Hamburg. Auf einer Trainingslagerfahrt soll ein Handballtalent schwer missbraucht worden sein. Wie Verein, Verband und Schule an Grenzen stoßen.

Auf Luftaufnahmen lässt sich das große Gelände der Ferien- und Trainingsanlage gut überblicken. Unzählige kleine Holzhütten mit roten Dächern stehen in einer Siedlung im dänischen Südjütland, direkt angrenzend liegen grüne Felder und eine beschauliche Kleinstadt. Auch die Nachwuchsmannschaften des HSV Hamburg (HSVH) absolvierten hier, nahe dem Wattenmeer und der Insel Rømø, im Sommer 2023 ein Trainingslager. Wie bereits im Vorjahr brach der Handball-Bundesligist Mitte August mit 60 Nachwuchsspielern nach Dänemark auf.

„Unsere schönen Ferienhäuser machen es möglich, sich auf eine Weise heimisch zu fühlen, wie man es nicht kann, wenn man zum Beispiel in einem Zimmer wohnt“, schreibt der Betreiber auf seiner Internetseite. 69 Bungalows für jeweils sieben Personen stehen auf der großen Ferien- und Trainingsanlage zur Verfügung, auch die zwischen 11 und 18 Jahre alten HSVH-Nachwuchstalente wohnten in Altersgruppen in den kleinen Holzhäusern zusammen.

Schwere Vorwürfe nach der Trainingslager-Ausfahrt

„Schön“ und „heimisch“ wurde die Trainingslager-Ausfahrt allerdings nicht. Stattdessen soll es zu schwerwiegender sexueller Gewalt gekommen sein, gefolgt von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, schweren Vorwürfen und vielen ungeklärten Fragen. Über die schlimme Tat, die sich in einem der Holz-Bungalows am Rande der dänischen Kleinstadt ereignet haben soll, berichtete im vergangenen Oktober zunächst die „Zeit“.

Auch das Abendblatt führte in den vergangenen Wochen zahlreiche Gespräche. Mit Eltern von HSVH-Talenten, die empört sind über die Aufarbeitungsschritte und Maßnahmen des Vereins, des Hamburger Handball-Verbands und der Eliteschule des Sports am Alten Teichweg. Aber auch mit Vertretern von Verein, Verband und Schule, die in ihrer monatelangen Arbeit an rechtliche und ethische Grenzen stießen. Manche Beteiligte sprechen von Überforderung, manche von Unerfahrenheit, viele davon, im Rahmen ihres Möglichen das Beste getan zu haben.

Die Namen der mutmaßlichen Täter, des Opfers und der passiv Beteiligten werden in diesem Artikel nicht genannt, auch weil es über den genauen Ablauf der Tat und deren Aufarbeitung unterschiedliche Darstellungen gibt. Feststehen soll aber, dass es am Abend des dritten Trainingslager-Tages zu sexueller Gewalt innerhalb der U-15-Mannschaft kam.

Verein geht von sexualisierter Gewalt aus

Sieben Kinder aus der U15 sollen an jenem Abend in ein Haus der U13 gekommen sein. Das Opfer, die „Zeit“ nannte ihn Jan, spielte erst seit wenigen Wochen bei der U15, wo er in der damals anstehenden Saison zum jüngeren Jahrgang zählen sollte. Die Täter – angezeigt wurden später sechs U-15-Spieler des älteren Jahrgangs – sollen im Bungalow zunächst noch Späße gemacht haben, dann aber Jan festgehalten, ihm die Hose heruntergezogen und mit einer Küchenrolle anal vergewaltigt haben, während U-13-Spieler dabei zugesehen haben sollen.

„Wir gehen fest davon aus, dass es zu einer Form von sexualisierter Gewalt unter den Kindern gekommen ist. Weil es in den Berichten der Kinder voneinander abweichende Darstellungen gibt, besteht lediglich keine abschließende Gewissheit über die Schwere und die Beteiligungsformen der einzelnen Kinder“, teilt der HSVH auf Abendblatt-Nachfrage mit.

„Peer-Gewalt“ im HSVH-Nachwuchs

Details zum genauen Tatablauf – etwa wer genau vor der Tür „Wache stand“ und ob es tatsächlich zu einer Penetration kam oder nur beim Versuch blieb – sind unklar. Die Tat soll in diesem Text aber auch nicht im Zentrum stehen, sondern die Frage nach dem bestmöglichen Umgang damit und möglichen Lehren für die Zukunft.

