Hamburg. In dieser Saison läuft mal wieder nichts so, wie es die Journalisten vorhergesagt haben – über die Kunst des Danebenliegens.
All diese uralten Menschheitsträume sind ja wirklich ausgesprochen sinnvoll: Fliegen ist nun mal deutlich cooler als Zufußgehen, Unsterblichkeit gilt auch bei Übergewicht und schlechten Leberwerten, und wer die Zukunft vorhersagen kann, hat nie mehr miese Dates. Und so gab und gibt es in allen Kulturen Menschen, die sich auf Vorhersagen spezialisiert haben. Im alten Rom waren es Auguren, in Griechenland gab es Orakel, bei den Osmanen die Kaffeesatzleser und in Hamburg die Spökenkieker.
Wenn wir heute darüber schmunzeln, so tun wir das natürlich zu Recht. Zwar gibt es noch vereinzelt solche Scharlatane, aber die arbeiten in der Regel bei der Bahn und erstellen Fahrpläne. Davon abgesehen sind heute in allen Bereichen profunde Experten am Werk, die auf wissenschaftlicher Basis arbeiten. Und so liegen im 21. Jahrhundert Steuerschätzer, Meteorologen und Marktanalysten glücklicherweise immer richtig. Die Folgen wären ja auch fatal gewesen, wenn zum Beispiel die Immobilienexperten nicht ebenso rechtzeitig wie unisono den aktuellen Preisverfall vorhergesagt hätten.
Aufsteiger: Schalke, Hertha, HSV...
Gleiches gilt für den Fußball. Die Zeiten, in denen schwer verkaterte Sportreporter realitätsferne Geschichten über die Spieler schrieben, denen sie den Kater zu verdanken hatten, sind wahrlich lange vorbei. Heute haben wir es mit top-ausgebildeten Redakteurinnen und Redakteuren zu tun, die dank eingehender Datenanalysen und unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren in der Lage sind, treffsichere Prognosen zu erstellen.
So auch vor dieser Saison. Deswegen liefern sich ja auch Schalke 04, Hertha BSC und der HSV in Liga zwei diesen so packenden Kampf um die Tabellenführung; deswegen zieht das Kopf-an-Kopf-Rennen von Bayern München und Borussia Dortmund um die deutsche Meisterschaft die Massen in ihren Bann, und deswegen sind der 1. FC Heidenheim und die SV Elversberg vor diesem 28. Spieltag so gut wie abgestiegen. Natürlich gibt es auch in unserer Branche ein paar Wirrköpfe, die Clubs wie Bayer Leverkusen und Holstein Kiel zu Titelaspiranten stilisierten, aber die wurden und werden von niemanden ernst genommen.
Nun gut, kommen wir zum ironiefreieren Teil dieser Kolumne. Und zitieren den sehr geschätzten Kollegen Axel Tiedemann, der immer sagt: Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen.
Unvorhersehbarer Faktor: Yogalehrer
Und so bleibt der Beziehungsstatus zwischen Journalist und Vorhersage: kompliziert. Fußball ist eben eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten. Da kann man noch so viel und fleißig analysieren – wenn der Goalgetter auf der Kellertreppe ausrutscht und sich den Knöchel bricht, der Torwart sich beim Tätowierer eine Infektion einhandelt oder die Frau des Abwehrchefs eine Affäre mit dem Yogalehrer beginnt, dann ist eben nicht nur die Ehe kaputt, sondern auch die Saisonprognose.
Aber im Spätherbst einer Saison, also im April, interessiert es in der Regel und zum Glück ohnehin kaum jemanden, was man acht Monate vorher geschrieben oder gesagt hat. Und so kann sich unser Berufsstand den grundlegenden Analysen widmen, in denen wir erklären, warum es genau so kommen musste.
Kassandra wurde nicht beschenkt, sondern verflucht
Gewagte Vorhersagen gegen den Mainstream will ohnehin niemand hören. Als die Götter Kassandra die Fähigkeit gaben, in die Zukunft zu schauen, war es eben kein Geschenk, sondern ein Fluch. Ihre Warnung vor dem Trojanischen Pferd wurde genauso wenig ernst genommen wie heute meine These, dass Preußen Münster in fünf Jahren international spielt.
Deswegen: Vorhersagen sind fast immer Fortschreibungen bestehender Trends. Das erscheint jedem schlüssig und nachvollziehbar, und man läuft nicht Gefahr, sich lächerlich zu machen. Wer vergangene Saison in der Zweiten Liga Fünfter war, der „ist ein echter Aufstiegsaspirant“, der 15. „steht vor einer erneut schwierigen Saison“. Und falls es anders kommt – siehe oben...
Wenn und falls, dann könnte und dürfte...
Es gibt allerdings auch Sportjournalisten, deren Vorhersagen nie falsch sind. Die arbeiten bei einem traditionsreichen deutschen Fußball-Fachmagazin und formulieren in der Saisonprognose gerne solche Sätze: „Sollte der Saisonstart gelingen und das Team von Verletzungen verschont bleiben, dann könnte die Mannschaft in dieser Saison womöglich eine gute Rolle spielen.“ Treffer!