Hamburg. Der Handball-Weltmeister bestreitet Sonntag für den HSV Hamburg das letzte Spiel seiner Karriere. Wie sein Alltag jetzt aussieht.
An den Abend des 24. November 2020, eines Dienstags in düsteren Corona-Zeiten, kann sich Sebastian Frecke noch genau erinnern. Während des Zweitligaspiels des Handball Sport Vereins Hamburg (HSVH) beim VfL Bad Schwartau greift der Geschäftsführer des HSVH in der zweiten Halbzeit, die Hamburger liegen klar zurück, impulsiv zu seinem Handy und ruft Johannes Bitter an. „Du suchst einen Torhüter“, entgegnet der ihm prompt und kommt sofort zur Sache, anstelle sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. Bitter hatte das Spiel, das der HSVH 28:31 verlieren sollte, ebenfalls zu Hause im Livestream verfolgt.
Bitter steht beim HSV Hamburg noch bis 2026 unter Vertrag
Das Ende der Geschichte ist bekannt. Keine fünf Wochen später, kurz vor dem Abflug der deutschen Handball-Nationalmannschaft zur WM in Ägypten, unterschreibt Bitter einen Fünfjahresvertrag beim HSVH bis zum 30. Juni 2026, der auch für die Zweite Liga gilt. Angebote seines damaligen Arbeitgebers TVB Stuttgart und des europäischen Topclubs FC Barcelona hatte er für seine Rückkehr nach Hamburg ausgeschlagen. Im Juni 2021 steigen die Hamburger in die Bundesliga auf. Fixiert werden in den Vereinbarungen auch, dass der heute 42-Jährige nach seiner sportlichen Karriere ins Management des Vereins wechseln sollte.
Dieser Zeitpunkt war vor zweieinhalb Monaten gekommen. Der Torhüter arbeitet seitdem auf der Geschäftsstelle des Clubs am Luruper Hellgrundweg, hauptamtlich als Sportdirektor, ehrenamtlich als Vizepräsident. In dieser Woche nun hat er noch mal die Räumlichkeiten nebenan betreten, die Trainingshalle, um sich auf seinen sportlichen Abschied vorzubereiten.
Zu Bitters Abschied: Exklusive Sondertrikots mit „Danke, Jogi“
An diesem Sonntag (15 Uhr/Dyn) steht Johannes „Jogi“ Bitter im Bundesligaspiel gegen die SG Flensburg-Handewitt das letzte Mal im Kader des HSV Hamburg. Die Barclays Arena im Volkspark ist mit 12.000 Zuschauern ausverkauft. Das Team wird in einem weißen Sondertrikot mit einer „Danke, Jogi“-Prägung auflaufen. Besucherinnen und Besucher sind aufgerufen, „in Weiß zu erscheinen, um gemeinsam ein eindrucksvolles Bild in der Halle zu schaffen“, heißt es auf der Homepage des HSVH. Nach der Begegnung wollen Mannschaft und Fans gemeinsam feiern.
Ob Bitter zum Einsatz kommen wird, ist offen. Absprachen dazu gibt es nicht. Es wäre sein 657. Bundesligaspiel seit 2002, als er mit dem Wilhelmshavener HV in die Erste Liga aufstieg. Rund 6000 Bälle hat er in dieser Zeit gehalten. Eine genaue Statistik existiert nicht.
Selbst im fortgeschrittenen Torhüter-Alter war Bitter, 2,05 Meter groß, ein Bollwerk. Eines seiner besten Spiele liegt nicht lange zurück. Am 12. April dieses Jahres rettet er dem HSVH mit 15 Paraden ein 28:28 gegen Rekordmeister THW Kiel. Zwölf Sekunden vor Schluss wehrt Bitter den vermeintlich spielentscheidenden Siebenmeter von Niclas Ekberg ab, sprintet zum gehaltenen Ball, passt ihn zu Spielmacher Leif Tissier, der diesen zu Rechtsaußen Frederik Bo Andersen weiterleitet, der dann zwei Sekunden vor Spielende den Ausgleich wirft – und minutenlangen Jubel auf den Rängen auslöst.