„Peer-Gewalt“ lautet der Fachbegriff, der sexuelle Übergriffe, Handlungen oder Gewalt unter Gleichaltrigen beschreibt – und laut Mitarbeitern unabhängiger Beratungs- und Präventionsstellen, die auch mit dem HSVH-Fall betraut sind, in vielen Vereinen und Organisationen noch zu wenig Aufmerksamkeit erfährt. Der Fokus liege deutlich häufiger auf der Prävention sogenannter vertikaler Gewalt, also grenzüberschreitender Übergriffe in Hierarchieverhältnissen wie etwa von Trainern gegenüber ihren Spielern. Auch diese grundsätzliche Unerfahrenheit mit horizontaler Gewalt unter Gleichaltrigen offenbart sich in diesem Fall.

Der HSVH erfuhr einen Monat nach dem Trainingslager von den Vorwürfen

Der Verein. Die HSVH-Verantwortlichen erfuhren am 20. September 2023, rund einen Monat nach dem Trainingslager, von der Tat. Spieler der U13 hatten sich ihrer Trainerin anvertraut, die zuvor Verhaltensänderungen festgestellt und Einzelgespräche geführt hatte. Die Trainerin informierte noch am selben Tag die Nachwuchsverantwortlichen des HSVH, das Mannschaftstraining der U13 und U15 wurde daraufhin umgehend gestoppt.

Am nächsten Tag führten die HSVH-Verantwortlichen erste Gespräche mit Verbänden wie dem Hamburger Sportbund (HSB) und der Hamburger Sportjugend (HSJ) sowie mit Dunkelziffer e. V., einem Hamburger Verein, der sich für sexuell missbrauchte Kinder einsetzt. In einem ersten Feedback hieß es, der umgehende Trainingsstopp sei die richtige Maßnahme gewesen.

Am 22. September lud der Verein zunächst die Eltern der U-13-Spieler zum Gespräch ein. Die Lage sei zu diesem frühen Zeitpunkt noch äußerst diffus gewesen, berichtet ein Verantwortlicher heute. Parallel zu den Elterngesprächen mit der U13 habe man eine E-Mail an die Eltern der U15 geschickt, in der man über Vorwürfe sexualisierter Gewalt sowie den umgehenden Stopp des Trainings- und Spielbetriebs informiert habe. Beim Hamburger Handball-Verband gingen an jenem Freitag zudem Spielabsagen für die U13 und U15 des HSVH ein, auch hier lautete das Stichwort „sexualisierte Gewalt“.

Bei der Polizei ging eine Strafanzeige ein

Noch am selben Abend fuhren zwei Eltern zur Polizei und stellten Strafanzeige, drei Tage später musste auch der HSVH seine Aussage machen. Parallel konsultierten die Vereinsverantwortlichen weitere Organisation wie Athleten Deutschland, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Es blieb bei der Entscheidung, das Training auszusetzen, und dem Plan, die sechs Beschuldigten bis zur Klärung des Falls zu suspendieren.

Am Nachmittag des 9. Oktober bat der HSVH die Eltern der Beschuldigten zu Gesprächen. Obwohl Einzelgespräche geplant gewesen seien, seien die Eltern als Gruppe aufgelaufen, berichtet ein HSVH-Verantwortlicher, als er mit dem Abendblatt in einem Eppendorfer Café zusammensitzt. Bei dieser etwa zweistündigen Sitzung sei man von einigen Eltern enorm unter Druck gesetzt worden, was die HSVH-Seite überraschte. Es sei mit rechtlichen Schritten gedroht und die Frage gestellt worden, ob der Verein verantwortlich dafür sein wolle, wenn sich eines der suspendierten Kinder vor den Zug werfe, weil es aufgrund einer nicht erwiesenen Anschuldigung nicht mehr Handball spielen dürfe.

Dieser Druck der Eltern habe zu einem Gedankenumschwung geführt, auch weil nach wie vor unklar war, ob tatsächlich alle Beschuldigten auch an der Tat beteiligt waren. Mehrere Eltern bestritten und bestreiten dies vehement. Der HSVH wollte eine Vorverurteilung ebenso vermeiden wie einen mangelhaften Opferschutz. Dieses Dilemma ließ sich auch in den folgenden Wochen nicht auflösen. Es allen Beteiligten recht zu machen, sagt der HSVH-Verantwortliche, sei in diesem Fall unmöglich.

