Hamburg. Die weltweite Empörung über die Gründung der Super League ist riesig, sie ist aber auch scheinheilig. Ein Essay.

Mein Sohn liebt Fußball. Nicht unbedingt das Selberspielen. Das findet er noch ein wenig zu langweilig. Aber das Drumherum. Die Trikots, die Aufregung, das Geschrei und natürlich die Tore. Bakery Jatta findet er toll, weil der so lustig lacht. Er mag die HSV-Raute, aber auch den St.-Pauli-Totenkopf. Er ist vom Volksparkstadion beeindruckt und findet am besten, dass der Torhüter den Ball in die Hand nehmen darf.

Mein Sohn ist fast fünf Jahre alt – und seit vergangenem Sonntag mache ich mir Sorgen, dass er den wirklichen Kern des Fußballs, so wie ich ihn in seinem Alter lieben gelernt habe, vielleicht nie mehr kennenlernen wird.

„Es ist ein Verbrechen an dem Fußball“, hat am Montag Rudi Völler gesagt. Den fand ich als fast Fünfjähriger toll. Der schoss viele Tore, hatte einen lustigen Spitznamen (Tante Käthe) und lustige Haare. Und wie Jatta lachte er auch immer so nett. Doch Tante Käthe hatte am Tag, nachdem die Fußball-Bombe mit dem Namen Super League explodiert war, gar nichts mehr zu lachen.

Der Fußball war schon vor der Super League krank

Diese vermeintliche Super-Liga wurde in der Nacht vom vergangenen Sonntag auf Montag von einer Gruppe von zwölf europäischen Topclubs ausgerufen. Statt in der Champions League wollen diese zukünftig in der Super League spielen, dabei aber bitte schön ganz nebenbei in ihren nationalen Ligen bleiben. „Das dreckige Dutzend“, wie die Gründungsmitglieder aus England (Liverpool, Manchester United, Manchester City, Chelsea, Tottenham, Arsenal), Spanien (Real und Atlético Madrid, FC Barcelona) und Italien (AC und Inter Mailand, Juventus Turin) seitdem von vielen Medien genannt werden.

Der englische „Telegraph“ schrieb von einer „Zombie-Apokalypse des Fußballs“, die französische „Dernières Nouvelles d’Alsace“ vom „Ergebnis eines verdorbenen Systems“, die österreichische „Kronen-Zeitung“ fragte: „Naht tatsächlich das Ende der Weltsportart Nummer eins?“

Die Antwort ist schwierig und einfach zugleich. Einerseits ist völlig offen, ob die weltweite Empörung die Milliardäre aus Madrid, Turin, den USA, Russland und Abu Dhabi nicht doch zu einem Umdenken bewegt. Andererseits muss man sich mit etwas Abstand wahrscheinlich eingestehen, dass das Ende der Weltsportart Nummer eins schon lange Zeit vorher besiegelt war.

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BVB und Bayern wollen keine Super League

Dass der organisierte Fußball ein verlogenes Milliardengeschäft ist, dürfte nicht erst seit dem vergangenen Wochenende klar gewesen sein. Schon längst hatten die Protagonisten dieses wunderbaren Spiels die eigentliche Seele des Fußballs verkauft. 5,7 Millionen Euro unterschlagene Steuern von Ronaldo? 222 Millionen Euro Ablöse für Neymar? 555 Millionen Euro Gehalt für Messi? Nun sind es aberwitzige 3,5 Milliarden Euro, die die Gründungsmitglieder erhalten sollen, die in den kommenden 30 Tagen noch drei weitere Mitstreiter finden wollen.

Am liebsten, das wird aus vertraulichen Dokumenten ersichtlich, die der „Spiegel“ veröffentlichte, sollen Bayern München, Borussia Dortmund und Paris Saint-Germain den „closed club“ komplettieren. Zu diesen 15 festen Mitgliedern sollen sich in jedem Jahr fünf wechselnde Topteams gesellen. So ist zumindest die theoretische Idee.

"Fußball ist für die Fans": Spieler von Brighton and Hove Albion protestieren auf ihre Art beim Auswärtsspiel bei Chelsea. © imago / PA Images | Unbekannt

In der Praxis haben sich die Verantwortlichen von Dortmund und Bayern allerdings zunächst einmal auf die Seite der Empörten gestellt, dem Europaverband Uefa den Rücken gestärkt und mit Pauken und Trompeten am Montag eine Champions-League-Reform durchgepeitscht, die fast genauso verachtenswert ist wie die Pläne des dreckigen Dutzends – im allgemeinen Super-League-Tohuwabohu aber fast unterging.

