Hamburg. “Erschreckende Studien“: Wie Spieler des HSV Hamburg mit Ibuprofen und Co. umgehen und welche Gefahren bei Missbrauch lauern.

Vor rund drei Monaten hat es Manuel Späth erwischt. Nach mehr als 500 Spielen in der Handball-Bundesliga, vier EHF-Cup-Titeln mit Frisch Auf Göppingen sowie 40 Länderspielen für Deutschland hatte der Kreisläufer seine Profikarriere im vergangenen Sommer beim HSV Hamburg (HSVH) beendet, seitdem bei Fünftligist HSG Ostfildern, nahe seiner Heimatstadt Esslingen, damit begonnen, die Laufbahn ausklingen zu lassen. Nun macht den 37-Jährigen seit etlichen Wochen ein Bandscheibenvorfall zum unfreiwilligen Zuschauer.

„Da wir den Aufstieg schon geschafft haben, werde ich erst wieder in der Sommervorbereitung einsteigen“, sagt Späth, als ihn das Abendblatt erreicht. Der Handball ist für den zweifachen Familienvater mittlerweile etwas in den Hintergrund gerückt. Späth spricht am Telefon über sein neues Leben, den neuen Vollzeitjob seiner Frau Vanessa, die Energiekosten und fehlenden Wasserflächen für den Schwimmsportverein Esslingen, den er seit September 2022 als Vereinsmanager leitet.

Handball: Manuel Späth verpasste kaum ein Profispiel

Das Gefühl, über einen längeren Zeitraum verletzt zu sein, kannte Späth bisher noch nicht. In 16 Jahren Profihandball verpasste er lediglich drei Spiele – zwei wegen der Geburten seiner Töchter, ein weiteres in seiner letzten Profisaison wegen einer gebrochenen Nase.

„Ich bin ein Mensch, der vielleicht ein nicht ganz so hohes Schmerzempfinden hat und auch mal auf die Zähne beißen kann“, sagt Späth. „Ich hatte in meiner Karriere grundsätzlich viel Glück, was meine Gesundheit betrifft. Natürlich gab es aber auch Spiele, in denen ich auf die Zähne beißen musste und zur Schmerzlinderung eine Schmerztablette genommen habe.“

54,2 Prozent aller Fußballprofis nehmen Schmerzmittel

Laut einer am 10. März im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichen Studie ist Späth bei Weitem nicht der einzige Profisportler, der in seiner Karriere Schmerztabletten konsumiert hat. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass „die Schmerzmitteleinnahme in vielen Bereichen des Profi-/Leistungssports zu einem Problem geworden ist“.

So nehmen beispielsweise 54,2 Prozent aller Profifußballer Schmerzmittel, im Profitennis liegt der Wert bei nur 2,8 Prozent. Häufig würden Schmerzmittel „prophylaktisch und ohne Vorliegen von Beschwerden eingenommen“, heißt es weiter in der Literaturrecherche der Köln-Koblenzer Forschungsgruppe um Prof. Dieter Leyk, in der die Daten von mehr als 6000 Studien ausgewertet wurden.

HSVH-Mannschaftsarzt: "Erschreckende Studien"

Im Profihandball liegt die Quote der Schmerzmittelnutzer sogar bei deutlich über 60 Prozent, wie verschiedene andere Studien belegen. Dies ergaben unter anderem Schmerzmittelrückstände in Dopingproben. Auf der Dopingliste der Welt-Antidoping-Agentur (Wada) stehen die Mittel nicht. „Die Studien, die zum Thema Schmerzmittelkonsum existieren, sind erschreckend. Wir haben im Sport allgemein ein brennendes Problem“, sagt Prof. Dr. Michael Hoffmann, Mannschaftsarzt bei Hamburgs Bundesligahandballern.

Auch HSVH-Kapitän Niklas Weller stellt klar, dass Schmerzmittel im Handball normal sind. „Handball ist ein Kontaktsport. Die meisten Handballer nehmen bei akuten Problemen regelmäßig Schmerztabletten. Das muss man nicht verschweigen. Ich kenne fast niemanden, der komplett darauf verzichtet“, sagt der Hamburger Kreisläufer. „Im Schnitt nehmen vielleicht zwei oder drei unserer Spieler verletzungsbedingt vor einer Bundesligapartie eine Schmerztablette.“ Gerade auf Späths und Wellers Kreisläuferposition ist das Spiel besonders körperlich, Schmerzen gehören zur Tagesordnung.

