Rostock. Der FC St. Pauli gewinnt mit 3:2 bei Hansa Rostock, doch die Blicke richten sich schon dem HSV entgegen.
Ein wenig unfair ist das schon. Da gewinnt der FC St. Pauli erstmals seit zwölf Jahren mal wieder im Ostseestadion beim Erzrivalen FC Hansa Rostock – zugegeben, zwischen 2011 und 2022 gab es keine Duelle zwischen beiden Clubs –, aber geredet wird nicht über den 3:2 (3:1)-Sieg vom Sonnabend, sondern über...
… die unsäglichen und erneuten Provokationen der Hansa-Fans, die relativ offensichtlich die Opfer der rassistischen Anschläge von Rostock-Lichtenhagen 1992 verhöhnen sollen oder...
St. Pauli: Über alles wird geredet, nur nicht über den Sieg in Rostock
… den kurzen Kontrollverlust in der Schlussphase, als eine bis dahin souverän geführte Begegnung noch hätte kippen und mit einem unverdienten Unentschieden enden können...
… und vor allem aber: über das Derby gegen den HSV am Freitag (18.30 Uhr/Sky) im Millerntor-Stadion.
Hürzeler zufrieden mit "sehr gutem Spiel"
Kaum war die erwartungsgemäß emotionsgeladene Begegnung absolviert, wurde St. Paulis Cheftrainer Fabian Hürzeler mit der Zukunft konfrontiert, obwohl er doch eigentlich erst die Vergangenheit aufarbeiten wollte. Ob denn der Sieg im Nordostderby aussage, dass seine Mannschaft damit auch fit fürs Stadtderby wäre? Hürzeler schmunzelt in solchen Momenten zumeist, antwortet charmant, ohne aber die inhaltliche Klarheit vermissen zu lassen.
„Wir sind und machen uns immer fit fürs nächste Spiel. Nicht nur, wenn der HSV kommt. Wenngleich das natürlich besonders wird, weil eine Topmannschaft am Millerntor gastiert“, sagte der 30-Jährige. Dass er selbst über eine verfügt, war in Rostock über weite Phasen der Partie ersichtlich – abzüglich der Anfangsphase, in der Hansa nach vierminütiger Pyropause durch einen Handelfmeter von Júnior Brumado in Führung ging (9.), sowie den finalen zehn plus sieben Minuten Nachspielzeit. „Über 75 Minuten war das ein sehr gutes Spiel von uns“, sagte Hürzeler.
Aufarbeitung lässt Potenzial für Verbesserung zu
Da aber die Nachbetrachtung eines Derbys in der Vorbetrachtung eines Derbys offenkundig unfair ist, durfte der Coach das Vergnügen genießen, den Kontrollverlust nach dem 2:3, ebenfalls durch einen Strafstoß von Brumado (80.), ausführlich zu begründen. Hiernach hatte St. Pauli zu spielen begonnen, wie sonst nur die Braunschweigs und in Teilen auch Rostocks dieser Liga spielen: Getreu dem Motto „lang und weit bringt Sicherheit“.
Dumm nur: Sicher war da schon lange gar nichts mehr. Offensiver ausgerichtete Akteure trugen zu wenig zur Absicherung bei, Lücken im Defensivverbund ermöglichten Brumado (86.) und Kevin Schumacher (90.) Großchancen zum Ausgleich. Ein Vergnügen war das Ganze für Hürzeler natürlich erst im Nachgang – weil sich damit fürs Derby tatsächlich richtig viel anfangen lässt.
St. Pauli tritt am Ende zu leichtsinnig auf
„Es ist gut, dass wir Dinge aufarbeiten können, das wäre nach einem 6:1 nicht so einfach möglich gewesen“, sagte Hürzeler. Am Ende sei seine Elf auch etwas zu leichtsinnig, zu aufreizend gewesen.
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„Weil man denkt, es geht alles von selbst. Aber das ist tückisch. Wir müssen dann konsequenter alles wegverteidigen“, sagte der Bayer. Abgesehen davon stimmte die Mentalität seiner Mannen jedoch, die den frühen Rückstand locker wegsteckten und sich auch von der Kulisse nicht einschüchtern ließen.
Cheftrainer kann mit Begriff "Mentalität" wenig anfangen
Noch etwas, das sich mit ins Derby übernehmen lässt. „Sich in so einem Hexenkessel durchzusetzen, wenn alles gegen dich läuft, du auch noch zwei Elfmeter kassierst, daraus können wir noch mal etwas mehr Kraft ziehen“, sagte Innenverteidiger Hauke Wahl. Auch am Freitag wird die Atmosphäre geladen sein, St. Pauli weiß dann jedoch die eigenen Fans im Rücken.
Vor allem aber ist es weder die Mentalität noch die Unterstützung von den Rängen, die den Kiezkickern Mut machen sollte, sondern die eigene fußballerische Stärke. „Mit dem Begriff Mentalität kann ich wenig anfangen. Ich betone immer, dass wir unsere Art zu spielen nicht anpassen wollen“, sagte Hürzeler. Und das mit gutem Recht.
Eggestein erklärt Offensivsystem
„Wir haben es sehr gut gemacht, es ist uns immer wieder gelungen, die ersten Linien zu überspielen, was uns viel Sicherheit gegeben hat“, sagte Mittelstürmer Johannes Eggestein. Ein Rezept, das auch gegen den HSV aufgehen kann und das Eggestein noch dezidierter beschrieb: „Wir wollten unsere Achter breit halten, damit ich als Neuner frei bin und mehr Bälle im Zwischenraum festmachen und weiterleiten kann. Dadurch sind wir immer wieder direkt in neue Aktionen gekommen.“
Damit schnürten die Gäste Hansa ein. Das Ausmaß der kompletten Kontrolle ging so weit, dass bis in die Schlussphase hinein atmosphärische Ebbe im Ostseestadion herrschte.
St. Pauli wuchert mit seinen Chancen
Wohlgemerkt bei einer Partie zweier erbitterter Konkurrenten. Die Rostocker agierten zu passiv, pressten kaum noch hoch an. Dies wiederum dürfte St. Pauli gegen den HSV nicht erwarten.
Dann sollten die Braun-Weißen allerdings auch effizienter mit ihren Chancen umgehen. „Dass wir das vierte Tor nicht gemacht haben, müssen wir uns ankreiden“, sagte Wahl.
Meckern auf hohem Niveau
Aus dem Trio der Möglichkeiten durch Eggestein (43., 75.) und Elias Saad (48.) hätte mindestens ein weiterer Treffer herausspringen müssen. Auch bei einigen Überzahlsituationen waren die Hamburger zu unpräzise.
Aber das ist Meckern auf Erstliganiveau. Schon wieder unfair.