Ahrensburg. Stress, Hektik, familiäre Konflikte und überbordender Medienkonsum – wie der Kreis Stormarn präventiv gegensteuern will.
Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden bundesweit unter psychischen Gesundheitsproblemen. Es sind bei weitem nicht nur die Nachwirkungen der Corona-Pandemie, die den Fachleuten Sorgen bereiten. Wenngleich der Ausnahmezustand in den vergangenen Jahren die Tendenz zweifellos verstärkt hat. Das zeigt sich auch in Stormarn an wachsenden Fallzahlen. Diesem brisanten Thema will sich der Fachbereich Jugend und Schule der Kreisverwaltung jetzt mit einer Initiative annehmen. „Wir wollen ein Präventionsprojekt anschieben, um psychische Gesundheitsprobleme frühzeitig erkennen und behandeln zu können, bevor sie chronisch werden“, sagt Fachbereichsleiter Carsten Reichentrog.
9300 Fälle im Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch
Die Zahlen sind alarmierend. Immer mehr Kinder und Jugendliche müssen aufgrund psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen stationär behandelt werden. Waren es im Jahr 2011 bundesweit noch etwa 75.200 der Zehn- bis 17-Jährigen, so stieg die Zahl im Vor-Corona-Jahr 2019 auf 83.900.
Immer öfter werden in dieser Altersgruppe vor allem Depressionen diagnostiziert. Im Jahr 2021 waren davon mehr als 21.900 Jugendliche betroffen. Allein 9300 Behandlungsfälle standen im Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch. Mehr als 7700 Behandlungsfälle wurden auf Anpassungsstörungen zurückgeführt, hervorgerufen durch das Eintreten außergewöhnlich belastender Lebensumstände.
Versorgungslage für Kinder und Jugendliche ist desolat
Zahlen der Fachklinik Junges Leben „JuLe“ in Lübeck, die auf Kinder- und Jugendpsychiatrie spezialisiert ist und seit 1987 unter anderem Betroffene aus dem Kreis Stormarn versorgt, bestätigen den beunruhigenden Trend. Die mehr als 500 Behandlungsfälle im Vorjahr bedeuteten einen absoluten Spitzenwert innerhalb der vergangenen fünf Jahre. Davon entfielen rund 150 auf Stormarn.
Eine „mittelgradige depressive Episode“ wird im „JuLe“ seit Jahren mit Abstand am häufigsten diagnostiziert. Pro Woche würden zudem bis zu vier akut suizidgefährdete Jugendliche in der Notaufnahme landen, in der Mehrzahl Mädchen.
„Im Schnitt vier solcher Fälle in der Woche verzeichnen auch unsere Beratungsstellen“, berichtete Psychologe Christoph Haberer, Vertreter der evangelischen Kirche im Jugendhilfeausschuss des Kreises. Die vorhandenen Kapazitäten an Fachpersonal in Stormarn seien völlig unzureichend. „Im Grunde ist die Versorgungslage für Kinder und Jugendliche noch desolater als für Erwachsene“, so Haberers Befund.
Auch immer mehr Lehrkräfte leiden unter Depressionen
In den Corona-Jahren hat sich die Situation deutlich verschärft. Während der Pandemie beklagten laut einer Studie bis zu 47,7 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen eine geminderte Lebensqualität. Bis zu 30 Prozent sprachen von Angstsymptomen, bis zu 15 Prozent wurden von Depressionen geplagt.
„Vor zehn Jahren war das alles noch ein Tabuthema“, sagt Jörg Schumacher, Geschäftsführer Stiftungen der Sparkasse Holstein. Nun sei es aber höchste Zeit, sich dem Problem mit einem auf Prävention ausgerichteten Projekt anzunehmen. Zumal inzwischen auch der Anteil von Lehrkräften mit depressiven Erkrankungen zwischen 20 und 40 Prozent liege. „Die Sparkassen-Stiftungen haben die Initiative deshalb nicht nur angestoßen, sondern werden sie auch intensiv begleiten“, so Schumacher.
Permanente Erreichbarkeit führt zu Suchtverhalten
Psychische Erkrankungen und auffällige Verhaltensstörungen können sich auch in massiven Ess- und Schlafstörungen, innerer Unruhe und weiteren Belastungsformen manifestieren. In jedem Fall beeinträchtigen sie das individuelle Wohlbefinden in erheblichem Maße und wirken sich dadurch zugleich negativ auf die Entwicklung der Betroffenen aus.
Die Ursachen sind komplex und vielfältig. Für Stress und Hektik sorgen nicht nur hohe Anforderungen und Leistungsdruck in der Schule. Einen ständig größer werdenden Faktor stellt der überbordende Medienkonsum dar. Digitale Endgeräte wie Smartphones, Tablets und Laptops führen in Verbindung mit sozialen Netzwerken zu einer permanenten Erreichbarkeit und münden allzu oft in ein schädliches, kaum noch kontrollierbares Suchtverhalten.
Emotionale Belastung bis zur sozialen Isolation
Hinzu kommen familiäre Konflikte, bedingt durch Beziehungsprobleme der Eltern mit offen ausgetragenem Streit oder gar deren Trennung, sowie schwere Erkrankungen anderer Familienmitglieder. „Das kann neben einer erhöhten emotionalen Belastung sogar zur sozialen Isolation führen, wenn die Kinder infolge der Auseinandersetzungen zwischen den Eltern immer weniger Zuwendung erfahren“, sagt Sabrina Krannich vom Fachdienst Soziale Dienste der Kreisverwaltung.
Unterdessen können ebenso traumatische Erfahrungen wie sexueller Missbrauch, körperliche Gewalt, Unfälle, Naturkatastrophen oder eben Pandemien zu Belastungsstörungen und anderen psychischen Erkrankungen führen, die das Aufwachsen von Kindern überschatten. „Durch unterschiedliche Lebensbedingungen, Kompetenzen und Ressourcen bringen sie auch unterschiedliche individuelle Voraussetzungen im Umgang mit schwierigen Bedingungen und Lebensphasen mit“, weiß Krannich.
Auch interessant
- Schlimme Zustände in Kita Kunterbunt Reinbek: Politik trifft Entscheidung
- Alfa Laval verlässt Glinde – Stadt ist nicht mehr gut genug
- „Energieverschwendung“: Glinder Schwimmhalle soll abgerissen werden
Ein zentrales Ziel des Projekts „Depressionen – Psychische Belastungen und Erkrankungen in Familien“ sei es, bereits bestehende präventive Angebote und Maßnahmen in enger Zusammenarbeit mit der Arbeiterwohlfahrt (Awo), dem Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen SH (IQSH) und der Südstormarner Vereinigung für Sozialarbeit (SVS) in Kitas und Schulen noch bekannter zu machen.
In der Auftaktphase soll insbesondere an das bereits bestehende Präventionsprogramm der Awo „Beherzt“ angeknüpft werden. Später sollen dann weitere Projekte wie „MindMatters“ vom IQSH, „Verrückt? Na und!“ des Vereins Irrsinnig Menschlich und die „Lesereisen“ der Eheleute-Schmöger-Stiftung verstärkt eingebunden werden. Große Hoffnungen werden zudem mit einem Kampagnenfilm verknüpft, der im Spätsommer dieses Jahres für knapp 9000 Euro entstehen soll.