Hamburg. Der Kiezclub hat als erster Proficlub weltweit eine Gemeinwohlbilanz veröffentlicht und dabei überdurchschnittlich gut abgeschnitten.

Der FC St. Pauli sieht sich gern als etwas anderer Verein an. Deutschlands bester Club – vom Fußball mal (noch) abgesehen, ließe sich überspitzt formulieren. Die Kehrseite: Nützt ein eindeutig profitorientierter Ansatz eines Zweitligisten dem Wohlergehen der Gesellschaft tatsächlich in größerem Maß, als er schadet?

Offenbar schon. Denn diese Frage wollte auch der Kiezclub erörtern und veröffentlichte dazu am Mittwoch als erster Profifußballclub weltweit eine Gemeinwohlbilanz und schnitt dabei mit 527 Punkten von 1000 möglichen Punkten überdurchschnittlich gut ab.

FC St. Pauli schneidet bei Gemeinwohlbilanz gut ab

Der Wert mag überschaubar anmuten, die Trauben hängen bei der bewertenden Gemeinwohl-Ökonomie, einer 2010 von Österreich, Bayern und Südtirol (Italien) aus gestarteten Reformbewegung, die das Wirtschaften grundlegend auf das demokratisch definierte Gemeinwohl ausrichten möchte, allerdings sehr hoch. Mit der erreichten Punktzahl befindet sich St. Pauli im Dunstkreis der Umweltorganisation Greenpeace, des Getränkeproduzenten Voelkel sowie des Textilunternehmens Vaude.

Aber was versteht sich unter einer Gemeinwohlbilanz überhaupt? Dies ist eine freiwillige Prüfung der gesellschaftlichen Unternehmensverantwortung, die zeigt, welchen Beitrag Firmen und Organisationen für das Gemeinwohl leisten.

70 Prozenz des Gesamtumsatzes nützen Grundbedürfnissen

Bewertet wurde von zwei unabhängigen Auditoren bei der Überprüfung unter anderem, welche Arten von Nutzen das Agieren des FC St. Pauli bringt. Der Berichtszeitraum umfasst die vergangenen beiden Spielzeiten 2021/22 und 2022/23. Vereinsseitig haben 30 Mitarbeiter aller Fachbereiche mitgewirkt.

Die wohl wichtigste Nachricht: 70 Prozent des Gesamtumsatzes der Hamburger nützen den Grundbedürfnissen von Menschen. Diese werden in neun Kategorien gegliedert. Bitte anschnallen: Lebenserhaltung/Gesundheit/Wohlbefinden; Schutz/Sicherheit; Zuneigung/Liebe; Verstehen/Einfühlung; Teilnehmen/Geborgenheit; Muße/Erholung; Kreatives Schaffen; Identität/Sinn; sowie Freiheit/Autonomie.

Schwache Bewertung bei der Mitarbeiterbezahlung

Überdurchschnittlich gut schnitt St. Pauli in der Berührungsgruppe „Eigentümer und Finanzpartner“ beim Wert „Transparenz und Mitentscheidung“ ab. 90 Prozent der verfügbaren Punkte gab es hierfür.

Im gleichen Themenblock sahen die Auditoren jedoch auch das größte Potenzial. Bei der „Ethischen Haltung im Umgang mit Geldmitteln“ erreichten die Hamburger nur 30 Prozent, ebenso wie in der Berührungsgruppe „Mitarbeitende“, in der bei der „Ausgestaltung der Arbeitsverträge“ 30 Prozent der Punkte vergeben wurden.

Vizepräsidentin Rager: "Wollten uns kritisch evaluieren"

80 Prozent schaffte der Verein in der Berührungsgruppe „Kunden und Mitunternehmen“ beim Thema „Ethische Kundenbeziehungen“. In allen weiteren Kategorien liegt St. Pauli konstant zwischen 40 und 70 Prozent.

„Der systemische Ansatz der Gemeinwohl-Bilanzierung schafft eine 360-Grad-Perspektive auf das eigene Handeln. Wir haben uns bewusst für diese werteorientierte Prüfung entschieden, da wir ein Instrument gesucht haben, das es uns ermöglicht, unsere Ziele und Maßnahmen kritisch zu evaluieren“, sagt St. Paulis Vizepräsidentin Esin Rager, in deren Zuständigkeitsbereich auch das Thema Nachhaltigkeit fällt. Die erreichte Punktzahl, so die 55-Jährige, sei erfreulich. Maßgeblicher seien aber die Erkenntnisgewinne aus dem Prozess.

Ausstieg von bwin, Einstieg der Spielbank

Der FC St. Pauli habe laut einer Mitteilung des Vereins die Auditoren durch seine generelle Strategie überzeugt, die sich konkret in unterschiedlichen Projekten zeigt, die bei deutschen Profivereinen sonst eher selten zu finden seien. Hierzu zählt beispielsweise der Verzicht auf die Sponsorenkategorie Sportwetten.

Der Vertrag mit dem Wettanbieter bwin wurde auf Bestreben beider Seiten im vergangenen Sommer vorzeitig beendet. Unglücklich wirkte in Folge der Einstieg der Spielbank Hamburg als Partner.

Stadionerlebnis soll suchtmittelfrei werden

Langfristig möchte sich St. Pauli aber von Sponsoren trennen, die Suchtpotenziale bieten. Daher endete unter anderem auch die traditionsreiche Zusammenarbeit mit dem Whiskeyproduzenten Jack Daniel’s.

Stadionemotionen suchtmittelfrei zu ermöglichen, ist eines der zentralen Ziele von Franziska Altenrath, die bei St. Pauli den Bereich Strategie, Veränderung und Nachhaltigkeit leitet. „Wir sagen nicht nur, was wir tun, sondern wir lassen es auch prüfen“, sagt Altenrath.

Vegane Würste bringen Pluspunkte

Es sei bedeutsam, sich von außen unabhängig beurteilen zu lassen, „um zu sehen, wo wir stehen. Dadurch können wir Chancen und Risiken unserer Strategien besser erkennen. Die Bilanz schärft unser Profil und zeigt, wo wir uns noch verbessern sollten“, sagt die 33-Jährige.

Positiv beurteilt wurde außerdem die Erstellung von Leitlinien zur Diversität im Verein und eine geschlechterparitätische Besetzung des Aufsichtsrates, dem als einzigem deutschen Profifußballverein mehr Frauen (vier) als Männer (drei) angehören. Pluspunkte gab es für ökologisch nachhaltige und fair produzierte Merchandising-Artikel sowie für die Umstellung auf biologisch produzierte und vegane Bratwürste im Millerntor-Stadion.

Rager: "Ein anderer Fußball ist möglich"

Wenngleich im Kerngeschäft Fußball weiterhin, wenngleich ein ambitionierter, Zweitligist, ist der FC St. Pauli in den Bereichen Nachhaltigkeit und Gemeinwohl auf europäischem Spitzenkurs – dies nun auch offiziell zertifiziert. „Eine Bestätigung für das Handeln – und weitere Verbesserungen sollen folgen“, schreibt der Verein.

Beim Prozess der Gemeinwohlbilanzierung sei vor allem eine Erkenntnis gereift, sagt Vizepräsidentin Rager. Nämlich dass „ein anderer Fußball möglich ist. Besonders dann, wenn wir uns nie auf unseren Lorbeeren ausruhen.“