Hamburg. St. Paulis Kapitän spricht im Derbyinterview über seine 60 Tattoos, das Mojo, klingelnde Zwölfjährige und seinen Zweitjob als Verkäufer.

Frisch geduscht und mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen kommt Jackson Irvine in den Besprechungsraum des FC St. Pauli im Trainingszen­trum an der Kollaustraße. „Cheers, guys“, sagt der Australier zur Begrüßung.

Die Haare: blondiert. Die Fingernägel: schwarz. An den Armen sind jede Menge Tattoos zu sehen. Jackson Alexander Ir­vine, 31 Jahre alt, hat seinen eigenen Stil. Auf und abseits des Platzes. Der Fußballprofi hat in Melbourne Fußball gespielt, im schottischen Glasgow, in Kilmarnock, in Ross County und in Burton. In Hull war er zwischendurch mal arbeitslos und trainierte alleine im Park. Dann wechselte er nach Edinburgh – und fand schließlich sein großes Glück beim FC St. Pauli.

Bei Tinder wären Irvine und St. Pauli das perfekte Match

Wenn Profifußball Tinder wäre, dann wären Irvine und St. Pauli das perfekte Match. Hier der linksalternative Stadtteilclub, dort der ganzkörpertätowierte Aussie mit dem Oberlippenbart. Irvine spielt nicht nur bei St. Pauli, er wohnt auf St. Pauli, er lebt St. Pauli – und mit St. Pauli will er nun endlich aufsteigen. Am liebsten an diesem Freitag (18.30 Uhr/live auf Sky), ausgerechnet im Stadtderby gegen den HSV im Volksparkstadion. Es wäre ein geschichtsträchtiger Erfolg für den FC St. Pauli – und für seinen Kapitän. Und Irvine? Zuckt mit den Schultern, grinst – und sagt, dass er heute Abend noch mit Freunden zum Grillen verabredet sei.

Hamburger Abendblatt: Herr Irvine, werden Sie sich Ihre Nägel noch extra vor dem Derby neu lackieren?

Jackson Irvine: Unbedingt. Der Lack ist schon ein bisschen ab, da muss ich vor Freitagabend auf jeden Fall ran.

Wie immer in Schwarz? Oder möglicherweise in Braun-Weiß zur Feier des Tages?

(lacht) Das ist gar keine schlechte Idee. Da muss ich mal drüber nachdenken.

Wollen Sie mit Ihren lackierten Fingernägeln ein Statement setzen?

Überhaupt nicht. Wenn ich ehrlich bin: Das ist einfach Fashion. Mir gefällt’s.

Unabhängig von Ihren Fingernägeln: Ist das Derbygefühl schon da?

Klar. Die ganze Woche fühlt sich schon besonders an. Das Wetter ist besser, die Leute sind draußen, und natürlich ist das Hauptthema in diesen Tagen das Derby.

Sie wohnen mitten auf St. Pauli. Werden Sie in diesen Tagen mehr als sonst angesprochen?

Schon. Es ist eine besondere Woche – für mich, für den Club und für das ganze Viertel. Erst der wichtige Sieg gegen Hansa Rostock, der für unser Gefühl extrem wichtig war. Und nun das Stadtderby. Viel mehr geht nicht.

Sie waren bei einer Weltmeisterschaft, haben gegen Messi gespielt. Ist dieses Derby am Freitag, mit der Möglichkeit, ausgerechnet gegen den HSV im Volksparkstadion drei Spieltage vor Schluss aufzusteigen, trotzdem Ihr bisheriges Karrierehighlight?

Man kann eine WM und die Liga nicht wirklich vergleichen, aber es fühlt sich alles sehr, sehr besonders an. Das merkt man, wenn man durch die Straßen geht, in ein Café, in eine Bar. Überall ist ein besonderer Vibe in der Stadt – oder zumindest bei uns im Viertel auf St. Pauli.

Jackson Irvine will sich vom Hype nicht ablenken lassen

Aber wir lassen uns von diesem Hype auch nicht ablenken. Das Training eben gerade war beispielsweise eines der intensivsten der vergangenen zwei Monate. Jeder ist fokussiert, jeder ist heiß. Aber in einer guten Art und Weise.