Verein steckt im Zwiespalt zwischen Opferschutz und rechtlichen Grenzen

Anfangs habe man infolge diverser Gedankenspiele überlegt, die U13 und die U15 komplett abzumelden, diese Idee dann aber auch nach Rücksprache mit Hilfsorganisationen wieder verworfen. Auch ein Vereinsausschluss der Beschuldigten sei unter anderem deshalb keine Option gewesen, weil die Namen der Beschuldigten in einem solchen Ausschlussverfahren auf der HSVH-Mitgliederversammlung öffentlich hätten genannt werden müssen. Dies hätte wiederum zu einer Vorverurteilung geführt, gleichzeitig habe man Jan schützen wollen.

„Die schockierenden Berichte und Vorwürfe sind von Anfang an mit der maximalen Ernsthaftigkeit und Sorgfalt aufgenommen und angegangen worden“, teilt der Verein schriftlich mit. Und weiter: „Im Rahmen der hochkomplexen, teilweise unklaren und emotionalen Gesamtsituation liefen aber sicherlich nicht alle Schritte perfekt, und es gibt vereinzelte Aspekte, die wir retrospektiv gerne anders gehandhabt hätten. Auch aus fachkundigen Kreisen haben wir sehr viel positives Feedback für unseren Weg bekommen.“

Auch dem Abendblatt wird von einer Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation, die in den Fall involviert ist und namentlich nicht genannt werden will, bestätigt, dass der Verein grundsätzlich richtig vorgegangen sei. Vor allem bei Minderjährigen sei es der falsche Weg, diese umgehend aus dem Verein auszuschließen. Eine Suspendierung sei insbesondere im Leistungsbereich bereits eine harte und spürbare Strafe. Darüber hinaus müsse man mit den mutmaßlichen Tätern arbeiten, um Verhaltensänderungen herbeizuführen. Bei einem Vereinsausschluss sei die Gefahr des sogenannten „Täter-Hoppings“, bei dem Übergriffige bei einem neuen Verein in gleicher Art und Weise weiteragieren, zu groß.

Unzählige Telefonate mit Eltern, Hilfsorganisationen und Co.

Der HSVH entschied sich nach zahlreichen Gesprächen mit Eltern und Hilfsorganisationen, ein Nachwuchsmitarbeiter berichtet von täglich bis zu 30 Telefonaten, die U15 vom 23. Oktober an wieder trainieren zu lassen. Diese Wiederaufnahme des Trainings geschah in zwei voneinander getrennten Trainingsgruppen, der ältere wurde vom jüngeren Jahrgang separiert, die Beschuldigten waren in der älteren Gruppe dabei. Die U13 hatte bereits vom 29. September an wieder trainiert, weil sich hier in den Gesprächen schnell herausgestellt habe, dass diese nicht beschuldigt sei.

Bei der U15 war die Situation anders, weshalb der Verein auch die Auflage machte, dass die Spieler bereits umgezogen zum Training erscheinen mussten und im Anschluss nicht gemeinsam duschen durften. Die Teilnahme an den getrennten Trainingsgruppen war freiwillig, viele Spieler blieben den Einheiten fern. Im Nachhinein, sagen Vereinsverantwortliche, habe dieser Schritt einer Wiederaufnahme des Trainings nicht funktioniert. Man wollte zu dem Zeitpunkt allerdings auch nicht den vielen Unbeteiligten schaden, Monate ohne Training können im Nachwuchsleistungsbereich zu entscheidenden Nachteilen führen.

Parallel habe man als Verein darauf gehofft, dass die Polizei in ihren Ermittlungen vorankommt, damit das immer noch diffuse Geschehen weiter aufgeklärt wird und darauf aufbauend Maßnahmen getroffen werden können. Dies sei allerdings nicht der Fall gewesen, auch über Zwischenstände der Ermittlungen wurde der Verein von der Polizei logischerweise nicht informiert.