Uefa droht Nationalspielern mit WM-Verbot

Mehr Spiele, mehr Geld, weniger Wettbewerb. So könnte man die Pläne zusammenfassen, die von der Saison 2024/25 an umgesetzt werden sollen. Statt 32 sollen zukünftig 36 Mannschaften teilnehmen, die dann rund 100 Spiele mehr pro Champions-League-Saison spielen sollen. Zudem sollen Wildcards für Topclubs verteilt werden, sodass der Wettbewerb, der ohnehin seit Jahren nur noch auf dem Papier existiert, wohl endgültig abgeschafft ist.

Diese neue Champions League ist ein Baby von Uefa-Chef Aleksander Ceferin, der nach Sonntagnacht wohl am lautesten über die zwölf Abtrünnigen schimpfte. Der Slowene keifte von „Gier, Eigennutz und Narzissmus“ und drohte den Rebellen, dass sie umgehend aus der noch laufenden Champions-League-Saison ausgeschlossen werden.

Mehr noch: Nationalspieler der betroffenen Clubs wie Toni Kroos (Real) oder Antonio Rüdiger (Chelsea) sollen, wenn es nach Ceferin geht, auch nicht bei Welt- und Europameisterschaften mitspielen – am besten schon nicht mehr bei der im Juni startenden EM. Man könne nicht zulassen, dass den Menschen, die den Fußball lieben, „ins Gesicht gespuckt“ werde.

Uefa-Empörung über Super League ist scheinheilig

Starke Worte. Dabei war es Ceferin selbst, der den Interessenvertretern der Fans zuletzt immer wieder mit Anlauf ins Gesicht gespuckt hatte. Nations League? Conference League? Ein Dideldadeldu-Wettbewerb nach dem nächsten wurde ins Leben gerufen. Europameisterschaften und Champions League wurden aufgepumpt. Und dass die Welt aktuell unter einer Pandemie namens Corona zu leiden hat, scheint die Uefa-Mächtigen auch nicht wirklich zu tangieren.

So fordert Ceferin noch immer, dass alle Teilnehmerstädte der EM eine Garantie abzugeben haben, dass bei der Euro ab Juni Zuschauer zugelassen werden müssen. Steigende Inzidenzen? Drohende Triagen? Die Gefahr von Superspreadern? Achselzucken. Hauptsache, der Ball rollt – und die Fans klatschen.

Uefa-Chef Ceferin braucht sich also nicht zu wundern, wenn seine starke Haltung gegen die Revoluzzer einerseits zur Kenntnis genommen, andererseits aber nicht beklatscht wird. Um es einmal sehr deutlich zu sagen: Die Barça-Juve-ManU-Real-Rebellen sind die Geister, die die Uefa rief.

Uefa und Fifa sind korrupt

Kann man sich ernsthaft darüber wundern, dass Scheichs aus Abu Dhabi, die das sogenannte Financial Fairplay der Uefa unverhohlen ausgetrickst haben, nun die Uefa selbst austricksen? Dass Investoren aus den USA, die weniger Gespür für den Fußball als mein fünfjähriger Sohn haben, nun eine Liga erfinden, in der man genauso wenig auf- und absteigen kann wie in den kommerzverseuchten US-Profiligen des Baseballs, Footballs und Basketballs?

Dass völlig überschuldete Clubs wie der FC Barcelona und Real Madrid, die ungeniert und ungestraft Millionen verschleuderten, nun nach dem letzten Milliarden-Strohhalm greifen, der ihnen von der US-amerikanischen Großbank JP Morgan hingehalten wird? Man braucht sich nichts vorzumachen: Fußball war immer ein Geschäft. Doch das allein ist noch nicht verwerflich. Definitiv verwerflich ist, was die korrupten Verbände wie Uefa und Fifa in den vergangenen Jahren aus diesem Geschäft gemacht haben.