Sollte am Freitag alles nach Plan laufen, wie sieht dann der Plan für die Nacht aus?

Natürlich träumt man als Spieler von solchen Spielen und von solchen Abenden. Dafür spielt man Fußball. Aber noch mal: Wir haben es bislang in der Saison gut geschafft, uns trotz aller Rechnereien immer wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und damit werden wir ausgerechnet jetzt nicht aufhören.

Sorry, dass wir hartnäckig sein müssen: Als Kapitän wären Sie aber schon für die Feierlichkeiten zuständig, oder?

Die Verantwortung würde ich gerne übernehmen. Und ich bin mir sicher, dass wir da auch was Gutes hinbekommen würden. Allerdings musste ich meiner Freundin auch versprechen, dass – egal, was am Freitagabend im Volkspark passiert – ich am Sonnabend pünktlich morgens in ihrem Pop-up-Laden an der Marktstraße stehe und Klamotten verkaufe.

Das klingt brutal.

(lacht) Na ja, ich werde noch mal mit ihr sprechen, dass ich vielleicht nicht unbedingt um 9 Uhr auf der Matte stehen muss. Aber versprochen ist versprochen.

Nicht nur auf der Marktstraße dürfte Sie jeder kennen. Genießen Sie es, im Viertel die ganze Zeit erkannt zu werden?

Eigentlich ist es auf St. Pauli ziemlich entspannt. Was lustig ist: Während der Saison wurde ich eigentlich gar nicht so viel an­gesprochen. Natürlich wird man nach einem guten Spiel mal beglückwünscht, der eine fragt mal nach einem Selfie, der andere nach einem Autogramm. Aber im Großen und Ganzen war das in all den ganzen Monaten immer sehr entspannt. Aber in den vergangenen Tagen war das anders – da gab es viel Feedback auf der Straße.

Sieg gegen Rostock hatte eine besondere Bedeutung

Ich hatte ein paar Freunde aus England zu Besuch, und wir waren am Sonnabend und am Sonntagabend auf St. Pauli ein wenig unterwegs – und da wurden wir überall angesprochen. Man merkt einfach, wie viel dieser Sieg gegen Rostock den Fans bedeutet hat. Man sieht es in ihren Augen und man merkt, dass sie dieses Gefühl der Glückseligkeit mit einem teilen wollen. Das ist doch schön.

Gehen Sie nach einem Heimspiel wie gegen Hansa Rostock zu Fuß nach Hause?

Natürlich. Und das bringt dann ja auch Spaß. Hier wird einem zugeprostet, dort wird sogar mal applaudiert. Das ist nichts, was unangenehm ist. Es ist eine Form der Anerkennung.

Und dann trinken Sie noch ein gemeinsames Bier im Jolly Roger?

In meiner ersten Saison bei St. Pauli habe ich das tatsächlich ab und an gemacht. Der große Vorteil: Zahlen muss ich mein Bier hier nie selbst (lacht). Aber wenn es zu voll vor dem Jolly Roger ist, dann muss ich mich nach dem Spiel dann doch nicht ins Getümmel schmeißen.

Steht an Ihrer Hausklingel Ihr echter Name?

Ja. Aber erst einmal haben Fans wirklich geklingelt. Ich habe aufgemacht, weil ich dachte, dass ein Paketbote etwas bringen will. Dann hörte ich ein Flüstern im Treppenhaus. Und plötzlich standen zwei schüchterne Zwölfjährige vor mir, die ein Autogramm wollten.

Haben sie es bekommen?

Selbstverständlich. Ich fand das überhaupt nicht schlimm. Und es klingeln ja nicht jeden Tag Fans.