"Irgendwann fängt man an, Blut zu spucken"

HSVH-Arzt Hoffmann zieht die Augenbrauen nach oben, als er zu einem Kurzvortrag über die Gefahren von Schmerzmitteln ansetzt. „Die rezeptfreien Schmerzmittel Ibuprofen, Diclofenac und Acetylsalicylsäure haben erhebliche Nebenwirkungen“, erklärt Hoffmann. „ASS ist beispielsweise blutverdünnend, kann zu Blutungen im Magenbereich oder bei einem schweren Sturz auch zu Blutungen im Hirnbereich führen. Ibuprofen greift bei chronischer Einnahme die Nieren und die Magenschleimhaut an. Man fängt dann irgendwann an, Blut zu spucken, oder hat Blut im Stuhl.“

Darüber lasse die Wirkung bei Ibuprofen irgendwann nach, weil sich der Körper daran gewöhne. Die Folge: Man muss im Ernstfall noch mehr nehmen, um eine Wirkung zu erzielen. Das Risiko für einen plötzlichen Herzstillstand steige darüber hinaus bei regelmäßiger Ibuprofen-Einnahme um das 30-Fache, bei Diclofenac wohl sogar um das 60-Fache.

Ivan Klasnic hatte drei Nierentransplantationen

Welche Folgen chronischer Schmerzmittelkonsum haben kann, zeigt der Fall Ivan Klasnic. Er sei „toxisch vergiftet“ worden, sagte der Ex-Fußballprofi vom FC St. Pauli und Werder Bremen einmal. Die Medikamente machten seine Nieren kaputt, es folgten drei Transplantationen. 2020 endete ein Rechtsstreit mit seinen ehemaligen Ärzten mit einem Vergleich.

Niklas Weller und Manuel Späth beteuern, in ihren Karrieren nie dauerhaft zu Schmerzmitteln gegriffen zu haben. „Ich persönlich achte darauf, nur etwas zu nehmen, wenn ich wirklich akute Schmerzen habe, die über das normale Maß hinausgehen. Man hat als Handballer und gerade als Kreisläufer immer mal wieder Probleme, die einen auch langfristig begleiten“, sagt Weller und stellt klar: „Man darf nicht den Punkt überschreiten, automatisch vor jedem Spiel eine Schmerztablette zur Vorbeugung zu nehmen. Das ist der Punkt, an dem es meiner Meinung nach richtig gefährlich wird.“ Das alles: vorbildlich.

Manche Trainer haben kein Verständnis für Verletzungen

Dem Abendblatt sind jedoch auch die konkreten Namen mehrerer Handball-Bundesligateams bekannt, in denen in der Vergangenheit überdurchschnittlich oft zu Schmerzmitteln gegriffen wurde.

Insbesondere ein Trainer, der bis 2020 für verschiedene Bundesligisten arbeitete, habe oft wenig Verständnis für die medizinische Abteilung gehabt, berichtet ein Ex-Spieler. So habe dieser Trainer regelmäßig Diskussionen über die Ausfallzeiten verletzter Spieler geführt, die Meinung der Ärzte nicht respektiert. Irgendwann habe sich eine Dynamik entwickelt, dass weite Teile der Mannschaft prophylaktisch vor jedem Spiel zu einer Tablette griffen.

Ein prophylaktischer Schmerzmittelkonsum ist besonders gefährlich

Insbesondere die vorbeugende Einnahme berge große Gefahren, betont Hoffmann. Zwar beinhalten Ibuprofen und Co. keine körperlich abhängig machenden Suchtstoffe, eine auf Gewohnheit basierende Abhängigkeit könne aber schnell entstehen. „Die Hemmschwelle ist gering, weil Ibuprofen frei verfügbar ist. Das sind aber keine Smarties“, sagt der HSVH-Arzt. „Regelmäßige Schmerzmitteleinnahme hat auch eine psychologische Komponente. Angst und Leistungsdruck spielen da eine große Rolle.“

Manuel Späth absolvierte mehr als 500 Bundesligaspiele.
Manuel Späth absolvierte mehr als 500 Bundesligaspiele. © WITTERS | ValeriaWitters

Weller und Späth kennen das. „Es gibt Trainer, die auf die medizinische Abteilung Druck ausüben, dass Spieler spielen müssen“, sagt Späth. „In den vergangenen Jahren ist das Verständnis der Trainer für die Ärzte aber deutlich besser geworden. Vor allem in Hamburg hatte ich das Gefühl, dass der Verein sehr verantwortungsvoll mit dem Thema umgeht.“

