Hamburg. Handballer des HSV Hamburg verlor vor dem Lizenz-Drama seinen Vater. Wie er neue Hoffnung schöpft – und seine sportliche Zukunft sieht.

Es ist 20.22 Uhr am Montagabend, als sich Casper Mortensen auf den Balkon seiner Altbauwohnung in Rotherbaum setzt und tief durchatmet. Kurz zuvor hat der Linksaußen des HSV Hamburg (HSVH) seinen Sohn Carlo (1) ins Bett gebracht, dann gibt er einen tiefen Einblick in das Gefühlschaos, das ihn seit dem 22. April begleitet. „Die vergangenen drei Wochen waren die schwersten in meinem Leben“, sagt Mortensen gleich zu Beginn des Gesprächs mit dem Abendblatt.

Erst eine Stunde zuvor war der 34-Jährige aus Kopenhagen zurückgekehrt, wo er in den vergangenen Tagen nicht nur seinen Vater Lars beerdigen, sondern auch das Drama des HSVH um die Handball-Bundesligalizenz verarbeiten musste und ganz nebenbei auch noch sein lang ersehntes Comeback in der dänischen Nationalmannschaft gab. Abgesehen vom kurzen Moment auf dem Balkon bleibt ihm auch weiterhin keine Zeit zum Durchatmen, bereits an diesem Mittwochabend (19 Uhr/Dyn) empfängt Mortensen mit dem HSVH die SG Flensburg-Handewitt in der Barclays Arena.

Handball: HSVH-Profi Mortensen trauert um seinen Vater

Aber der Reihe nach. Es war der Abend des 22. April, dem Tag nach dem 33:33-Remis gegen den VfL Gummersbach, als auf seinem Handy die Nummer seiner Mutter aufleuchtete. „Es war ein Tag wie jeder andere, bis abends ein Blitz vom klaren Himmel einschlug“, schrieb Mortensen vor wenigen Tagen auf Instagram über den plötzlichen Tod seines Vaters. Kurz nach dem Anruf setzte er sich ins Auto, fuhr zu seiner Mutter nach Kopenhagen.

„Die Leute, die mich richtig gut kennen, wissen, welche riesige Rolle mein Vater in meiner Karriere gespielt hat. Ohne ihn wäre ich niemals so weit gekommen“, sagt der Däne mit zittriger Stimme. Lars Ulrich Mortensen war zweieinhalb Jahre Marketingchef beim FC Kopenhagen, dreieinhalb Jahre Pressesprecher beim dänischen Verband, hoch angesehener Handballtrainer, sein größter Unterstützer – aber vor allem sein Papa. Champions-League-Sieger, Olympiasieger, zweifacher Bundesliga-Torschützenkönig – all das wäre er wohl nie ohne seinen Vater geworden, sagt Mortensen. Auch als er im Sommer 2021 zum zweiten Mal in seiner Karriere an der Elbe unterschrieb, war sein Vater bei der Vorstellungs-Pressekonferenz dabei.

Trainer Jansen und der HSVH reagierten verständnisvoll

„Toto (Trainer Torsten Jansen, d. Red), meine Mitspieler und der gesamte Verein haben volles Verständnis dafür, dass ich in den vergangenen Wochen sehr viel in Kopenhagen war, um für meine Mutter da zu sein und um mich von meinem Vater zu verabschieden“, sagt der Rechtshänder, der die 26:35-Auswärtspleite beim TVB Stuttgart (28. April) verpasste, am 2. Mai beim 32:30-Sieg gegen den Bergischen HC aber wieder in der Sporthalle Hamburg für den HSVH auflief.

Am Tag darauf fuhr er zurück nach Kopenhagen – und bekam einen Anruf von Dänemarks Nationaltrainer Nikolaj Jacobsen. Drei Jahre hatte Mortensen vergeblich auf diesen Anruf gewartet. Doch nun, als der Moment durch die verletzungsbedingte Absage von Positionskonkurrent Magnus Landin (THW Kiel) gekommen war, zögerte Mortensen. Es war der Tag vor der Beerdigung.