Vor einem Jahr verloren Jackson Irvine (r.) gegen Jean-Luc Dompé und den HSV mit 3:4 im Volkspark.
Vor einem Jahr verloren Jackson Irvine (r.) gegen Jean-Luc Dompé und den HSV mit 3:4 im Volkspark. © Witters | Leonie Horky

Man hat das Gefühl, dass Sie und St. Pauli wie Arsch auf Eimer passen…

Das stimmt. Wenn ich nicht für den FC St. Pauli spielen würde, dann würde ich in Hamburg vermutlich trotzdem auf St. Pauli wohnen. Ich liebe das Viertel. Ich gehe gerne ins Molotow und ins Mojo. Vergangene Woche war ich im Uebel und Gefährlich bei einem Indie-Pop-Konzert. Yard Act. War sehr cool. Im Bunker lege ich sogar selbst einmal im Monat als Aushilfs-DJ auf.

Brauchen Sie das Leben außerhalb des Fußballs, um ein besserer Fußballer zu sein?

Unbedingt. Ich kann auf dem Platz nur funktionieren, wenn es mir auch außerhalb des Platzes gut geht. Ich brauche Musik, Kunst, Freunde – ich brauche dieses Leben außerhalb des Profifußballs. Und gerade auf St. Pauli finde ich genau dieses Leben. Ich mag die Musikclubs hier, die Kunstszene und auch das Gefühl, dass ich mich politisch hier gut aufgehoben fühle.

Sind Sie ein politischer Mensch?

Schon. Ich bin ja auch Präsident der Spielergewerkschaft in Australien und aktiv bei Fifpro, bei der es auch sehr viel um Politik geht. Ich mag es, über Politik zu reden.

Das erwartet man nicht unbedingt von einem Fußballer.

In der Kabine wird genauso über die großen Debatten des Landes gesprochen wie überall anders auf der Arbeit. Ich genieße es, dass wir beim FC St. Pauli auch darin bestärkt werden, uns politisch zu äußern.

Worüber wird denn gerade so in der Kabine gesprochen?

Natürlich reden auch wir darüber, dass in Deutschland und auch in ganz Europa, Rechtspopulisten immer stärker werden. Das ist keine gute Entwicklung. Und darüber muss man reden. Wir haben ja die Luxussituation, dass Parteien wie die AfD hier auf St. Pauli erfolgreich zurückgedrängt werden und keine Rolle spielen. In anderen Teilen Deutschlands ist das aber anders.

Viele Leute sagen gerne, dass Fußball nicht zu politisch sein sollte.

Fußball ist immer politisch, man sollte aber keinen Spieler dazu drängen, sich auch politisch zu äußern. Das muss jeder für sich selbst entscheiden.

Man kann sich keinen besseren St.-Pauli-Repräsentanten vorstellen als Sie. War das Teil Ihrer Überlegungen vor Ihrer Unterschrift oder lediglich eine glückliche Fügung?

Natürlich kannte ich auch vor meinem Wechsel hierher den Club und wusste, wofür er steht. Ich war ja 2013 als Celtic-Profi schon mal am Millerntor und habe es sehr genossen. Aber am Ende des Tages bin ich Fußballprofi, deswegen ist Fußball schon das Wichtigste für mich.

Irvine galt als perfekter Neuzugang von St. Paulis PR-Abteilung

In den Gesprächen mit Andreas Bornemann und den Verantwortlichen ging es deswegen auch nur um Fußball. Als wir uns geeinigt hatten, hat irgendeiner den Witz gemacht, dass ich der perfekte Neuzugang der PR-Abteilung sei. Aber das war natürlich wirklich nur ein Joke. Dass alles andere so gut passte, war eher eine Art Super-Bonus.

Nicht jedem gefällt das. Bekommen Sie auch Ablehnung für Ihre Art?

Klar, besonders im anonymen Internet. Dort werde ich beispielsweise dafür beschimpft, dass ich meine Fingernägel anmale. Aber das tangiert mich überhaupt nicht.

War das schon immer so?

Schon, mit zehn habe ich mir meine Haare lang wachsen lassen, weil ich ganz einfach Lust darauf hatte. Ich hatte das Glück, dass ich in einer guten, starken und sehr liberalen Community aufgewachsen bin. Ich musste nie gegen irgendwas oder irgendwen rebellieren. Für mich war es ganz normal, mit verschiedenen Nationalitäten oder queeren Menschen umgeben zu sein. Auch meine Eltern waren immer sehr entspannt.