„Wir sind als Handball-Verein schnell an unsere Grenzen gestoßen“

„Es war uns leider nicht möglich, für die benötigte Klarheit zu sorgen, weil wir als Handball-Verein relativ schnell an unsere Grenzen gestoßen sind. Wir sind keine Ermittler oder Richter und können niemanden verhören, wie beispielsweise die Polizei, deren Ermittlungen uns leider auch nicht weitergeholfen haben“, heißt es hierzu schriftlich vom Verein. „Aufgrund der Komplexität der Situation und Besonderheiten im Bereich der Peer-Gewalt war der Fall aber auch für die Experten und Expertinnen eine sehr große Herausforderung.“

Ein wichtiger Schritt sei laut HSVH-Verantwortlichen schließlich Ende Oktober 2023 die Kontaktaufnahme zu einer Psychologin des Olympiastützpunkts in Dulsberg gewesen. Diese habe sich vom 1. November an des Falls angenommen, von diesem Zeitpunkt an habe man eine deutlich strukturiertere Vorgehensweise gehabt. Gemeinsam mit einer weiteren Psychologin sowie der Beratungsstelle „basis-praevent“ wurden umfangreiche Elternabende organisiert, am 21. November für die U-15-, am 28. November für die U-13-Jahrgänge.

Das Fazit dieser Elternabende war klar: Zeitnah sollte es Einzelgespräche mit allen Betroffenen und Unbeteiligten aus der U15 geben. Von diesen Gesprächen ausgeschlossen waren die sechs Beschuldigten. Die Einzelgespräche fanden ohne HSVH-Verantwortliche statt, damit sich die Spieler öffnen können, ohne Nachteile für ihre weitere Laufbahn im Club befürchten zu müssen. Die Psychologinnen seien allerdings von ihrer Schweigepflicht entbunden worden, wodurch die Wünsche der Spieler anonym an den Verein weitergegeben werden konnten.

Der HSVH verpflichtete die Beschuldigten zu Beratungsgesprächen

Mitte Dezember, alle Nicht-Beschuldigten waren zu diesem Zeitpunkt wieder ins Teamtraining zurückgekehrt, ergab sich aus den Gesprächen vor allem der Wunsch einer Entschuldigung der Beschuldigten vor der gesamten Mannschaft. Der Verein verpflichtete die Beschuldigten darüber hinaus zu Beratungsgesprächen beim Wendepunkt e. V., einem auf sexuell übergriffige Minderjährige und junge Erwachsene spezialisierten Verein. Zudem stellte man mannschaftsinterne Verhaltensregeln auf, die jeder Spieler unterschreiben sollte.

Gegenüber der „Zeit“ äußerte Jans Mutter, dass sie fassungslos über die Maßnahmen darüber gewesen sei: „Ich habe gedacht: Und wo ist jetzt die Strafe?“ Unabhängige Beratungsagenturen halten die Schritte des Vereins hingegen für nachvollziehbar und richtig.

Kurz vor Weihnachten habe der HSVH die sechs staatsanwaltschaftlich Beschuldigten sowie einen weiteren Spieler, dessen Name im Zusammenhang mit dem Fall fiel, mit ihren Eltern zu Einzelterminen einbestellt, um den beschlossenen Maßnahmenkatalog unterschreiben zu lassen. Weil ein Beschuldigter den Verein zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen hatte, kam es allerdings nur zu sechs Unterschriften. Zwei weitere Spieler zogen ihre Unterschriften zudem wenig später per anwaltlichem Schreiben zurück; der eine hatte mit Handball aufgehört, der andere den Verein ebenfalls verlassen.

Manche Eltern halten die Maßnahmen für unzureichend

Manche Eltern anderer HSVH-Nachwuchsspieler ärgern sich heute darüber, dass nur ein Teil der Beschuldigten den Maßnahmen zustimmte. Wieder andere Eltern halten die beschlossenen Maßnahmen ohnehin für zu milde.

Dem Abendblatt sind die Namen der Spieler und ihrer neuen Vereine bekannt. Sie sind bei anderen Leistungsmannschaften in Norddeutschland untergekommen. Der HSVH betont, die abgewanderten Spieler seien schlicht nicht mehr greifbar gewesen. Große Probleme, einen neuen Club zu finden, gab es für die abgewanderten Beschuldigten offenbar nicht. Viele Eltern sind darüber wütend, auch dass die neuen Vereine, die zum Schutz der Spieler ebenfalls nicht genannt werden können, möglichen Tätern eine neue sportliche Heimat bieten, obwohl sie über die Vorwürfe Bescheid wüssten.

