Hamburg. Fanszene veröffentlicht bemerkenswerte Zukunftsvision, die kontrovers debattiert wird. Besonders Vorstand Wettstein ist in der Kritik.
Das Gesprächsthema an diesem Dienstagmittag um Punkt 12 Uhr könnte bedeutungsvoller nicht sein. Es sind noch sechseinhalb Stunden bis zum Anpfiff des Spiels des HSV gegen Sandhausen, als nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft des HSV und des Fußballgeschäfts an sich besprochen werden soll.
In der Zoom-Leitung sind eine junge Frau und ein junger Mann, die Redebedarf haben. Und schon die Tatsache, dass die beiden, die ihre Namen nicht in der Zeitung lesen wollen, mit dem Abendblatt sprechen, darf man getrost als äußerst ungewöhnlich einordnen.
HSV-Fanszene veröffentlichte vier brisante Briefe
Er (im Folgenden Anhänger 1) und sie (im Folgenden Anhängerin 2), das sind zwei Mitglieder der aktiven HSV-Fanszene, die in den vergangenen Wochen vier brisante Briefe veröffentlicht haben, deren Inhalt es in sich hat und der innerhalb der Clubspitze des HSV wie eine Bombe eingeschlagen ist.
Die beiden Mit-Autoren gehörten bis vor knapp zwei Jahren der mittlerweile aufgelösten Ultra-Gruppierung Poptown an, die traditionell wie alle Ultras nicht mit Journalisten spricht. Das Abendblatt hat in den vergangenen Jahren mehrere Versuche unternommen, doch bis auf ein paar informelle Treffen und Gedankenaustausche wurde ein offizielles Gespräch immer abgelehnt. Bis jetzt.
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Ultras und andere Fans geben Einblick in das Innerste des HSV
„In der Corona-Krise wurde klar, dass viele Clubs in so einer Situation schnell in eine existenzielle Notlage geraten – und wir als Fans haben uns daraufhin Gedanken gemacht, warum das eigentlich so ist“, sagt Anhänger 1 gleich zu Beginn des Gesprächs. Gemeinsam mit neun weiteren Mit-Autoren haben er und sie vier öffentliche Briefe verfasst, von denen sie der Reihe nach im November und Dezember jeden Dienstag jeweils einen auf der Homepage des Förderkreises Nordtribüne e.V. hochgeladen haben.
Brief Nummer eins („Der HSV im November 2020 – Eine Bestandsaufnahme“) ist ein kritischer Blick zurück, die Briefe Nummer zwei („Nachhaltiges Wirtschaften“), Nummer drei („Einfluss von Investoren“) und Nummer vier („Gesellschaftliche Verantwortung“) könnten unter der Überschrift „Eine Zukunftsvision für den HSV“ zusammengefasst werden. „Wir haben mit sehr vielen Menschen innerhalb des HSV gesprochen, haben aber auch das Gespräch mit anderen Fanorganisationen gesucht“, erklärt Anhängerin 2 das Prozedere.
Und wirklich: Wer sich die Mühe macht, die kompletten zwölf DIN-A4-Seiten aufmerksam zu lesen, der ist schnell beeindruckt. Die Thesenpapiere geben einen detaillierten Einblick in das Innerste des HSV, es wurde mit zahlreichen Mitarbeitern gesprochen, Bilanzen gelesen, Unklarheiten nachrecherchiert.
Die Autoren schreiben über das große Ganze, die „finanziellen Eigeninteressen“ der Vereine und Verbände und die Forderung nach einem grundsätzlichen Umdenken. Genauso werden Jugendarbeit, Ökostrom, Mehrwegbecher thematisiert sowie die ihrer Meinung nach fehlende Aufarbeitung der Rolle von Investor Klaus-Michael Kühnes Unternehmen Kühne+Nagel in der Zeit des Nationalsozialismus. „Kühnes Weigerung, sich damit auseinanderzusetzen, passt nicht zu dem Leitbild und der Satzung, die der HSV vertritt, und somit nicht zu den Werten, für die wir als Verein und als Fanszene stehen“, ist nur einer von sehr vielen meinungsstarken Sätzen, die Seite für Seite den Eindruck verstärken: Die Basis steht auf, will Fehlentwicklungen nicht mehr hinnehmen.
Schwerpunkte der Artikel ist vor allem die wirtschaftliche Zukunft des HSV
„Meine Hoffnung ist, dass wir beim HSV gemeinsam ein neues Leitbild entwickeln, bei dem die aktive Fanszene diesmal auch eingebunden wird“, sagt Anhängerin 2. „Das bisherige Leitbild ist unserer Meinung nach nicht mehr zeitgemäß.“ Zur Erinnerung: Das Leitbild wurde gerade erst vor vier Jahren mithilfe einer Agentur, die 50.000 Euro kassiert haben soll, in einem aufwendigen Prozess angefertigt – und soll nach Abendblatt-Informationen nun aber tatsächlich vom HSV überarbeitet werden.
Schwerpunkte der Artikel sind aber vor allem die wirtschaftliche Zukunft des HSV, die Diskussion um eine Rechtsformänderung und das Szenario eines Verkaufs weiterer Clubanteile. Hauptadressat ist hier Finanzvorstand Frank Wettstein, dem die Autoren ankreiden, dass „die finanzielle Situation im November 2020 beim HSV katastrophal“ sei. Es wird von „Tricks von unserem Finanzvorstand“ berichtet und mangelnde Transparenz angemahnt. „Einen Gesprächsfaden zu den Verantwortlichen im AG-Vorstand gibt es zu diesen Themen nicht“, sagt Anhängerin 2.