Irvines Mutter wurde nur einmal böse

Sogar, als ich irgendwann damit anfing, mir die Fingernägel schwarz zu lackieren. Nur bei meinem ersten Tattoo ist meine Mutter ein wenig böse geworden. Aber ich hatte Glück: Meine älteste Schwester war die Erste, die sich tätowiert hatte. Damit war sie die Böse… (lacht)

Sie haben mehr als 60 Tattoos. Hat Ihre Mutter sich mit Ihrem Style arrangiert?

Ja, das kann man so sagen. Sie hat mittlerweile sogar ein eigenes Tattoo – eine Tulpe auf dem Unterarm, die an ihren holländischen Vater erinnern soll. Meine Schwester und ich haben sie also überzeugt…

Haben Sie sich auch schon hier in Hamburg tätowieren lassen?

Ja, habe ich. Immer wieder kamen internationale Tattookünstler nach Hamburg, bei denen ich dann einen Termin gemacht habe. Und auch das weltbekannte Studio Endless Pain ist ja hier auf dem Kiez. Da war ich aber noch nicht.

Planen Sie ein Aufstiegstattoo?

Wenn wir es wirklich schaffen sollten, dann werde ich auf jeden Fall ein Aufstiegstattoo machen. Ich weiß noch nicht was und an welcher Stelle. Aber wenn dieser Tag kommen sollte, dann kann ich das garantieren. Wobei ich auch unbedingt ein WM-Tattoo wollte – und noch immer nicht dazu gekommen bin.

Sind Sie im Team der Tattoomeister?

Wir haben tatsächlich letztens alle unsere Tätowierungen mal gezählt. Auch Eric Smith, Maurides, Marcel Hartel und Trainer Fabian Hürzeler haben sehr viele Tattoos. Ich habe wahrscheinlich die meisten individuellen, aber Marcel Hartels Körper ist am meisten abgedeckt. Wobei auch unser Trainer wirklich viele hat.

Fabian Hürzeler hat gerade seinen Vertrag verlängert. Könnten Sie sich durch Ihre besondere Beziehung zum Club vorstellen, Ihre Karriere beim FC St. Pauli zu beenden?

Ich kann nicht in die Zukunft schauen, aber natürlich ist St. Pauli ein besonderer Club für mich. Und dass Fabian lange bei uns bleibt, tut uns und dem ganzen Club auch sehr gut. Man hat das Gefühl, dass St. Pauli in den vergangenen Monaten auch über Hamburg hinaus eine ganz andere Bedeutung bekommen hat – auch dank Fabian.

Spricht man mittlerweile sogar in Down Under vom Kiezclub?

Das tut man tatsächlich. Mein Cousin hat eine Bar in Melbourne. Er ist eigentlich gar nicht so stark an Fußball interessiert. Aber letztens hat er mir erzählt, dass auch immer öfter Gäste mit einem St.-Pauli-Hoodie reinkommen.

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Das dürfte nach einem Aufstieg noch mehr werden.

Klar. Wir können Geschichte schreiben. Und wir wissen das. Wir müssen nicht andauernd darüber reden, wir müssen es einfach machen. Wir haben es selbst in der Hand.

Vielleicht schon an diesem Freitagabend. Ein ausverkauftes Volksparkstadion, ganz Fußball-Deutschland guckt nach Hamburg. Der rote Teppich ist ausgerollt…

Wenn ich es mir aussuchen dürfte, dann würde ich immer freitagabends spielen. Ich liebe das. Es wird langsam dunkel, das Flutlicht geht an. Und dann geht es an diesem Freitag auch noch in einem Derby für beide Clubs um so viel. Mehr geht nicht…

Wir fassen also mal zusammen: Freitag das Derby gewinnen, aufsteigen – und dann am Sonnabend trotzdem noch topfit die Klamotten Ihrer Freundin verkaufen.

(lacht) Nicht topfit, aber funktionsfähig. Den Rest würde ich so unterschreiben.