Die vier verbliebenen HSVH-Talente, die die Maßnahmen unterschrieben haben, mussten sich selbstständig um ihre Beratungstermine kümmern. Erst sobald sie diese absolviert hatten, durften sie ins Mannschaftstraining der U15 zurückkehren. Ende Januar sei das nach und nach der Fall gewesen. Als sich die vier Beschuldigten, die zu diesem Zeitpunkt noch beim HSVH aktiv waren, vor ihrer Mannschaft entschuldigten, hatte Jan den Verein bereits verlassen. Er spielt heute bei einem anderen Hamburger Club weiter Leistungshandball.

Keine direkte Entschuldigung der Beschuldigten

Eine direkte Entschuldigung der Täter gab es bis heute nicht. Auch darüber sind viele Eltern empört. „Der Betroffene war zum Zeitpunkt der Entschuldigungen nicht mehr bei uns im Verein. Und seine Eltern hatten uns explizit darum gebeten, dass wir als Verein keinen Kontakt mehr aufnehmen, weil sie als Familie einen Umgang damit finden wollen. Das haben wir respektiert. Rückblickend betrachtet bedauern wir es sehr, dass diese Entschuldigung von den Beschuldigten beim Betroffenen nicht stattgefunden hat“, teilt der HSVH hierzu mit.

Im Gespräch mit dem Abendblatt berichtet ein HSVH-Verantwortlicher, wie er und weitere Mitarbeiter in dem halben Jahr zwischen Bekanntwerden der Vorwürfe und der Teil-Rückkehr der Beschuldigten an ihre Belastungsgrenzen stießen. Der Druck sei enorm gewesen, teilweise habe man auch über Rücktritte nachgedacht.

Mittlerweile sind sowohl die damalige U-13-Trainerin als auch der damalige U-15-Trainer nicht mehr beim Verein tätig. Dass der langjährige Nachwuchs-Vorstand Stefan Schröder den Verein zudem im Fe­bruar 2024 verließ, um einen Campingplatz in Dänemark zu betreiben, ist öffentlich bekannt. Der HSVH betont auf Nachfrage, dass die personellen Wechsel nicht mit dem sexuellen Übergriff in Verbindung stünden, und kann dies gegenüber dem Abendblatt auch plausibel erklären.

Der Hamburger Handball-Verband hatte zu Beginn kaum Informationen

Der Verband. Der Hamburger Handball-Verband (HHV) schloss am 25. September, drei Tage nachdem der HSVH den Verband informiert hatte, 20 HSVH-Talente vom wöchentlichen Auswahltraining in den Jahrgängen U13 und U15 aus. Weil der Verein aus Datenschutzgründen nicht im Detail habe nennen können, welche Spieler beschuldigt werden, habe man die HSVH-Spieler als gesamte Gruppe betrachten müssen, sagt eine HHV-Verantwortliche, als sie in einem großen Konferenzraum im Hamburger Landesleistungszentrum mit dem Abendblatt zusammensitzt. Über die genauen Geschehnisse im Trainingslager habe man nur wenig gewusst, man habe aber Opfer und Unbeteiligte schützen wollen.

Nach einigen Wochen sei die Stimmung allerdings gekippt, Eltern mutmaßlich unbeteiligter HSVH-Talente machten den Vorwurf einer Kollektivbestrafung. Ende Dezember habe man deshalb den 20 betroffenen HSVH-Auswahlspielern und deren Eltern eine Erklärung zur Unterschrift vorgelegt. Mit dieser sollte bestätigt werden, dass man nicht zu den Beschuldigten gehört.

Die HHV-Verantwortliche gibt an, dass man über das Hörensagen zu diesem Zeitpunkt zwar einige mutmaßliche Namen der Beschuldigten gekannt habe, diese jedoch nicht gesichert gewesen seien. In den Wochen darauf durchliefen die vier HSVH-Talente, die bereits beim HSVH den vereinbarten Maßnahmenkatalog unterschrieben hatten, die vereinbarten Beratungsgespräche.

Haben alle Auswahlspieler wahrheitsgemäß unterschrieben?

