Hamburg. Der 19-Jährige selbst gibt keine Antwort, ein großer Redner ist er nicht. Dafür hat er Potenzial, ein umso größerer Spieler zu werden.

Das Beeindruckendste an Aljoscha Kemlein ist nicht, wie er den Schalter umlegen kann, sondern dass er es kann. Wer den Berliner trifft, glaubt schnell, dass der Inhalt hält, was die Verpackung verspricht.

Nämlich einen höflichen und zurückhaltenden, sich sonst aber kaum von seinen Altersgenossen unterscheidenden 19-Jährigen. Kemlein spricht nicht unbedingt gern öffentlich, und dann auch nicht allzu viel. Seine Kernbotschaft ist oft in einem Satz verpackt, reicht ja auch.

FC St. Pauli: Wie sieht die Zukunft von Union-Leihgabe Kemlein aus?

Davon die Brücke zu den fußballerischen Fähigkeiten des Leihspielers des FC St. Pauli zu schlagen ist allerdings ein gehöriger Trugschluss. Denn es gibt ja diesen versteckten Schalter, den er auch beim Gastspiel der Kiezkicker an diesem Sonnabend (20.30 Uhr/Sky und Sport1) beim Karlsruher SC wieder umlegen wird.

Dann wird Kemlein vom Teenager zum Mann, der sich sehr wohl von gemeinen Jugendlichen abhebt – genauso aber von gestandenen Profis. Mit seiner Pferdelunge, seiner sauberen Technik, seinem cleveren Passspiel und allen voran seiner gewaltigen Ruhe am Ball.

Kiezkicker-Talent wuchs beim SC Berliner Amateure auf

Woher er die nimmt und wo sich der Schalter befindet? „Das kann ich gar nicht genau sagen, es war schon immer so“, sagt Kemlein. Automatismen seien von Vorteil, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Vermutlich liegt es aber auch daran, dass er seit Kindertagen an beständig Fußball spielt.

Zunächst beim SC Berliner Amateure, schon bei den D-Junioren griff dann der 1. FC Union Berlin zu. Ein Juwel sei er, sagen sie in der Hauptstadt. Wenn denn bei den Eisernen endlich mal einer den Durchbruch aus der eigenen Jugend schafft, dann er.

Warum sich Kemlein bei Union Berlin nicht durchsetzen konnte

Doch selbst Kemlein, der im September 2022 mit einem Lizenzspielervertrag ausgestattet wurde, gelang dies beim Bundesligisten nicht. Aus Gründen.

„Wir hatten einen sehr großen Kader mit zum Teil internationalen Stars. Wenn es dann eine Zeit lang nicht gut läuft, kommt man als junger Spieler nur schwer zu Zug“, sagt er – und blieb trotz nur zwei Einsätzen in der Ersten Liga ruhig. Im Training arbeitete der Rechtsfuß (und was er für einen hat!) geduldig weiter, dazu „haben mir die Spiele mit der U20-Nationalmannschaft und in der Youth League geholfen“.

Kein Vorbeikommen an Kapitän Irvine: „Er ist unverzichtbar"

Auch in Karlsruhe muss Kemlein wieder seinem Naturell getreu ruhig bleiben. Trotz zuletzt abermals solider Leistung beim 2:1-Sieg gegen den SC Paderborn wird Cheftrainer Fabian Hürzeler seinen Youngster diesmal vermutlich nicht von Beginn an bringen, da die Außenspieler Oladapo Afolayan und Elias Saad wieder einsatzfähig sind.

Auf seiner Position im zentralen Mittelfeld ist kein Vorbeikommen an Jackson Irvine. „Jackson ist als Person und Spieler unverzichtbar“, lobt er den Kapitän.

Leihe zwischen St. Pauli und Union Berlin eine Win-win-win-Situation

Ein Schicksal, das Kemlein mit Würde trägt. Eigentlich nicht mal ein übles Schicksal. Denn die Leihe ans Millerntor ist bis dato ein gewaltiger Erfolg. Eine Win-win-win-Situation für Spieler und beide Vereine.

„Für alle Seiten läuft es bislang positiv. Wir haben Erfolg mit dem Team, und ich konnte mich gut integrieren“, sagt Kemlein. Eine Untertreibung. Schon im ersten Spiel nach der Leihe spielte der durchaus kräftig gebaute 1,85-Meter-Mann von Anfang an und überzeugte.

Kemlein durchstieg das System von Trainer Hürzeler in Windeseile

Bemerkenswert, wie schnell er Hürzelers komplexes System verinnerlichte, mit dem selbst Routiniers wie Simon Zoller Schwierigkeiten besaßen. „Es war schon etwas Neues und hat dennoch Freude gemacht, die Elemente und Prinzipien unseres Spiels zügig zu verinnerlichen“, sagt Kemlein.

Von Vorteil sei es gewesen, im Januar rechtzeitig zum Team ins Trainingslager im spanischen Benidorm zu stoßen. Schon dort befasste sich der achtmalige Junioren-Nationalspieler intensiv mit der Taktik und seinem Aufgabenprofil, vor allem Hauke Wahl und Marcel Hartel unterstützten ihn. Denn „zum Beispiel mit dem Gegner mitzugehen in bestimmten Situationen war neu für mich. Oder auch mal mit der Außenseite im Zentrum zu spielen, das habe ich davor seltener gemacht.“

Bundesliga: Geht die Leihe doch über die Saison hinaus?

Aber auch Auftritte im St.-Pauli-Trikot könnten Seltenheitswert besitzen. Denn die Leihe läuft zum Saisonende wieder aus. Ursprünglich war es durchaus ein Gedankenspiel der Clubs, das Geschäft um eine Saison zu verlängern. Nun spielt Kemlein aber so stabil und gut, dass er für Union schon zu wertvoll sein könnte, um ihn bei einem künftigen Bundesligakonkurrenten zu belassen.

Eine Entscheidung darüber steht erst nach Saisonende an. „Das liegt nicht in meiner Hand, daher kann ich aktuell nichts dazu sagen“, meint Kemlein, der in Winterhude wohnt und sich in Hamburg auch wohlfühlt, weil einige seiner früheren Berliner Freunde in St. Paulis zweiter Mannschaft spielen.

Kemlein spricht über sein Champions-League-Debüt gegen Real Madrid

Richtig wohlgefühlt hat er sich aber auf dem Rasen des Estadio Santiago Bernabéu, des sagenumwobenen Stadions von Real Madrid, in dem er am 20. September vergangenen Jahres sein Debüt in der Champions League feierte. Etwas, das er all seinen Mitspielern beim Kiezclub voraushat. „Das war ein unglaubliches Erlebnis für mich, auch im Rückblick jetzt nicht zu toppen“, sagt Kemlein und wird dabei ausnahmsweise etwas lauter.

Dahin würde er gern zurückkehren. Aber zunächst steht am Sonnabendmorgen die Reise mit dem Flieger nach Karlsruhe an. Die letzte große Hürde auf dem Weg zum Aufstieg beiseiteräumen.

Kemlein, ein sicherer Einwechselkandidat, wird alles dafür tun. Anschließend wird er den Schalter wieder in den Jugendlichen-Modus umlegen, in der Mixed Zone höflich verneinend an den Reportern vorbeischlurfen und nichts sagen.

Karlsruher SC: Drewes – Jung, Franke, Beifus, Herold – Gondorf – Jensen, Wanitzek – Nebel – Matanovic, Zivzivadze.
FC St. Pauli: Vasilj – Dzwigala, Wahl, Mets – Saliakas, Irvine, Hartel, Ritzka – Afolayan, Eggestein, Saad.