2016, in dem Jahr, als mein Sohn geboren wurde, schrieb ich an dieser Stelle: „Der Fußball ist das unwichtigste Wichtige der Welt. Nur wenn die Verantwortlichen, die Funktionäre, die Vorstandschefs, die Präsidenten, die Berater, die Manager und auch die Fußballer selbst das verstehen und beherzigen, kann der Fußball vielleicht noch gerettet werden.“

Knapp fünf Jahre später muss man konstatieren, dass der Fußball, wie wir ihn kannten, nicht mehr zu retten ist.

Geht es beim Fußball nur ums Geld?

Denn wie soll es mit König Fußball, der sogar das englische Königshaus in seinen Grundfesten erschütterte, nun überhaupt noch weitergehen? Prinz William (38), der zukünftige König der Briten und der Präsident des englischen Fußballverbandes, macht aus seinen Sorgen, die ausnahmsweise mal nicht seinen Bruder Harry betreffen, keinen Hehl: „Jetzt müssen wir mehr denn je die gesamte Fußballgemeinschaft – von der obersten Ebene bis zur Basis – und die Werte von Wettbewerb und Fairness in ihrem Kern schützen.“

Vornehme Worte, die Deutschlands Nationalspieler Robin Gosens (Atalanta Bergamo) auch etwas derber auszudrücken wusste: „Es sterben weltweit noch immer Menschen, es fehlt vorne und hinten am Geld. Diese zwölf Vereine gründen eine eigene Liga und kriegen dafür 100 oder 150 Millionen Euro in den Popo gedrückt. Am Ende geht es einfach nur um Kohle, Kohle, Kohle.“

Eine wahre Erkenntnis, die allerdings zu spät kommt. Denn ein „Zurück auf Los“ kann es nach dieser Woche nicht mehr geben. Glaubt irgendwer ernsthaft, dass die Abtrünnigen aus Madrid oder Mailand („Hauptsache Italien“) nach der weltweiten Welle des Protests nun klein beigeben und im Anschluss von der Uefa in einem Akt der Nächstenliebe wieder begnadigt werden?

Was die Super League unterschätzt

Als Bayern München 1987 und Real Madrid im Halbfinale des Landesmeisterpokals gegeneinander spielten, war das etwas Besonderes. Anpfiff war zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr. Ich war sieben Jahre alt – und musste zur Halbzeit ins Bett. Wie grausam können Eltern sein! 3:1 stand es für die Bayern. Doch mein Vater versprach mir, dass er zu mir ins Zimmer kommen würde, wenn noch etwas passiert – und hielt Wort. Der FCB gewann nach einem weiteren Tor durch Lothar Matthäus 4:1 – und zog trotz der 0:1-Niederlage im Rückspiel ins Finale gegen den FC Porto in Wien ein.

Obwohl ich nie Bayern-Fan war, erinnere ich mich noch genau an dieses Bayern-Real-Spiel – und an meinen Vater als Ergebnisticker. Es war erst das dritte Pflichtspiel der beiden Schwergewichte im europäischen Fußball gegeneinander. Doch seit diesem Abend haben die beiden Clubs weitere 23-mal gegeneinander gespielt. Die Partie, die einst so einmalig und besonders war, wurde zum Alltag.

Und genau das wird auch passieren, wenn Real, Chelsea, City, Juve und Co tagein, tagaus nur noch unter sich spielen. Super-League-Alltag, der möglicherweise auf den Wachstumsmärkten in Asien und Amerika ankommt, aber hierzulande nicht vermittelbar ist.

Super League: Der Fußball ist nicht mehr zu retten

„Alles, was ich tue, ist zum Wohl des Fußballs“, sagte Reals Präsident und Super-League-Anführer Florentino Pérez in der Nacht zum Dienstag in der spanischen Talksendung „Chiringuito“. Und fast könnte man meinen, der Milliardär glaube sogar, was er da sagte: „Jetzt machen wir dies, um den Fußball zu retten.“ Doch der Fußball, wie wir ihn aus unserer Kindheit kannten und liebten, ist nicht mehr zu retten.

Irgendwann werde ich das auch meinen Sohn erklären müssen. Doch dafür ist es noch ein wenig zu früh. Wenn die Uefa am Freitag noch einmal tagt und darüber berät, ob man Real und Co. tatsächlich direkt verbannen sollte, werden wir etwas anderes machen. Vielleicht ein Eis essen, vielleicht aber auch Fußball spielen.

Nur eines ist sicher: Sollten wir tatsächlich auf den Bolzplatz gehen, dann dürfte mein Sohn der Torhüter sein.