein neues Präsidium gewählt werden. Und da hoffe ich sehr, dass wir diese Mitgliederversammlung mit einer Präsenzveranstaltung in diesem Sommer hinbekommen. Auch der HSV ist reformbedürftig. Weder im Fußball allgemein noch beim HSV ist alles gut.
Sie sprechen viel von notwendigen Reformen. Muss sich vielleicht auch das Ultra-Lager reformieren?
Köncke: Ich finde es schwierig, den Ansatz bei den Fans zu suchen, die aber in den vergangenen 14 Monaten gar nicht ins Stadion gehen durften. Die Pandemie hat die Schwächen des Profifußballs gnadenlos offengelegt – nicht aber die Schwäche der Fans.
Ultras haben nicht immer ein gutes Image. Gerade zu Beginn der Corona-Krise haben allerdings viele Mitglieder der aktiven Fanszene viele Initiativen ins Leben gerufen und große Hilfsbereitschaft gezeigt. Kann man sich das bewahren?
Köncke: Die aktive Fanszene hat sehr eindrucksvoll unter Beweis gestellt, was man mit Solidarität auch in diesen Zeiten bewirken kann. Es gab unzählige Aktionen und Hilfsangebote. Fans sind ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachgekommen. Von allen Fußballfunktionären kann man das nicht behaupten.
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Herr Köncke, am Tag nach der Gründung der Super League hat das Abendblatt einen Essay veröffentlicht mit der Überschrift „Das Ende des Fußballs“. Die These lautete: „Der Fußball ist nicht mehr zu retten.“ Sind Sie Optimist und widersprechen?
Köncke: Der Fußball und seine Fankultur stehen am Scheideweg. Auf nationaler Ebene ist es kurz vor zwölf Uhr, auf internationaler Ebene ist schon lange nach zwölf Uhr. Dass die Fußballfans sich den Fußball doch noch zurückholen, ist vielleicht utopisch, aber heutzutage ist nichts realistischer als die Utopie.