Vom 7. Januar an seien viele HSVH-Spieler, die die HHV-Erklärung unterschrieben hatten, dann wieder beim Auswahltraining erschienen. Den automatischen Rückschluss, dass jemand, der die Erklärung nicht unterschrieben hatte, zu den Beschuldigten zählt, habe man allerdings nicht treffen können, sagt die Verbandsverantwortliche. Möglicherweise hatten ja auch der Betroffene oder passiv Beteiligte nicht unterschrieben, um nicht ins Training zurückzukehren.

Mehrere Eltern gingen die Maßnahmen der Unterschriftserklärung sowie die Beratungsstunden für die Beschuldigten nicht weit genug. „Abgesehen davon, dass dies eine sehr dürftige Maßnahme ist, waren die Spieler nicht ehrlich“, schreibt eine Mutter eines Auswahlspielers in einer E-Mail an das Abendblatt. „Die Auswahlspieler haben mit Jungs zusammen geduscht, die einen anderen vergewaltigt haben.“

Auch die HHV-Verantwortliche bestätigt im Abendblatt-Gespräch, dass Mitte Januar bei einem Video-Elternabend Zweifel aufgekommen seien, ob alle Spieler die Erklärung wahrheitsgemäß unterzeichnet hatten. In folgenden Einzelgesprächen habe man dies aber weitgehend aufklären können.

Drei Teams lehnten es ab, gegen den HSVH zu spielen

Der Spielbetrieb. Von Mitte bis Ende Januar diskutierte der HSVH mit den betroffenen Vereinen und Verbänden, wie die U15 in den Spielbetrieb der damaligen Oberliga (heute Regionalliga) zurückkehren kann. Seit Ende September waren schließlich alle Meisterschaftsspiele abgesagt worden. Der zuständige Verband war hierbei die Handballregion Nord (HRN), die sich aus dem HHV und dem Handballverband Schleswig-Holstein (HVSH) zusammensetzt.

Der HSVH-Verantwortliche erzählt, dass man schnell den Plan gehabt habe, von Februar 2024 an Nachholspiele auszutragen. Alle Vereine der Oberliga, der höchsten Spielklasse in diesem Altersbereich, hätten diesem Vorhaben zugestimmt. Nur die SG Hamburg-Nord, der Rellinger TV und der TSV Kronshagen lehnten es ab, gegen den HSVH zu spielen.

Der Verband habe daraufhin zwar darauf verzichtet, diese drei Clubs für einen Nichtantritt mit der üblichen Geldstrafe zu belegen, sah sich aber statutengemäß gezwungen, die Spiele für den HSVH zu werten. Manche Eltern empfinden das als Skandal, eine Mutter schreibt, dass sie „unglaublich wütend“ sei. Der Verband hält dagegen, dass man keine andere Wahl gehabt habe. Andere Sanktionen seien schlicht nicht möglich gewesen, da sich auch auf juristischer Ebene nichts Entscheidendes tat.

Auch die Schule stand vor Herausforderungen

Die Schule. Vor schwierigen Entscheidungen stand auch die Eliteschule des Sports am Alten Teichweg (ATW), wo viele HSVH-Talente, darunter auch Beschuldigte, zur Schule gehen. Im Rahmen der „Jugend trainiert für Olympia“-Wettkämpfe (JtfO) tritt das ATW gegen andere Hamburger Schulen an. Unter diesen Schulen war auch Jans Schule. Obwohl er den HSVH bereits verlassen hatte, traf er seine mutmaßlichen Peiniger bei JtfO wieder.

„Es hat uns genau ein unbekannter Vater einmal am Abend nach der Vorrunde vom JtfO-Landesentscheid kontaktiert. Wir haben uns sofort gemeldet und sind mit ihm ins Gespräch gegangen“, teilt die Schule mit. „Bis dahin wussten wir noch überhaupt nichts von dem Vorfall. Bis heute wissen wir nicht, ob es der Vater des Opfers war. Überhaupt wissen wir nicht, wer sämtliche Beteiligten sind und welche Rolle sie genau gespielt haben.“

Grundsätzlich, heißt es vom ATW, verurteile man derartige Taten. Dem müsse schnell und unmissverständlich nachgegangen werden. Als Schule habe man für alle Gewalt-Vorfälle und Übergriffe während des Schulalltags ein detailliertes Handlungskonzept und Kinderschutzkonzept.

