Hamburg. Die Fanhilfen fordern eine unabhängige Beschwerdestelle für die Polizei. „Sprechstunde“ offenbart Ausmaß der Übergriffe.
Der Bundespolizist, der auf einem schwarz gekleideten Mann kniet und ihm mit der Faust auf die Nieren schlägt und anschließend mit dem Ellenbogen zum Kopf, dieses Video von den gewalttätigen Auseinandersetzungen vor dem Hamburger Stadtderby am 14. Oktober hat für Aufsehen gesorgt und eine neue Diskussion über das Vorgehen der Polizei gegenüber Fußballfans befördert.
„Das polizeiliche Handeln war unverhältnismäßig und brutal!“, heißt es in einer am Montag veröffentlichten Stellungnahme der „Braun-Weißen Hilfe“, dem (in eigenen Worten) „Solidaritäts-Projekt von Fans für Fans“ des FC St. Pauli. „Einen Rechtsstaat zeichnet der Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger vor staatlicher Willkür aus“, stellt die Organisation fest und fordert: „Hamburg braucht endlich eine unabhängige Beschwerdestelle für die Polizei, ausgestattet mit entsprechenden Ermittlungskompetenzen.“
FC St. Pauli: „Zahlreiche Fans berichteten von körperlichen Angriffen"
Die Polizei hat zwar Ermittlungen gegen den auf dem Video zu sehenden Beamten eingeleitet, weitere Konsequenzen aber sind noch nicht bekannt. Dabei gibt es noch reichlich Aufklärungsbedarf. Jedenfalls für die Fans. Denn es ist offenbar nicht bei dem einen Fall geblieben, der durch das Video bekannt geworden ist.
Am vergangenen Donnerstag veranstalteten Fanladen und Braun-Weiße Hilfe eine „Sprechstunde“, in der Betroffene und Zeugen der Vorfälle rund um das Derby ihre Erfahrungen mitteilen und protokollieren lassen konnten. Weitere Berichte und Aussagen waren bereits vorher eingegangen. „Zahlreiche Fans berichteten von körperlichen Angriffen, verbalen Einschüchterungsversuchen und diversen körperlichen Verletzungen, welche sie durch Polizistinnen und Polizisten erlitten hätten“, teilte die Organisation mit.
„St. Pauli hält zusammen“
Die Braun-Weiße Hilfe überlegt deshalb, wie sie darauf reagiere sollte. „Uns liegen schon detaillierte Erkenntnisse vor, wir möchten jedoch erst einmal die konkreten Vorwürfe der Hamburger Polizei gegenüber den Betroffenen abwarten“, erklärte die Organisation gegenüber dem Abendblatt.Bei der Braun-Weißen Hilfe handelt es sich um eine Gruppe von etwa 20 ehrenamtlichen Mitarbeitern aus de r Fanszene, die zum Teil juristische Ausbildungen haben. Sie legen jedoch keinen Wert darauf, als Personen in der Öffentlichkeit aufzutreten. Daneben gibt es zahlreiche Menschen, die mit Spenden die Arbeit unterstützen.
Der Fanladen und die 2004 gegründete Braun-Weiße Hilfe arbeiten unabhängig vom Verein FC St. Pauli. Der Verein Jugend und Sport trägt in Hamburg die Fanprojekte von St. Pauli und dem HSV. Im Heimspiel gegen Darmstadt 98 (Sa, 20.30 Uhr/Sky und Sport1) wird es auf der Südtribüne eine Spendensammlung geben. Motto: „St. Pauli hält zusammen“.
Fanhilfen distanzieren sich von strafbaren Aktionen
Das Geld wird für die selbst gewählte Aufgabe gebraucht, um „die Fanszene möglichst umfassend rund um die Themen Stadionverbote, Ordnungs- und Polizeigesetz und staatliche Repression gegen Fußballfans aufzuklären, Hilfen anzubieten und Problemen vorzubeugen“. Die Braun-Weiße Hilfe ist Mitglied in dem vor etwa drei Jahren gegründeten deutschlandweiten Dachverband der Fanhilfen e.V., dem derzeit 21 Organisationen aus Bundesliga- bis Regionalligavereinen angehören, der HSV jedoch nicht. Ihr Sprecher ist Oliver Wiebe vom 1. FC Magdeburg.
„Wir müssen unsere Arbeit bündeln und koordiniert kritisieren beziehungsweise auf Missstände aufmerksam machen“, sagt Wiebe. Dabei ist ihm wichtig, dass die Fanhilfen „keine Menschen unterstützen, die im Stadion oder davor straffällig geworden sind“. Wer Körperverletzungen begeht, Volksverhetzung betreibt, verfassungsfeindliche Symbole zeigt oder sich andere Straftaten zuschulden kommen lässt, gehört im Rahmen der Gesetze verurteilt. Punkt. „Es geht uns darum, Menschen, gegen die unverhältnismäßig vorgegangen wird, zu vertreten“, sagt Wiebe, „es kann nicht sein, dass Fußballfans anders wahrgenommen und von der Polizei anders behandelt werden als andere.“
Berichte über Polizeieinsätze häufen sich
Als ein Beispiel dafür nennt er das Oktoberfest, wo es dieses Jahr an 16 Tagen 959 erfasste Straftaten gab, davon 244 Körperverletzungen. Für die gesamte Fußballsaison 2021/22 zählte die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze der Polizei bei 2976 Spielen von der Bundesliga bis zur Regionalliga 700 Körperverletzungen, davon jedoch 123 durch Polizisten.
Tatsächlich häufen sich die Berichte über Polizeieinsätze, seit die Stadien nach der Pandemie wieder voll besetzt werden können. Auch am Sonntag war es nach der 1:2-Niederlage von Schalke 04 bei Hertha BSC zu körperlichen Auseinandersetzungen im Gästeblock gekommen, etliche Personen wurden verletzt.
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Die Einkesselung von Werder-Bremen-Fans in Wolfsburg am 6. August war ein besonders krasses Beispiel für ein übertriebenes Vorgehen der Ordnungskräfte. Einigen Fans wurde stundenlang der Zugang zu Toiletten verweigert. „Das hat tief blicken lassen und deutlich gemacht, dass radikale Grundrechtseingriffe weiterhin an der Tagesordnung sind“, erklärte Linda Röttig (Dresden), die Vorsitzende des Dachverbands der Fanhilfen e.V.
FC St. Pauli: Ohnmacht sorgt für Frustration
Die gefühlte Ohnmacht gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht sorgt immer wieder für Frustration. „Wir gehen davon aus, dass es für Polizistinnen und Polizisten keinerlei Konsequenzen haben wird“, erklärt die Braun-Weiße Hilfe mit Blick auf das Stadtderby, „wenn Polizisten gegen Polizisten ermitteln, ist dies leider oft nicht von Erfolg gekrönt.“