Ein Vorwurf, den sich Wettstein im ausführlichen Gespräch mit dem Abendblatt so nicht gefallen lassen will. Der Vorstand des HSV will öffentlich nicht zu jedem einzelnen Punkt Stellung beziehen, betont aber, nach der Veröffentlichung der Briefe den Autoren ein Gesprächsangebot gemacht zu haben. „Die kritische Auseinandersetzung mit der Zukunft des Fußballs und den Themen rund um den HSV zeigt ja das große Interesse und die enorme Leidenschaft für unseren Club – und das ist absolut begrüßenswert“, sagt Wettstein.
Und weiter: „Grundsätzlich stehen wir mit unserer Anhängerschaft in einem konstruktiven Austausch. und selbstverständlich werden die Inhalte der Texte in den nächsten Gesprächen berücksichtigt.“ Allerdings sei er gar nicht der entscheidende Ansprechpartner bei den noch offenen Fragen rund um eine eventuelle Rechtsformänderung und einen weiteren Anteilsverkauf, sondern das Präsidium des Vereins, das mit gut 75 Prozent Mehrheitseigner der AG ist.
Und an dieser Stelle wird es kompliziert. Denn dieses Präsidium um Präsident Marcell Jansen, Vize Thomas Schulz und Schatzmeister Moritz Schaefer gilt aktuell als zerstritten, muss aber zeitnah über zwei noch offene Stellen im Aufsichtsrat entscheiden. Sechs Kandidaten wurden dem Beirat vorgeschlagen, der bis Freitagabend das Präsidium darüber benachrichtigen wollte, ob er die Kandidaten für geeignet hält.
Beirat prüfte sechs Kandidaten für den Aufsichtsrat
Dass die HSV-Verantwortlichen, um die es nach der Beurlaubung Bernd Hoffmanns im vergangenen März lange Zeit ruhig schien, sich längst wieder auf einen erbitterten Richtungsstreit hinter den Kulissen eingelassen haben, zeigt auch eine Schmonzette rund um die Briefe.
So hatten vor allem am 8. Dezember Verschwörungstheorien beim HSV Hochkonjunktur, als die aktive Fanszene ihren letzten Brief („Gesellschaftliche Verantwortung“) am Morgen veröffentlichte und in diesem forderte, mehr Führungspositionen diverser zu besetzen. Aktuell würden lediglich zwei Frauen entscheidende Positionen in der HSV Fußball AG bekleiden: Marleen Groß (Leiterin Marke & Marketing) und Marieke Pyta (Referentin des Vorstandes und CSR-Beauftragte).
Als dann auf einer Präsidiumssitzung am Abend Schulz und Schaefer zwei weibliche Aufsichtsratskandidatinnen vorschlugen (Henkel-Vorstand Kathrin Menges und Digital-Expertin Franziska von Lewinski), war man sich innerhalb der HSV AG schnell sicher: Das kann kein Zufall sein. Wer diesen Gedanken aber zu Ende denkt, dem wird die Absurdität schnell bewusst. Denn dass aktive oder ehemalige Ultras sich von Schulz und Co. für deren mutmaßlichen Machtspielchen missbrauchen lassen, ist ein Witz, über den niemand aus der Fanszene lachen kann.
Ein einfaches „Weiter so“ nach der Corona-Krise wird es nicht geben
Viel mehr ärgert man sich darüber, dass manch einer beim HSV offenbar noch nicht die Zeichen der Zeit erkannt hat. Zahlreiche Ultra-Gruppen in ganz Deutschland haben die Corona-Krise zum Anlass genommen, um über grundsätzliche Veränderungen im aus dem Ruder geratenen Geschäft Profifußball nachzudenken. Zuletzt hatten beispielsweise auch Fans von Borussia Dortmund ein Thesenpapier („Die Entfremdung“) über die Krise des Profifußballs veröffentlicht, die Ultras von Schalke 04 haben in einem sogenannten blauen Brief mit ihrem Club abgerechnet, und die organisierte Fanszene Deutschlands hat als Unsere Kurve e. V. über die Zukunft des Profifußballs philosophiert.
Eines dürfte klar sein: Ein einfaches „Weiter so“ nach der Corona-Krise wird es nicht geben. Nicht beim HSV, nicht beim BVB und auch nicht bei Schalke. „Ich erwarte, dass unsere Fanszene ein wenig mehr aufgerüttelt ist und ihre Einflussmöglichkeit stärker als bislang nutzt“, sagt Anhängerin 2 zum Ende des Zoom-Gesprächs. Ein neues Leitbild soll her, ein echter Dialog, Transparenz, ein Miteinander. Nur beim Blick in die kurzfristige Zukunft sind die beiden Anhänger überfragt. Ob sie am Abend das Spiel des HSV gegen Sandhausen gucken würden? Die Antwort: ein Achselzucken.
4:0 hat der HSV an jenem Abend gewonnen. Der entscheidende Kampf um die Treue der Immer-Treuen muss beim HSV aber noch ausgefochten werden.