Schule hält Trainingslager-Fahrten weiterhin für wichtig

„Wir halten es aber auch für wichtig, dass es Vereine und Verbände gibt, die außerschulische Jugendarbeit machen, Training für alle Spielstärken anbieten und Reisen unternehmen. Dass es bei solch einer Unternehmung zu Übergriffen kommt, ist furchtbar. Tatsächlich passieren Verbrechen leider überall, und wir müssen alles tun, um Kinder und Jugendliche zu schützen, gleichzeitig aber den Wert und die Kraft von solchen Unternehmungen sehen und schätzen“, teilt die Schule mit.

Und weiter: „Eine erhebliche Barriere für uns an einer Schule bei allen derartigen außerschulischen Vorfällen ist, dass wir keinerlei Einsicht in polizeiliche Ermittlungen haben und auf externe Informationen angewiesen sind. Außerdem können aus rechtlichen, aber auch pädagogischen Gründen außerschulische Taten nicht in Schulen sanktioniert werden.“

Staatsanwaltschaften stellten Ermittlungen ein

Die Staatsanwaltschaften. Die Staatsanwaltschaft Hamburg teilt auf Abendblatt-Nachfrage mit, dass ein Ermittlungsverfahren gegen fünf Tatverdächtige, die zur mutmaßlichen Tatzeit strafunmündig waren, am 15. Februar 2024 eingestellt worden sei. Hinsichtlich des sechsten Beschuldigten, der als einziger Tatverdächtiger zum Tatzeitpunkt bereits 14 Jahre alt gewesen sei, habe man das Verfahren zuständigkeitshalber an die Staatsanwaltschaft Itzehoe abgegeben.

Die Staatsanwaltschaft Itzehoe teilt auf Nachfrage mit, dass das Ermittlungsverfahren gegen den 14-Jährigen im Juni 2024 eingestellt worden sei. „Maßgeblich hierfür war zum einen, dass es sich bei dem Tatbeitrag des Beschuldigten um ein im Vergleich zu den Verhaltensmustern der anderen Tatbeteiligten niedrigschwelligeres Verhalten handelte. Er führte keine aktive Rolle aus“, heißt es in der Begründung. Zum anderen habe man die Beratungsgespräche und Workshops, die der Beschuldigte bereits über den Maßnahmenkatalog des HSVH absolviert hatte, bei der Entscheidung berücksichtigt.

HSVH-Trainer seien heute hochsensibel

Die Konsequenzen. Ein Jahr danach habe der HSVH viel aus dem Fall gelernt, heißt es im Gespräch. Alle Trainer des Vereins seien hochsensibel, schon bei einem dummen Spruch in einer Jugendmannschaft führe man nun Telefonate mit Eltern. In einem Fall sei es zudem bereits zu einem zweitägigen Trainingsverbot und einer Ansage vor der gesamten Mannschaft gekommen.

Zu Beginn jeder Saison gebe es zudem für jede Nachwuchsmannschaft einen Präventionsworkshop zum Thema sexuelle Gewalt. Auch der Hamburger Handball-Verband hat diese Maßnahme infolge einer Erweiterung des Kinderschutzkonzeptes getroffen sowie nun männliche und weibliche Ansprechpartner für mögliche vergleichbare Vorfälle benannt. Zudem müsse jeder Spieler offizielle Verhaltensregeln unterschreiben.

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Trainingslager-Fahrten mit allen Jugendteams wird es beim HSVH künftig nicht mehr geben, schon gar nicht zur Trainingsanlage in Südjütland. Die für dieses Jahr geplante Ausfahrt sagte der Verein ab. Über die E-Mail-Adresse kinderschutz@hamburg-handball.de nimmt der HSVH auch anonyme Hinweise, Sorgen und Verdachtsfälle zum Thema Kinder- und Jugendschutz entgegen.

Die vier Beschuldigten, die die Maßnahmen durchlaufen und Anfang des Jahres in die U15 zurückkehren durften, spielen noch heute beim HSVH. Ihr Team ist derzeit Tabellenführer. Die zwei Beschuldigten, die während des Aufarbeitungsprozesses zu anderen Vereinen gewechselt sind, sind bei ihren neuen Clubs ebenfalls noch aktiv.

Auch Jan spielt weiter Handball, bei seinem neuen Club.