Mortensen zögerte, ob er zur Nationalmannschaft reisen soll

„Ich war mir erst nicht sicher, ob ich die Einladung annehmen soll. Erst am Tag nach der Beerdigung hatte ich das Gefühl, dass es die richtige Entscheidung sein würde, zum Team zu reisen. Handball war immer die größte Leidenschaft meines Vaters. Meine Mutter und ich waren uns sicher, dass er gewollt hätte, dass ich hinfahre“, sagt Mortensen. An den Vormittagen trainierte er in der Regel mit dem Nationalteam, dann fuhr er zu seiner 20 Autominuten entfernt lebenden Mutter, um den Nachmittag mit ihr zu verbringen.

Inmitten dieses Gefühlschaos mischte sich am Nachmittag des 3. Mai auch noch die Nachricht, dass dem HSVH die Bundesligalizenz für die kommende Saison verwehrt wird, weil eine Liquiditätslücke von 4,1 Millionen Euro aus Sicht der Liga erst eine Stunde nach Fristablauf geschlossen war. Obwohl Mortensen und seine Mitspieler damit nach aktuellem Stand ab Sommer arbeitslos wären, beschäftigten ihn an jenem Freitag andere Themen. „Als ich von der schlechten Lizenz-Nachricht gehört habe, war ich einerseits natürlich schockiert, andererseits hatte ich in dem Moment auch ganz andere Probleme. Ich musste meinen Vater am nächsten Tag beerdigen. Da ist der Sport nur zweitrangig“, sagt er.

Mortensen war bereits beim Aus des HSV Handball 2016 dabei

Wie sich ein Lizenzentzug in Hamburg anfühlt, weiß Mortensen aus eigener Erfahrung. „Natürlich war ich in der Saison 2015/16 auch schon hier, als es schiefging. Man kann die jetzige Situation aber nicht mit der damaligen vergleichen, der Verein ist völlig anders aufgebaut“, sagt der erfahrene Profi. Tatsächlich unterscheiden sich die Situationen grundlegend, eine Insolvenz wie beim damaligen HSV Handball liegt nicht vor. Ganz im Gegenteil: Durch die 4,1 Millionen Euro von Geldgeber Philipp Müller ist der HSVH finanziell so gut aufgestellt wie noch nie. Noch bis Ende des Monats soll das Schiedsgericht der Liga entscheiden, wie mit dem verspäteten Zahlungseingang umgegangen wird. Eine Rettung des Vereins ist nicht ausgeschlossen, aber genauso wenig garantiert.

„Ich bin Sportler und konzentriere mich auf die Dinge, die ich beeinflussen kann. Ich habe auch das Gefühl, dass die Mannschaft die Situation auf der Platte gut ausblenden kann“, sagt Mortensen. Zwar habe er nicht mit jedem einzelnen Spieler aus dem Kader gesprochen, sagt er, „trotzdem habe ich das Gefühl, dass alle jetzt erst einmal abwarten. Wir alle lieben Hamburg und den Verein.“

Mortensen will zurzeit nicht mit anderen Vereinen sprechen

Auf eine Zukunft beim HSVH zu hoffen und gleichzeitig alle möglichen Optionen zu prüfen, schließe sich nicht aus. „Ich würde lügen, wenn ich sage, dass die unklare Situation zu Hause bei meiner Familie kein Thema ist. Natürlich spreche ich mit meiner Frau über mögliche Szenarien. Alles andere wäre auch naiv, wir haben als Eltern eine Verantwortung. Und mein Job ist da ein wichtiger Bestandteil“, sagt Mortensen, der in Hamburg einen Vertrag bis Sommer 2026 mit Option auf ein weiteres Jahr besitzt. „Aktiv mit anderen Vereinen spreche ich momentan aber auf gar keinen Fall. Ich habe auch meinem Berater mitgeteilt, dass ich das nicht will.“

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An diesem Mittwoch steht zunächst einmal eines der Spiele an, für die Mortensen Profi geworden ist. Ein Nordduell gegen Flensburg, rund 9000 Fans in der Barclays Arena, die ganz große Bühne. 997 Bundesligatore hat Mortensen bereits geworden, gegen Flensburg will er das Jubiläum schaffen: „Mit dem 1000. Bundesligator will ich meinen Vater ehren und mich bei ihm bedanken. Dass es ausgerechnet in der Barclays Arena passieren kann, freut mich besonders, weil das seine absolute Lieblingshalle war“, sagt er.

Auch Vater Lars dürfte also von oben hoffen, dass es nicht das letzte Heimspiel in der Barclays Arena wird.