Hoher Leistungsdruck im Profihandball

Insbesondere im Profisport herrsche ein enormer Leistungsdruck, weshalb schneller zu Tabletten gegriffen werde. „Man will in der Bundesliga immer spielen. Da geht es um den eigenen Beruf, den Erfolg der Mannschaft, die Erwartungen der Fans. Vor wichtigen Spielen habe ich auch schon mal eine Schmerztablette genommen, wenn ich Blessuren hatte“, gibt Späth zu. Der 29 Jahre alte Weller ergänzt: „Es gibt einfach diesen natürlichen Druck, der in der Bundesliga ganz normal ist. Wer nicht spielt, kann sich nicht für einen neuen Vertrag empfehlen.“

Auch Dynamiken innerhalb eines Teams könnten die Hemmschwelle senken, glauben sie. „Wenn der Physiotherapeut gerade mit Schmerztabletten durch die Kabine läuft und es gerade irgendwo zwickt, ist man eventuell schneller dazu geneigt, eine zu nehmen“, sagt Späth.

Leichtfertiger Umgang in unteren Ligen

Die beiden ehemaligen HSVH-Kollegen wissen aus eigener Erfahrung auch genau, dass in unteren Ligen trotz des geringeren Leistungsdrucks oft noch leichtfertiger mit Schmerzmitteln umgegangen wird. „Ich sehe die Gefahr durch Schmerztabletten beispielsweise in der Vierten Liga als noch größer an. Wir haben den Vorteil, dass wir als Bundesligateam eine durchgängige Betreuung durch Physiotherapeuten und Ärzte haben“, sagt Weller, der vor seinem Wechsel zum HSVH unter anderem beim TSV Ellerbek auf Viertliganiveau aktiv war. „Auch in der Oberliga wird viel und hart trainiert. Da kommt es häufiger vor, dass Spieler zu Schmerzmitteln greifen, weil sie für jeden verfügbar sind“, sagt er.

Dass der Sport im gehobenen Amateurbereich nur ein Hobby ist, dürfe man nicht vergessen. „In der Vierten Liga gibt es keine Teamärzte als ständige Ansprechpartner. Dort gibt es insbesondere ein Aufklärungsproblem. Zusätzlich sind die Spieler dort nebenbei noch berufstätig, haben noch weniger Regenerationszeit“, sagt Hoffmann.

HSVH betont verantwortungsvollen Umgang

Beim HSVH, betonen alle Akteure, werde verantwortungsvoll mit Schmerzmitteln umgegangen. „Wir sprechen alle Verletzungen, die über Husten und Schnupfen hinausgehen, mit unseren Physiotherapeuten und Ärzten ab. Darüber bekommen wir dann die Rezepte und Medikamente. Abgesehen davon ist die klare Maßgabe, nur dann Schmerzmittel zu nehmen, wenn der Arzt uns dafür grünes Licht gibt“, sagt Weller.

Hoffmann ergänzt: „Meine Aufgabe als Teamarzt ist, klare Kriterien bei der Einnahme von Schmerzmitteln festzulegen. Eine prophylaktische Einnahme von Schmerzmitteln darf keine Option sein. Davon kann man jedem Sportler nur abraten.“

Trainerteam des HSV Hamburg hat Verständnis für medizinische Themen

Darüber hinaus habe das Trainerduo Torsten Jansen und Blazenko Lackovic großes Verständnis für die medizinische Abteilung. „Toto und Blazenko sind für medizinische Themen immer sehr zugänglich, auch wenn es ständig den Druck gibt, dass alle Spieler und insbesondere Leistungsträger fit sein sollen. Wir wollen unsere Spieler dennoch schützen“, sagt Hoffmann.

Prophylaktische Schmerzmitteleinnahme spiele im aktuellen Team keine Rolle, ergänzt er. „Wir haben aber natürlich immer wieder Sportler, die akute Schmerzen haben. In diesen Fällen ist die zeitlich begrenzte Einnahme völlig in Ordnung, weil Schmerzmittel neben der schmerzlindernden Komponente auch entzündungshemmend sind.“

Eine Aufklärung über die Gefahren finde vor allem in der breiten Gesellschaft zu wenig statt, meint Weller: „Ich habe das Gefühl, dass die gesamte Gesellschaft sehr locker mit Schmerzmitteln umgeht. Da nimmt man bei leichten Kopfschmerzen schnell eine Tablette, anstatt ein Glas Wasser zu trinken und sich eine Stunde lang hinzulegen. Dieser leichtfertige Umgang überträgt sich dann teilweise auch auf den Sport“, sagt der Kreisläufer.

Auch der Deutsche Handballbund (DHB) hat die Problematik mittlerweile erkannt. Im Jahr 2021 bekam der DHB vom Bundesinstitut für Sportwissenschaften die Finanzierung einer dreijährigen Studie zum Thema Schmerzmittelkonsum im Handball bewilligt. Die Ergebnisse lassen sich bereits erahnen.