Von Juli 2007 bis Dezember 2015 stand Bitter das erste Mal im Hamburger Tor. „Sportchef Christian Fitzek und ich hatten ihn schon 15 Monate zuvor verpflichtet, als er für Magdeburg spielte. Er passte perfekt zu uns, wir wollten viele deutsche Nationalspieler in unserem Team haben“, erzählte der ehemalige Vereinspräsident, Hauptsponsor und Mäzen Andreas Rudolph jetzt dem Abendblatt. „Wir konnten damals den Deal bis zur offiziellen Verkündung im Sommer 2007 geheimhalten. Das war einmalig.“ Rudolph (69) und Bitter halten bis heute Kontakt, beide schätzen sich.
Bitter bestritt 175 Länderspiele, das letzte im Januar 2022
Bitter hat als Torhüter fast alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Weltmeister 2007 mit der Nationalmannschaft, 2013 Champions-League-, 2010 deutscher Pokalsieger, 2011 Deutscher Meister mit dem HSV Hamburg, 2007 Gewinner des europäischen EHF-Pokals mit dem SC Magdeburg. 175 Länderspiele bestritt er, das letzte bei der Europameisterschaft im Januar 2022, als er Bundestrainer Alfred Gislason, dem während des Turniers die Torhüter ausgegangen waren, in einer Notlage – wie versprochen – half.
„Es sind natürlich diese emotionalen Momente, die Erfolge, an die ich im Rückblick gern denke. Aber es sind auch die Stunden im Trainingslager in Ammersee, wenn wir abends mit der Mannschafts zusammensaßen und unseren Spaß hatten“, sagt Bitter. Geblieben seien – neben einem knorpellosen rechten Knie – die vielen Freundschaften, die Erinnerungen an Begegnungen mit außergewöhnlichen Menschen. Bitter war und ist stets offen für jeden Gedankenaustausch.
Es sei dabei seine Gesprächskultur, die ihn auszeichne, sagt Ex-Geschäftsführer Frecke. „Er lässt nie den erfolgreichen Profi heraushängen. Er spricht mit jedem von Mensch zu Mensch, hört zu, was andere zu sagen haben. Das macht ihn so sympathisch.“
Bitter ist Mitbegründer der Handball-Spielergewerkschaft
Dem heutigen Cheftrainer Torsten Jansen (47), der mit ihm beim HSV Hamburg jahrelang als Spieler und als Weltklasse-Linksaußen in der Nationalmannschaft alle großen Siege mitfeierte, gefällt Bitters proaktive Art, dass er Herausforderungen sehe, bevor sie zu Problemen werden, „dass es ihm immer um die Sache, die Mannschaft oder den Verein geht“.
Als Mitbegründer der Handball-Spielergewerkschaft G.O.A.L. diente sein Engagement auch seinen Berufskollegen. Die Geschäftsführung lässt er seit längerer Zeit ruhen, das Amt wird er demnächst auch formal abgeben. Seine Konzentration gilt dem HSVH. Seine vor acht Jahren gegründete Firma Drinkbetter, die Energiegetränke mit rein natürlichen Inhaltsstoffen, vegan und zuckerfrei produziert, steht deshalb zum Verkauf.
2020 hatten sich in der Vox-Serie „Die Höhle der Löwen“ die Unternehmer Carsten Maschmeyer und Ralf Dümmel für 300.000 Euro 30 Prozent der Geschäftsanteile des Starts-ups gesichert.
- Neue Handball-Arena: HSVH lehnt Angebot von Ex-Boss Frecke ab
- Bitter über körperliche Probleme: „Es tat zu sehr weh“
- Extremer Umbruch: Was sich beim HSV Hamburg jetzt alles ändert
Über mangelnde Auslastung kann sich Bitter, Vater von fünf Kindern, nicht beklagen. „Am Dienstag habe ich um zwei Uhr nachts die letzte E-Mail geschrieben und um acht Uhr morgens den Berater angerufen“, schildert er seinen neuen Alltag, indem er gefordert ist, für die nächste Saison ein konkurrenzfähiges Bundesligateam zusammenzustellen; eine Herkulesaufgabe angesichts vermutlich begrenzter Finanzen.
Johannes Bitter: Ich habe als Sportler fürs Leben gelernt
„Widerstände zu überwinden, Niederlagen zu akzeptieren, nie zu verzweifeln, immer wieder die nötige Energie aufzubringen, aufzustehen, selbst wenn es schwerfällt, Herausforderungen anzunehmen“, das habe er als Sportler fürs Leben gelernt, sagt Johannes Bitter. „Du musst immer besser werden, du darfst nie stehen bleiben, sonst wirst du überholt.“ Jetzt, sagt der ehemalige Weltklasse-Torhüter, sei er aber erst mal wieder ein Lernender.